Behinderungsbegriffe im Spannungsfeld zwischen BTHG, SGB IX und UN-BRK ICF-Anwenderkonferenz 2018 Prof. Dr. Felix Welti 12. April 2018, Hamburg.

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 Präsentation transkript:

Behinderungsbegriffe im Spannungsfeld zwischen BTHG, SGB IX und UN-BRK ICF-Anwenderkonferenz 2018 Prof. Dr. Felix Welti 12. April 2018, Hamburg

Behinderungsbegriff – bisher § 2 Abs. 1 SGB IX (bis 31.12.2017) „(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“

Behinderungsbegriff – jetzt § 2 Abs. 1 SGB IX (ab 01.01.2018) „(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Behinderungsbegriff der UN-BRK Art. 1 UN-BRK „(…) Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnes-beeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Behinderungsbegriff der BRK „S a t z 2 erläutert den Begriff „Menschen mit Behinderungen“. Dieser bezieht sich auf Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Damit umschreibt Satz 2 die Personengruppe, die in den Schutz des Übereinkommens fällt.“ (BT-Drucks. 16/10808, 47; Denkschrift der Bundesregierung zur Behindertenrechtskonvention)

Behinderungsbegriff der BRK „Bereits in der Präambel Buchstabe e wird auf den Begriff „Behinderung“ Bezug genommen. Dort wird beschrieben, dass sich das Verständnis von Behinderung ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Diese Erläuterung verdeutlicht, dass ein Verständnis von „Behinderung“ nicht als fest definiertes Konzept verstanden wird, sondern von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig ist. Dafür spricht auch, dass die Erläuterung von „Menschen mit Behinderungen“ nicht als eine technische Definition in Artikel 2 aufgenommen wurde.“ (BT-Drucks. 16/10808, 47; Denkschrift der Bundesregierung zur Behindertenrechtskonvention)

Gesetzesbegründung „Dem neuen gesellschaftlichen Verständnis nach einer inklusiven Gesellschaft im Lichte der UN-BRK soll durch einen neu gefassten Behinderungsbegriff Rechnung getragen werden.“ (BT-Drs. 18/9522, 191) „Mit der Neudefinition kommt vielmehr zum Ausdruck, dass sich die Behinderung erst durch gestörte oder nicht entwickelte Interaktion zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt manifestiert. Die Regelung (…) gründet sich in ihrem Verständnis wesentlich auf das bio-psychosoziale Modell der Weltgesundheitsorganisation (englisch World Health Organization, WHO) das der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zugrundliegt. Der Behinderungsbegriff hat eine klärende und maßstabsbildende Funktion für die Rehabilitationsträger.“ (BT-Drs. 18/9522, 192)

Gesetzesbegründung „Der bisherige Wortlaut des § 2 SGB IX kann zwar im Sinne der UN-BRK ausgelegt werden. (…) Die Änderung dient der Rechtsklarheit. Sie soll das Bewusstsein für das Verständnis von Behinderung im Sinne der UN-BRK weiter schärfen und die Rechtsanwendung in der Praxis unterstützen.“ (BT-Drs. 18/9522, 227)

CRPD/C/11/D/2/2010 vom 4.4.2014 (Gröninger) „The (German) policy seems to respond to the medical model of disability, because it tends to consider disability as something that is transitional and that, in consequence, can bei „surpassed or cured“ with time.“

Auslegung im Sinne der UN-BRK auch durch den EuGH und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG): EuGH 01.12.2016, C-395/16 Daouidi EuGH 11.04.2013 C-335/11 u.a. Ring u.a. BAG 19.12.2013 6 AZR 190/12 (HIV)

Verknüpfung von § 2 Abs. 1 SGB IX mit der Bedarfsfeststellung nach § 13 SGB IX: § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX Die Instrumente nach Absatz 1 Satz 1 gewährleisten eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsfeststellung und sichern die Dokumentation und Nachprüfbarkeit, indem sie insbesondere erfassen, 1. ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht, (…).

