3. Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Soziale Arbeit Stigmatisierungserfahrungen von Menschen mit Diabetes in der Schweiz im ersten Jahr nach der Diagnose: Eine bislang wenig beachtete Herausforderung bei der Bewältigung eines kritischen Lebensereignisses Annabelle Bartelsen-Raemy und Daniel Gredig Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Olten Hintergrund und Fragestellung Eine schwerwiegende, insbesondere auch eine chronische Krankheit diagnostiziert zu erhalten, wird von den betroffenen Menschen oft als ein kritisches Lebensereignis erfahren, das in unterschiedlichen Hinsichten einen individuell bedeutsamen Übergang einleitet. Im Fall der Diagnose von Diabetes mellitus stellt sich den Betroffenen nicht nur die Herausforderung, die Krankheit zu akzeptieren und die eigene Identität neu auszubalancieren. Gleichzeitig sind sie herausgefordert, das Management der Krankheit zu lernen und zu routinieren, was in der Regel einen Übergang zu einer individuell neu zu gestaltenden Form der Lebensführung markiert. Dass Menschen mit Diabetes aber auch Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt sind und diese Erfahrungen eine weitere Herausforderung im Nachgang zur Diagnose bedeuten, wurde bislang kaum wahrgenommen (1, 2). Vor diesem Hintergrund geht dieser Beitrag der Frage nach, in welchen Kontexten Menschen mit Diabetes Stigmatisierung und Diskriminierung erleben, in welchen Kontexten sie bereits im ersten Jahr nach der Diagnose solche Erfahrungen machen. Methode Die Untersuchung, auf die hier zurückgegriffen wird, hatte ein Mixed-Methods-Design (sequential explorative design [3]), in dem die Erkenntnisse aus der qualitativen ersten Untersuchung als Grundlage für die nachfolgende quantitative, hypothesenprüfende Untersuchung dienten. Die qualitative Untersuchung erhob mittels problemzentrierten Interviews in deutscher und französischer Sprache verbale Daten an einem maximal variablen Sample von 30 Menschen mit Diabetes. Die Daten wurden mittels theoretischen Kodierens ausgewertet und erlaubten, die Kontexte zu identifizieren, in denen Diabetiker/innen schon einmal eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und Ausschluss (Diskriminierung) erfahren hatten. Zudem wurden die Stereotypen gegenüber Menschen mit Diabetes erfasst, die sie wahrgenommen hatten (wahrgenommene Stigmatisierung). Im Rahmen der quantitativen Untersuchung, wurden die Daten mit einem schriftlichen Fragebogen erhoben. Da die Anzahl Menschen mit Diabetes in der Schweiz nicht bekannt ist und Betroffene nicht direkt angeschrieben werden können, wurde auf eine Zufallsstichprobe verzichtet. So wurde der Fragebogen allen Privathaushalten zugestellt, die das an Menschen mit Diabetes gerichtete d-journal bzw. d-journal romand abonniert hatten. Die ausgefüllten Fragebogen wurden eingescannt und mit der TeleForm OCR Software erfasst. Die Datenauswertung erfolgte mittels Verfahren der beschreibenden Statistik. Ergebnisse Beschreibung der Stichprobe Die Gesamtstichprobe umfasste 3347 Menschen mit Diabetes (Typ 1 und 2), zwischen 16 und 96 Jahren, und in unterschiedlichen Lebenssituationen. Davon waren 56 ein Jahr vor der Befragung diagnostiziert worden. Diese waren zwischen 17 und 80 Jahre alt. Erfahrene Diskriminierung 49% der Befragten, die maximal ein Jahr mit Diabetes gelebt hatten, gaben an, noch keine Erfahrung von Diskriminierung gemacht zu haben; 51% hingegen berichteten von Diskriminierungen (median=1) in folgenden Situationen und Kontexten: Erfahrene Diskriminierung wegen Diabetes (N=56)1 N+ n° %* Kontext Freizeitgestaltung und sozialer Kontakt Ungerechtfertigte Andersbehandlung im Bekanntenkreis 51 5 10 Sich beim Essen mit Freunden ständig rechtfertigen müssen 53 18 34 Verhinderung der Ausübung einer gewünschten Sportart 41 12 Kontext Erwerbstätigkeit Unfreiwillige Aufgabe eines Berufsziels 24 2 8 Verweigerung der avisierten Berufsausbildung 20 1 Entzug interessanter beruflicher Tätigkeiten 35 3 Angst und Zurückhaltung seitens Arbeitskolleginnen und -kollegen 37 4 11 Einmischung in Essgewohnheiten seitens Arbeitskolleginnen und -kollegen 38 9 Aufforderung zur Kündigung 33 6 Entlassung Entlassung und Antrag auf IV-Rente nahegelegt Aufforderung zur Frühpensionierung 31 7 Kontext Mobilität Sonderbehandlung und -prüfung beim Sicherheitscheck am Flughafen 28 Kontext Steuern Ablehnung von Abzügen von Krankheitskosten seitens des Steueramtes Kontext Versicherungen Verweigerung Lebensversicherung 13 Verweigerung Zusatzversicherung zur obligatorischen Krankenversicherung 14 Merkmal N % Total 56 100 Diabetes Typ Typ 1 22 41 Typ 2 32 59 Gender Frauen 29 52 Männer 27 48 Landesteil Deutschschweiz 43 77 Romandie 13 23 Zivilstand Single 9 17 Verheiratet, in reg. Partnerschaft 33 62 Geschieden, getrennt, verwitwet 11 21 Nationalität Schweizer 87 Andere 7 Wahrgenommene Stigmatisierung 80% der Befragten, die maximal ein Jahr mit Diabetes gelebt hatten, haben schon Stereotype gegenüber Menschen mit Diabetes wahrgenommen (median=6.5). Wahrgenommene Stigmatisierung (N=56)1 N+ n° %* Ich hatte schon einmal das Gefühl, dass … … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien "arme Kranke" 54 22 41 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien bemitleidenswert 53 21 40 … Leute denken, Diabetes sei etwas Schreckliches 27 51 … Freunde oder Bekannte denken, Menschen mit Diabetes brauchten eine Spezialbehandlung 19 35 … Leute denken, Menschen mit Diabetes würden ihre Krankheit als Vorwand einsetzen, um davon zu profitieren 6 11 … Leute Menschen mit Diabetes für Simulanten halten … Leute denken, Menschen mit Diabetes würden oft krankheitsbedingt ausfallen 52 16 31 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien in ihrer Leistung beeinträchtigt 23 43 … Leute denken, Menschen mit Diabetes nicht belastbar seien 17 32 … Leute denken, Menschen mit Diabetes schädigten das Image der Organisation/Firma, in der sie arbeiten 1 2 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien invalid 7 13 … Leute denken, Menschen mit Diabetes hätten ein Defizit 14 26 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien behindert 9 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien ein Risikofaktor 18 34 … Leute denken, Menschen mit Diabetes würden den Steuerzahler mit ihren Gesundheitskosten belasten … Leute Menschen mit Diabetes für Exoten halten 8 15 … Freunde oder Bekannte denken, Menschen mit Diabetes gehörten nicht zu ihnen … Leute Diabetiker/innen fälschlicherweise als Junkie betrachtet haben … Leute Diabetiker/innen, die in der Öffentlichkeit Insulin spritzen, komisch anschauen 25 48 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien weniger wert 5 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien faul 4 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien alt und übergewichtig … Leute denken, Menschen mit Diabetes wären gefrässig 36 … Leute denken, Menschen mit Diabetes seien willensschwach 12 … Leute denken, Diabetes sei selbst verschuldet 47 … Menschen mit Diabetes nur noch als Diabeteskranke wahrgenommen werden 1 Mehrfachantwort; +N Antwortende, die in eine entsprechende Situation kamen, seit sie Diabetes haben; °Befragte, die eine solche Erfahrung machten; *Relative Betroffenheit: Anteil jener in der Situation, die diese Erfahrung machten Diskussion und Schlussfolgerungen Menschen mit Diabetes machen in einer Reihe von Situationen in unterschiedlichen Kontexten die Erfahrung, ungerechtfertigt, ungleichbehandelt oder ausgeschlossen zu werden. Wie die Analyse der Erfahrungen der Menschen, die maximal ein Jahr mit Diabetes gelebt hatten, zu verdeutlichen vermag, hatten diese in ihrem ersten Jahr mit Diabetes bereits in einer breiten Palette von Situationen wegen ihrer Krankheit eine Diskriminierung erlebt. Mag die Anzahl von Situationen und Kontexten, die genannt wurden, auch weniger umfangreich sein als jene, die Menschen nennen, die schon längere Zeit mit Diabetes leben (4). So ist dennoch beachtlich, dass sich die dargestellten Situationen nur schon in einem Zeitraum von maximal 12 Monaten einstellen. Zudem nehmen die befragten Betroffenen eine Reihe von negativen, herabwürdigenden oder auch paternalistischen Zuschreibungen gegenüber Menschen mit Diabetes wahr. Menschen, denen Diabetes diagnostiziert wird, werden bekanntlich grosse Anpassungsleistungen abverlangt. Die Bewältigung der Diagnose, die Akzeptanz der Behandlung (Diät, Medikamente, Insulintherapie oder eine Kombinationen davon) wie auch der Aufbau des eigenen Krankheits-managements allein können schon zu einem hohen Niveau von diabetesbezogenem Stress führen (5). Die genannten Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen bedeuten in diesem Zusammen-hang eine zusätzliche Belastung, die von den Betroffenen kurz nach der Diagnose bewältigt werden muss. In der Beratung von Menschen mit Diabetes sind solche Erfahrungen zu thematisieren und der Umgang damit zu bearbeiten. Zudem ist diesen Benachteiligungen und Stereotypen entschieden entgegenzutreten. 1 Mehrfachantwort; +Anzahl Antwortende; °Befragte, mit dieser Wahrnehmung; *Relative Betroffenheit – Anteil der Antwortenden, die diese Wahrnehmung machten Literatur Kontakt Schabert J, Browne JL, Mosely K, Speight J. Social Stigma in Diabetes. Patient 2013;6:1-10. Browne JL, Ventura A, Mosely K, Speight J. I call it the blame and the shame disease: a qualitative study about perceptions of social stigma surrounding type 2 diabetes. BMJ Open. 2013;3:1-10. Creswell, J. W. (2009). Research Design. Qualitative, Quantitative, and Mixed Methods Approaches. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore: Sage. Raemy, A., & Gredig, D. (2014). Ungerechte Behandlung und Herabminderung von Menschen mit Diabetes. d-journal(230), 14-18. Vgl. z.B. Wardian, J., & Sun, F. (2014). Factors Associated With Diabetes-Related Distress: Implications for Diabetes Self-Management. Social Work in Health Care, 53(4), 364-381. Annabelle Bartelsen-Raemy: annabelle.bartelsen@fhnw.ch T 062 957 21 19