Die Bedeutung der ICF für aktuelle sozialrechtliche Entwicklungen

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 Präsentation transkript:

Die Bedeutung der ICF für aktuelle sozialrechtliche Entwicklungen ICF-Anwenderkonferenz 2019 Hochschule Magdeburg-Stendal 7. März 2019 Prof. Dr. Katja Nebe Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Einleitung – Ziele, Bedeutung und Kritik Gliederung Einleitung – Ziele, Bedeutung und Kritik ICF und Menschenrechte – 100 Jahre Soziale Grundrechte in Deutschland Von Bismarck zur selbstbestimmten Teilhabe ICF im Reformprozess Das biopsychosoziale Modell im Recht Das biopsychosoziale Modell im Reha-Prozess Ziel: Effektive Rechtsgewährung und der Mensch im Mittelpunkt Resümee

Einleitung – Ziele, Bedeutung und Kritik Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO löst 2001 die ICIDH (Int. Klassifikation der Schädigung, Behinderung und Gesundheit) aus dem Jahr 1986 ab Leitbildwechsel von Behinderung als Krankheitsfolge zu Behinderung als Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt Ziel der ICF: Instrument zur Herstellung der Chancengleichheit von behinderten Menschen Wegweisend: Etablierung des biopsychosozialen Modells durch die ICF als Begriffsverständnis

Einleitung – Ziele, Bedeutung und Kritik ICF liegt der 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zugrunde Menschenrechtsübereinkommen transportiert das biopsychosoziale Wechselwirkungsmodell weltweit Kritik: Von Seiten der Disability Studies: ICF stelle das soziale Modell von Behinderung zu wenig dar; Gesundheitsproblem werde zu zentral/ursächlich behandelt sehr hohe Anforderungen in der praktischen Anwendung der ICF Implementationsbarrieren infolge der Komplexität (1424 Items in der ICF) ärztlicher Überrepräsentanz bei der Entwicklung sogenannter Core Sets Wiederum Risiko von Core Sets: hohe Präferenz für medizinische zu Lasten von Umweltfaktoren – Rückfall auf biomedizinisches Modell von Krankheit und Behinderung ICF-Praxisleitfaden „Zugang zur Rehabilitation“ (BAR) → in erster Linie adressiert an Ärzte, das halte ich für problematisch

2. ICF und Menschenrechte – 100 Jahre Soziale Grundrechte in Deutschland Menschen-Rechte gleichberechtigt auch für behinderte Menschen → kein Privileg, sondern echtes Recht viele Rechte in der UN-BRK sind soziale Grundrechte, z.B. Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung, Recht auf gesellschaftliche Teilhabe nur erinnert: schon mit Weimarer Reichsverfassung soziale Grundrechte, wie z.B. Recht auf Arbeit, verankert im Grundgesetz keine sozialen Grundrechte, sondern allein klassische Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte umso wichtiger ist die Rezeption unveräußerlicher Menschenrechte, wie sie inzwischen in zahlreichen Konventionen enthalten sind, in die nationale Rechtsordnung

3. Von Bismarck zur selbstbestimmten Teilhabe Lokalkolorit: Otto von Bismarck geb. vor etwas mehr als 200 Jahren in Schönhausen bei Stendal Ursprung der „Bismarckschen Sozialversicherung“: nicht Freiheit, sondern Bindung der Arbeiterschaft an die monarchische Obrigkeit bei gleichzeitiger Unterdrückung der sozialdemokratischen Bewegung 1919: Gründung der Hauptfürsorgestellen zur Versorgung von 0,5 Mio. „Kriegskrüppeln“ und unzähligen Kriegswitwen und –waisen → medizinische Versorgung, Wiedereingliederung in Arbeit und soziale Fürsorge 1920 erste betriebliche Interessenvertretungen schwerbeschädigter Beschäftigter über SchwerbehindertenG 1974 (unabhängig von Behinderungs-ursache!!) dann noch bis 2001: SGB IX → selbstbestimmte Teilhabe für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen

4. ICF im Reformprozess Herausragende Bedeutung der ICF schon bei Verabschiedung des SGB IX im Jahr 2001: selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Partizipationsprinzip der ICF) mit BTHG: Gesetzgeber hat ICF als Referenzrahmen klar unterstrichen (BT-Drs. 18/9522, S. 192 ff.) → Neudefinition des Behinderungsbegriffes in § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die […] Beeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft […] hindern können. → Leitbild sind ICF und UN-BRK

5. Das biopsychosoziale Modell im Recht

5. Das biopsychosoziale Modell im Recht Recht auf gleichberechtigte Teilhabe durch Inklusion, vgl. UN-BRK, SGB IX, BGG und Ländergleichstellungsgesetze Inklusion durch - Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen - universelles Design - Barrierefreiheit bzw. Abbau von Barrieren - positive Maßnahmen - Sensibilisierung der Umwelt → klarer Bezug zu Umwelt und Kontextfaktoren Bei genauem Hinsehen: diese Prinzipien schon im früheren Schwerbehindertenrecht angelegt – davon lernen!

5. Das biopsychosoziale Modell im Recht Beispiel: Inklusion durch angemessene Vorkehrungen -> enge systematische Verknüpfung zwischen verbotener Diskriminierung und Versagen angemessener Vorkehrungen, dazu Art. 2 UN-BRK bzw. Art. 5 RL 2000/78/EG: Diskriminierung wegen Behinderung […] umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Angemessene Vorkehrungen sind notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die gewährleisten, dass behinderte Menschen gleichberechtigt alle Menschenrechte […] ausüben können, soweit sie keine unverhältnismäßige Belastung darstellen. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.