Gesetzesbegründung § 13 SGB IX: „Die Leistungsgesetze können aufbauend auf den Vorgaben von § 13 weitergehende und speziellere Vorgaben regeln, die den Besonderheiten der jeweiligen Leistungssysteme gerecht werden oder auf eine Konkretisierung verzichten und damit den Rehabilitationsträgern weite fachliche Spielräume bei der Entwicklung und Nutzung der Instrumente überlassen. (…) Ob und inwieweit auch weitere Leistungsgesetze für eine solche ICF-Orientierung in Betracht kommen, soll durch eine wissenschaftliche Untersuchung nach Absatz 3 bis Ende 2019 geklärt werden.“ (BT-Drs. 18/9522, 232)

Arbeitsentwurf einer neuen Gemeinsamen Empfehlung Reha- Prozess vom 12 Arbeitsentwurf einer neuen Gemeinsamen Empfehlung Reha- Prozess vom 12.1.2018 (www.bar-frankfurt.de) § 12 (6) Die Rehabilitationsträger fördern die Konkretisierung eines möglichen Rehabilitationsbedarfs von Menschen mit Behinderung durch den Einsatz von Instrumenten, z.B. Screeningverfahren und Selbstauskunftsbögen. Vorhandene Instrumente zur Erkennung des Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe sind unter Nutzung der Möglichkeiten des bio- psycho-sozialen Modells weiterzuentwickeln, das der ICF zu Grunde liegt und, wo möglich, trägerübergreifend zu vereinheitlichen. §44 (4) Für die Neu- und Weiterentwicklungen vereinbaren die Rehabilitationsträger und Integrationsämter, den erforderlichen verwaltungsinternen und trägerübergreifenden Informationsaustausch und die entsprechende fachliche Diskussion unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Expertise zu organisieren.

Arbeitsentwurf einer neuen Gemeinsamen Empfehlung Reha- Prozess vom 12 Arbeitsentwurf einer neuen Gemeinsamen Empfehlung Reha- Prozess vom 12.1.2018 (www.bar-frankfurt.de) § 17 (2) Zur Unterstützung der Erkennung eines möglichen Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe durch Akteure der medizinisch-therapeutischen Versorgung fördern die Rehabilitationsträger den Einsatz von Richt- /Leitlinien, Screening- bzw. Assessmentverfahren sowie strukturierten Befundberichten. Diese sind, wo möglich, unter Nutzung der Möglichkeiten des bio-psycho-sozialen Modells auszurichten, das der ICF zu Grunde liegt.

Arbeitsentwurf einer neuen Gemeinsamen Empfehlung Reha- Prozess vom 12 Arbeitsentwurf einer neuen Gemeinsamen Empfehlung Reha- Prozess vom 12.1.2018 (www.bar-frankfurt.de) § 36 (3) Funktionsbezogen ist die Bedarfsermittlung und - feststellung, wenn sie unter Nutzung des bio-psycho-sozialen Modells der WHO erfolgt und sich dabei an der ICF orientiert. Dies beinhaltet die Erhebung aller erforderlichen Informationen zu den Ausprägungen und Auswirkungen eines Gesundheitsproblems (Schädigungen von Körperstrukturen und -funktionen, Beeinträchtigungen Aktivitäten und Teilhabe) in verschiedenen Lebensbereichen sowie die Einbeziehung der im Einzelfall bedeutsamen Kontextfaktoren. Hierbei erfasst jeder Rehabilitationsträger Informationen zu allen Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells zumindest dem Grunde nach. Dafür bieten sich insbesondere strukturierte Gespräche (…) an. (…).

Weitere Fragen: Bislang wird im Hilfsmittelrecht der Krankenversicherung Behinderung und Beeinträchtigung in eins gesetzt (Prothese = „unmittelbarer Behinderungsausgleich“; Rollstuhl = „mittelbarer Behinderungsausgleich“). Kann es bei solchen trägerspezifischen Behinderungsverständnissen bleiben, wenn Behinderung Teil der Anspruchsgrundlage ist (z.B. Hilfsmittel, § 33 SGB V)?

Weitere Fragen: Welche Rolle spielt es, ob und wieweit die Teilhabebeeinträchtigung gesundheitliche Ursachen hat? (vgl. Luthe, Behindertenrecht 2017, 53, 77) Luthe schlägt vor, dass der Schweregrad einer Behinderung umso geringer sein soll, je weniger die Teilhabebehinderung gesundheitliche Ursachen hat und je mehr sie als Folge von einstellungs- und umweltbedingten Barrieren anzusehen ist (79). Hat diese Ansicht eine Stütze im Gesetz? Luthe sieht zudem die ICF als ungeeignet an, die gesellschaftliche Relevanz einer Beeinträchtigung zu erfassen (81). Hat diese Ansicht eine fachliche Berechtigung?

Weitere Fragen: Können die Lebensbereiche der ICF quantitativ gewichtet werden, wie es der Gesetzgeber in seinem Definitionsvorschlag für die „erhebliche Behinderung“ nach § 99 SGB IX ab 1.1.2023 vorschlägt („Fünf aus neun Lebensbereichen beeinträchtigt = erhebliche Beeinträchtigung“)?