Angststörungen im Kindes- u. Jugendalter Dr. med. Tomasz A. Jarczok 12.5.2016
Angst pathologisch? Fight Flight Physiologische Reaktion Freeze
Angst versus Angststörungen Angst / Furcht als physiologische Reaktion Sympathikusaktivierung -> schnelles Handeln möglich Herzklopfen, RR-Anstieg, gesteigerte Atmung, trockener Mund Schwitzen, Zittern, Schwindel, Blässe / Erröten, Durchfall etc. Entwicklung: Angst oft verbunden mit Entwicklungsschritten Entwicklungstypische „Ängste“ bei Kindern / Jugendlichen 8-Monats-Fremdeln Vorschulalter: Dunkelheit, „Monster“, Einbrecher, Alleinsein Grundschulalter: Schule, Krankheit, Verletzung, soziale Situationen, Gewitter, Tod Jugendalter: Beurteilung durch Gleichaltrige, Sexualität
Angststörungen Angststörungen sind psychische Störungen, bei denen die Furcht vor einem Objekt/ einer Situation oder unspezifische Ängste (ängstliche Erwartung) im Vordergrund stehen.
Angststörungen Angststörungen sind psychische Störungen, bei denen die Furcht vor einem Objekt/ einer Situation oder unspezifische Ängste (ängstliche Erwartung) im Vordergrund stehen. Wichtig für Störung: Relevante Einschränkung / Beeinträchtigung! Beispiel KJP: Schulabsentismus – Patient ist aufgrund der Angstsymptomatik nicht in der Lage die Schule zu besuchen muss bei Kindern über entwicklungstypische Ängste hinausgehen
Risikofaktoren/ Ätiologie Genetische Prädisposition Heritabilität ca. 50%; Serotoninsystem, andere Neurotransmitter „behavioral inhibition“ als angeborene Verhaltensweise Mittlere Heritabilität von bis zu 50 %
Neuroanatomie - Behavioral Inhibition System Septo-hippocampales System Konflikt zwischen verschiedenen Handlungsoptionen Hemmung aktuellen Verhaltens Aufmerksamkeitsfokussierung Erhöhtes Arousal
Risikofaktoren/ Ätiologie Umweltfaktoren mütterlicher Stress in Schwangerschaft; mütterliche Misshandlung Lebensereignisse (z. B. Verlusterlebnisse) Elterlicher Erziehungsstil Überbehütung unsichere Bindung an Bezugspersonen im Kleinkindalter Kognitive Faktoren Interpretationsverzerrung; Aufmerksamkeitsverzerrung Reduzierte internale Kontrollüberzeugungen Lerntheoretisches 2-Faktorenmodel nach Mowrer: Angstauslösendes Ereignis (klassische Konditionierung) Vermeidung von mit Ereignis assoziierten Reizen (operante Konditionierung – hier negative Verstärkung)
Welche Angststörungen gibt es? Welche Kernsymptomatik kennzeichnet sie?
Angststörungen - Kernsymptomatik F93.1 Phobische Störung des Kindesalters (Spezifische Phobie, F40.2)
Angststörungen - Kernsymptomatik Angst vor spezifischen Objekten/Situationen, von denen objektiv keine Gefahr ausgeht? (z.B. Tiere, Arztbesuch, Dunkelheit, Höhen) F93.1 Phobische Störung des Kindesalters (Spezifische Phobie, F40.2)
Angststörungen - Kernsymptomatik F93.8 Generalisierte Angststörung (F41.1)
Angststörungen - Kernsymptomatik Angst und Befürchtungen bezüglich vielfältiger Ereignisse, Situationen und Lebensbereiche? (z.B. Unpünktlichkeit, sich richtig verhalten zu haben, Schulleistungen) + Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Erschöpfung, o.ä. F93.8 Generalisierte Angststörung (F41.1)
Angststörungen - Kernsymptomatik F41.0 Panikstörung
Angststörungen - Kernsymptomatik Schwere, plötzliche Angstattacke, die nicht in spezifischer Situation aufritt? (häufig Erstickungsgefühle, Schwindel, Herzrasen, sekundär: Furch zu sterben, vor Angst verrückt zu werden) F41.0 Panikstörung
Angststörungen - Kernsymptomatik F40.0 Agoraphobie
Angststörungen - Kernsymptomatik Angst vor Kontrollverlust an Orten, an denen „Flucht“ schwierig/peinlich ist? (Menschenmengen, öffentliche Plätze, Reisen) F40.0 Agoraphobie
Angststörungen - Kernsymptomatik F94.0 Selektiver Mutismus
Angststörungen - Kernsymptomatik Beständige, emotional bedingte, Unfähigkeit in bestimmten sozialen Situationen zu sprechen? (z.B. Schule) F94.0 Selektiver Mutismus In ICD-10 noch nicht den Angststörungen zugeordnet, nach aktuellem Stand jedoch Angststörung mit enger Beziehung zu sozialen Ängsten (DSM-5)