5. Das biopsychosoziale Modell im Recht Dieser elementare systematische Zusammenhang zwischen Umweltgestaltungsverantwortung (z.B. Kitas, Schulen, Hochschulen, Betriebe, kulturelle Einrichtungen, private Anbieter, öffentlicher Sozialraum usw.) ist noch nicht hinreichend erkannt. BTHG-Ziel: personenzentrierte Leistungsgewährung zur selbstbestimmten und umfassenden Lebensgestaltung in einer inklusiven Gesellschaft → Sozialleistungen müssen Zugänglichkeit tatsächlich gewähren!! → Teilhabeleistungen sollen behinderte Menschen von Fürsorge unabhängig machen, wenn möglich, raus aus der Eingliederungshilfe!!

5. Das biopsychosoziale Modell im Recht starke Rezeption durch die Gerichte, z.B. Europäischer Gerichtshof Rs. Ring, Skouboe Werge, 11.4.2013, C-335/11 (chronische Erkrankung als Behinderung) Rs. Italien, 4.7.2013, C-312/11 (angemessene Vorkehrungen unabhängig von Schwere der Beeinträchtigung) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Rs. Enver Sahin ./. Türkei, 30.01.2018, Beschwerdenummer 23065/12 (Zugang zur Hochschule trotz Behinderung) Bundesarbeitsgericht 19.12.2013, 6 AZR 190/12 (symptomlose HIV-Infektion als Behinderung wegen sozialer Stigmatisierung) Bayerisches Landessozialgericht 25.04.2018, L 13 R 64/15 (Stufenweise Wiedereingliederung als angemessene Vorkehrung im Sinne von Art. 2 UN-BRK)

5. Das biopsychosoziale Modell im Recht Mein Zwischenfazit: beachtlicher Erfolg des bio-psycho-sozialen Wechselwirkungsmodells gegen Diskriminierung wegen Behinderung Wesentliche tatsächliche Herausforderung: Zugänglichkeit zu allen Gesellschaftsbereichen und zu voller Partizipation durch Gewährleistung von Sozialleistungen orientiert an der ICF Vorsicht: keine Engführung der ICF auf Körperfunktionen/-struktur und persönliche Faktoren, sondern mindestens gleichermaßen, wenn nicht noch mehr: Kontext!! Unsere Gesellschaft hat Inklusion bislang kaum geübt – alle müssen lernen (wollen). Wir können es uns nicht einfach machen!

6. Das biopsychosoziale Modell im Reha-Prozess § 13 SGB IX → möglichst einheitliche Instrumente der Reha-Träger → zur individuellen und funktionsbezogenen Bedarfsermittlung → sollen der Gemeinsamen Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der BAR entsprechen Wichtig: Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“ von 2019 → nimmt mehrfach auf ICF und vor allem auf das „bio-psycho-soziale-Modell“ Bezug §§ 19 (Teilhabeplan) und 20 (Teilhabeplankonferenz) und ebenso §§ 117-122 (für Gesamtplanverfahren) → schon im Verfahren: Partizipation und Orientierung der Leistungsermittlung an bio-psycho-sozialem Modell

7. Ziel: Effektive Rechtsgewährung und der Mensch im Mittelpunkt Ziel der Teilhabeleistungen gem. § 1 S. 1 SGB IX: Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. → volle und gleichberechtigte Partizipation trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung → Maßstab: personenzentrierte Leistungen, die an allen Kategorien des bio-psycho-sozialen Modells anknüpfen müssen

7. Ziel: Effektive Rechtsgewährung und der Mensch im Mittelpunkt Mein Resümee nach einiger Befassung mit dem neuen SGB IX: Ja, die vorgegebenen Leitprinzipien stimmen mit der ICF überein. Ja, es gibt materiell-rechtlich einige Verbesserungen, z.B. die Stärkung der Rechte der Schwerbehindertenvertretung die Verbesserung bei Einkommens- und Vermögensanrechnung im Bereich der Eingliederungshilfe die EUTB. Aber, im Detail finden sich zum Teil entscheidende Lücken hinsichtlich der materiellen Leistungsansprüche und vor allem eine bessere Kooperation der Träger ist nicht in Sicht und die Leistungsträger übersehen ihre Verantwortung für die Barrieren in den verschiedenen Lebenswelten.

7. Ziel: Effektive Rechtsgewährung und der Mensch im Mittelpunkt Beispiele: Kooperation zwischen EGH, BA und Schulen/Hochschulen (vgl. § 22 Abs. 1 SGB IX: Einbeziehung andere öff. Stellen) kontinuierliche Beratung und Unterstützung von Betrieben, gerade von KMU, z.B. durch IFD (vgl. § 193 SGB IX) Budget für Arbeit – ohne Arbeitslosenversicherung? Doch Arbeit zweiter Klasse? konsequente Stimulierung der verschiedenen Kontexte durch Sozialleistungsträger oder Dienste → Inklusionsvereinbarungen, Aktionspläne usw. (vgl. die gesetzlich geregelte Verantwortung der BA in § 187 SGB IX!! und der Integrationsämter, § 166 Abs. 1 S. 5 SGB IX)

8. Resümee ICF und bio-psycho-soziales-Wechselmodell unverzichtbar für menschengerechte und inklusive Gesellschaftsgestaltung valide Bedarfsfeststellungsinstrumente, orientiert an ICF, wichtig Zugleich: Vorsicht vor Überforderung aller Akteure partizipative Bedarfsfeststellung – mit den Menschen gestaltungsbereite Leistungsträger, statt bedenkentragende Bürokratie Menschen in ihrer Autonomie befähigen – frühe und verlässliche Kommunikationsprozesse ermöglichen Beispiel: Im Rahmen von Gesundheitsförderung im jeweiligen Setting über erfolgreich verlaufende Präventions- und Rehabilitationsprozesse berichten (Anschauungsbeispiele)

Vielen Dank