Burnout – mehr als Erschöpfung Lerntherapie-Ausbildung II 16.04.2013 Prof. Dr. med. Daniel Hell 10.06.2019
Agenda Positive und negative Erschöpfung (wie Erschöpfung zum modernen Problem wurde) Von Neurasthenie zu Burnout (wie die Abwehr sich von aussen nach innen kehrte) Burnout und Depression (was Probleme von „Gesunden“ mit Störungen von „Kranken“ zu tun haben) 10.06.2019
Handke: „Versuch über die Müdigkeit“ „Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, aber was gelassen werden kann“ „Müdigkeit, die eine tiefe Freundlichkeit stiftet“ 10.06.2019
Abgewertete Erschöpfung Im Burnout-Konzept verbindet sich die Glorifizierung des Arbeitseinsatzes („Überengagement“) mit einer Entwertung von Erschöpfung. Diese wird in der modernen Produktions- und Kommunikations-Gesellschaft als Hindernis für Leistung und Erfolg bewertet. 10.06.2019
Burnout – mehr als Erschöpfung Burnout („Ausgebranntsein“) ist nicht blosse Erschöpfung, sondern Kampf und Auseinandersetzung mit Erschöpfungs- gefühlen. 10.06.2019
Zum Begriff Burnout Zum Begriff Burnout „Burnout ist ein Zustand körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung. Es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Arbeitsmüdigkeit, sondern um einen Zustand, der mit wechselhaften Gefühlen der Erschöpfung und Anspannung verbunden ist“. Freudenberg 1974 Herbert Freudenberger, Psychoanalytiker, prägte 1974 erstmalig den Begriff Burnout 10.06.2019
Agenda Positive und negative Erschöpfung (wie Erschöpfung zum modernen Problem wurde) Von Neurasthenie zu Burnout (wie die Abwehr sich von aussen nach innen kehrte) Burnout und Depression (was Probleme von „Gesunden“ mit Störungen von „Kranken“ zu tun haben) 10.06.2019
Vorläufer: Neurasthenie „Eine praktische Therapie der nervösen Erschöpfung“ Bestseller von 1869 von George Beard Nervöse Erschöpfung (nervous exhaustion) oder Neurasthenie als Krankheit des modernen Lebens zu Beginn der Industrialisierung und Verstädterung Symptome sind: Müdigkeit, abnehmende Arbeits- leistung, vegetative Beschwerden u.a. (analog zu Burnout) 10.06.2019
Ablösung der Neurasthenie durch Burnout 1970 1870 2010 Digitalisierung Globalisierung Mechanisierung Industrialisierung 10.06.2019 9
Konzeptuelle Unterschiede zwischen Neurasthenie und Burnout Energiemangel wird mit Abfall der elektrischen Spannung im Nervensystem gleichgesetzt (u.a. Elektrotherapie, Diät) Zivilisatorische Überreizung spielt Hauptrolle (äusserer Feind) Burnout Erschöpfung ist Folge eines Ungleichgewichts von Einsatz und Belohnung Selbst-Überforderung im Beruf spielt Hauptrolle (äusserer und innerer Feind: Selbstkonditionierung) 10.06.2019
Ungleichgewicht von Leistung und Belohnung grosser Einsatz, grosse Leistung (hohe Verausgabung) wenig Lohn kaum Anerkennung wenig Weiterbildung keine Förderung (niedrige Belohnung) gesundheitliche Beeinträchtigung „Burnout“ 10.06.2019 Nach: Marmot, M, Siegrist,J Thorell,T, &Feeney (1999) 11
Zwei Pole der Burnout-Dynamik Persönlicher Pol Umwelt- Pol „Selbstverbrenner“ (überhöhte Leistungs- Ideale) „wear out“ (Verschleiss durch äusseren Druck) (nach Burisch 2006) 10.06.2019 12
Persönliche Risikofaktoren (Auswahl) Hohes Leistungsideal Perfektionismus, zwanghafte Züge Verletzbarkeit (bei Misserfolg) wenig ausserberufliche Kontakte und Hobbys hohe Erwartungen an berufliches Umfeld 10.06.2019
Charakteristika der Spätmoderne Technisch-wissenschaftliches Weltbild Betonung der Aussensicht Individualisierung Betonung der Selbstwirksamkeit Ökonomisierung Betonung des (sichtbaren, messbaren) Erfolgs Globalisierung Betonung der Flexibilität und Mobilität 10.06.2019
Vom Leiden an den Umständen zum Leiden an sich selbst Vom „Du sollst“ zum „Ich kann“ (yes, we can) oder: Vom Scheitern am Über-Ich zum Scheitern am Ich-Ideal 10.06.2019
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Stressempfinden von Erwerbstätigen in Prozent, Seco-Studie 2011 10.06.2019