Angststörungen - Kernsymptomatik F93.2 Störungen mit sozialer Ängstlichkeit (Soziale Phobie, F40.2)
Angststörungen - Kernsymptomatik Angst vor Bewertungen in sozialen Situationen? (große Befangenheit, Verlegenheit, übertriebene Sorge über eigenes Verhalten ggü. fremden Personen) F93.2 Störungen mit sozialer Ängstlichkeit (Soziale Phobie, F40.2)
Angststörungen - Kernsymptomatik F93.2 Störungen mit sozialer Ängstlichkeit (Soziale Phobie, F40.2)
Angststörungen - Kernsymptomatik Angst von Bezugsperson getrennt zu sein (z. B. Kindergarten, Schule werden gemieden) Anhaltende Besorgnis, der Bezugsperson könne etwas zustoßen F93.0 Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters
Entwicklungsassozierte Verläufe von Angststörungen Trennungsangst Panikstörung Unterschiedliche Entwicklunsgstufen disponieren zu unterschiedlichen Angststörungen aus Copeland, 2014
Komorbidität Komorbidität bei etwa 70 % Altersschwerpunkt Komorbide Erkrankungen Kindheit Andere Angststörungen Depression Externalisierende Störungen: ADHS & SSV Adoleszenz Substanzmissbrauch
Epidemiologie Häufigste Störungen im Kindes- und Jugendalter Werden oft nicht erkannt 6-Monats-Prävalenzraten Alle Angststörungen 10% (unabhängig von Alter) Trennungsangst Kindesalter 3%, Jugendalter 0% Soziale Ängstlichkeit / Soziale Phobie Kindesalter << 1%, Jugendalter 2-4%; elektiver Mutismus Kindesalter < 1 % Panikstörung Kindesalter 0%; Jugendalter 0,5 - 1% Agoraphobie Kindesalter 0%; Jugendalter 2% Spezifische Phobien Kindesalter 5%, Jugendalter 2-3% Generalisierte Angststörung Kindesalter 0%; Jugendalter 0,5%
Diagnostik Anamnese Symptome: Emotionen, körperliche Symptome, Gedanken, Vermeidungsverhalten Risikofaktoren, Medikamente, Drogen, Alkohol Klinisches (oder standardisiertes) Interview mit Eltern und Kind Kinder-DIPS Fragebögen für Eltern und Kind: Screening (z. B. FAS) Psychopathologischer Befund Körperliche Untersuchung Ggf. weiterführende Testdiagnostik, EEG, EKG, Laboruntersuchungen (z. B. TSH) Klinische Diagnose: Zusammenschau der Befunde (und Bewertung des Schweregrades)
Differentialdiagnosen Andere Angststörungen (Komorbidität möglich) Depressive Episode (Komorbidität möglich) Somatoforme Störungen (Komorbidität möglich) Schizophrene und wahnhafte Störungen Somatische Erkrankung, z.B. Hyperthyreose Hypoglykämien Hyperparathyreoidismus Phäochromozytom Arrythmien Epilepsie („Aura“) Medikamenten- oder Drogen-induziert
Behandlung - Psychotherapie Verlauf der Angst Beratung, Psychoedukation Psychotherapie => Verhaltenstherapie am besten evaluiert wichtig: Expositionsverfahren (graduiert oder massiert) Wirkmechanismus: Habituation an angstauslösenden Stimulus Kognitive Techniken: Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken; Selbstinstruktionstraining, Änderung des Aufmerksamkeitsfokus, Video-Feedback (bei sozialen Ängsten)
Behandlung - Psychotherapie Einbeziehung der Familie sinnvoll: Abbau der Unterstützung von Vermeidungsverhalten dysfunktionale Gedanken (Sorgen, Ängste) der Eltern Eltern als Modell
Behandlung - Psychopharmakotherapie Bei deutlicher Beeinträchtigung oder fehlendem Behandlungserfolg unter Psychotherapie psychopharmakologische Behandlung erwägen: Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) Mittel der Wahl: Z. B. Sertralin, Fluoxetin wirksam (mittlere Effektstärken) Benzodiazepine möglichst vermeiden Starke und rasche Anxiolyse aber CAVE: Abhängigkeitspotiential
Behandlung - Psychopharmakotherapie Medikation: Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) Kombinationstherapie SSRI und kognitive Verhaltenstherapie – additiver Effekt (Walkup et al., 2008) – Number needed to treat (NNT) = 2 für Kombination Sert + CBT
Danke für die Aufmerksamkeit tomasz.jarczok@kgu.de