Grebner, Berlowitz, Alvarado, & Cassina (2011) Burnout: „Bei der Arbeit Gefühl gehabt, emotional verbraucht zu sein“ (Seco 2011) Erwerbstätige in Prozent (N = 997) Quelle: Grebner, Berlowitz, Alvarado & Cassina (2011): Stress bei Schweizer Erwerbstätigen. Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, Personenmerkmalen, Befinden und Gesundheit. SECO www.seco.admin.ch Studien und Berichte 10.06.2019 Grebner, Berlowitz, Alvarado, & Cassina (2011) 19
Zahlen zu Burnout 15% - 25% der Befragten sind in einzelnen Berufsgruppen von Burnout betroffen. (Bovier et al 2005, Schulze und Rössler 2007) Um 10% der Fehlzeiten am Arbeitsplatz sind durch psychische Probleme, u.a. Burnout, bedingt. (DAK 2009) Um 20% Anstieg der Fehlzeiten durch psychische Probleme in zwei Jahren. (TK 2009) 10.06.2019
Agenda Positive und negative Erschöpfung (wie Erschöpfung zum modernen Problem wurde) Von Neurasthenie zu Burnout (wie die Abwehr sich von aussen nach innen kehrte) Burnout und Depression (was Probleme von „Gesunden“ mit Störungen von „Kranken“ zu tun haben) 10.06.2019
Kernsyndrom der Erschöpfung Energieverlust Unlust Desinteresse Kommt auch bei Depressionen vor Erschöpfungsdepression (Kielholz) Erschöpfungsreaktion (Bräutigam) 10.06.2019
van Gogh 10.06.2019
Gegenüberstellung der Depressions- und Burnout-Symptomatik Burnout-Leitsymptome (Maslach und Leiter) Emotionale Erschöpfung Gefühllosigkeit (gegenüber Mitmenschen) Reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit Depressive Leitsymptome (ICD-10) Depressive Stimmung (Bedrücktheit) Interesseverlust Antriebsverlust und gesteigerte Ermüdbarkeit Depressionsskalen und Maslach Burnout-Inventar weisen hohe Korrelationen auf. 10.06.2019
Prävalenz depressiver Störungen in Beziehung zu Burnout (Ahola et al Prävalenz depressiver Störungen in Beziehung zu Burnout (Ahola et al., 2005: Querschnittsuntersuchung in der arbeitenden Bevölkerung von Finnland im Alter von 18-65 Jahren) 10.06.2019 Anteil Depressiver Störungen
Überschneidung von Burnout und Depression Schweregrad der Symptomatik 10.06.2019 26
Burnout – Stresszirkel: Aufwärtsspirale Hohe Anforderungen Kränkung „trotzdem“ Selbstaufforderung „ich schaff es“ „ausgebrannt“ Burnout: Kampfmuster Stressor: Hohe, vor allem berufliche Anforderungen. Stressverstärker: Hohe Selbstanforderungen, primär hohes Kompetenzvertrauen. Distress: Überforderung, Kompetenzen sind im Normbereich aber innere und äussere Anforderungen sind zu hoch. Stressreaktion: Vor allem eine narzisstische Geschichte, zeitgemäss, Distress bewirkt narzisstisches Kränkungssyndrom, Reaktion darauf ist aber primär ein „trotzdem“. Sind die Energien ausgebrannt, so kommt es zum Kollaps. Überforderung 10.06.2019
Depressionsentwicklung als Komplikation des Burnout-Stresszirkels Hohe Erwartungen Kränkung „trotzdem“ Selbstaufforderung „ich schaff es“ „ausgebrannt“ Depression: Unterordnungsmuster, Bewahrungsmuster Stressor: Allenfalls auch hier überhöhte Erwartungen, nicht aber notwendig, allenfalls durchschnittliche Erwartungen. Stressverstärker: Erniedrigtes Kompetenzvertrauen (zum eigenen Können, zur Fähigkeit, Zuwendung oder Unterstützung zu mobilisieren). Distress: Anforderungen durchaus im Normbereich, Diskrepanz entsteht durch erniedrigte Kompetenz. Stressreaktion. Hier weniger das grandios-narzisstische Muster, sondern das narzisstisch-selbstunsichere Minderwertigkeitssyyndrom. Die Bewältigung des Distress wird als unmöglich eingestuft. Zunehmend kommt man in Sackgasse und ist am Schluss „depressiv-abgestorben“. Überforderung 10.06.2019
Soziale Burnout-Prophylaxe Risiko- und Schutzfaktoren im Betrieb Risikofaktoren für Burnout Schutzfaktoren gegen Burnout Arbeitsüberlastung Adäquates Mass an Belastung Mangel an Einfluss auf Arbeitsgestaltung (Kontrollverlust) Einflussmöglichkeiten auf Arbeit Mangel an Belohnung (Anerkennung oder Lohn) Anerkennung und Belohnung Mangel an Gemeinschaft Gemeinschaftssinn Mangel an Fairness Respekt, Gerechtigkeit Wertverlust der Tätigkeit sinngebende Arbeit 10.06.2019 29
Individuelle Vorbeugung von Burnout und Depressivität Rhythmisierung im Alltag (Pausen und angenehme Tätigkeiten fördern) achtsamer Umgang mit sich selbst und andern („Entschleunigen“, ev. Meditation) bei Enttäuschung und Deprimierung sich nicht mit negativen Gedanken identifizieren 10.06.2019 30