S3 Leitlinie: Verhinderung von Zwang – Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens Sophie Hirsch & Daniela Schmid am 29.03.2019 auf der Regio-Tagung in Stuttgart
Vermeidung von Zwang – Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens Epidemiologie – Gewalt und psychische Erkrankungen Diagnostik bei aggressivem Verhalten Gewaltprävention im psychiatrischen Hilfesystem Entscheidungshilfen bei Notfallmaßnahmen (Isolierung/Fixierung, Notfallmedikation)
Risikovorhersage und frühe Interventionen: 19 Studien Individuelle Risikovorhersage und Frühinterventionen 10 Studien Strukturierte/klinische Risikovorhersage 9 Studien Strukturierte/atavistische Risikovorhersage u. Frühinterventionen 1 Studie Nur Strukturierte Risikovorhersage BVC 1 Studie Strukturierte Risikovorhersage und Frühinterventionen BVC, BVC-R, BVC-CH; 3 Studien Strukturierte Risikovorhersage und Frühinterventionen andere Instrumente; 5 Studien
https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-022.html
Epidemiologie – Gewalt und psychische Erkrankungen KAPITEL 7 Epidemiologie – Gewalt und psychische Erkrankungen
Faktoren, die das Gewaltrisiko bei Psychosen erhöhen (OR) (Witt et al Vorgeschichte Gewalttat 21.4 Psychopathie 17.4 Anamnese Polytox 10.3 Non-Adhärenz mit psychol. Therapien 6.7 Opfer v. Gewalt als Erwachsener 6.1 Vorgeschichte Haft 4.5 Schlechte Impulskontrolle 3.3 Kürzl. Alkohol-/Drogenmissbrauch 2.9 Fehlende Krankheitseinsicht 2.7 Non-Adhärenz mit Medikation 2.0 Anamnese sexueller Missbrauch 1.9 Anamnese Suizidversuch 1.6 Verfolgungswahn 1.6 Männlich 1.6 Höhere PANSS Scores 1.5 Nicht weiß (Ethnie) 1.4 Anamnese Cannabis 1.3 Mehr Halluzinationen 1.2 arbeitslos 1.1 Scheidung der Eltern 0.7
Gewalt psychisch erkrankter Menschen in der Gesellschaft Gewaltrisiko bei Menschen mit psychischen Erkrankungen erhöht, wichtiger als psychopathologische Symptome sind aber Gewalt und Viktimisierung in der Vergangenheit Persönlichkeitseigenschaften Substanzgebrauch Alter, Geschlecht, Familienstand Medikamente helfen
Psychische Erkrankungen und Gewalt Psychiatrische Professionelle sollen mit spezifischen Risikofaktoren vertraut sein und ihr Handeln danach ausrichten. Bei der Kommunikation darüber soll die Gefahr einer Stigmatisierung durch vereinfachte Darstellung als Kausalzusammenhänge beachtet werden (Expertenkonsens)
„The main finding was that almost one in five patients admitted to acute psychiatric wards in high-income countries commit an act of physical violence while in hospital.“ Prädiktoren im multivariablen Modell: Vorgeschichte von Gewalt, männliches Geschlecht, unfreiwillige Hospitalisierung, Alkohol
Gewalt psychisch erkrankter Menschen in Institutionen Ähnliche Risikofaktoren Substanzmissbrauch kriminelles Verhalten im Vorfeld Alter, Geschlecht, Familienstand Zusätzlich Positivsymptomatik, Psychopathologie im Allgemeinen (nicht aber Negativsymptomatik) Autoaggression Unfreiwillige Aufnahme
Diagnostik bei aggressivem Verhalten Kapitel 6 Diagnostik bei aggressivem Verhalten
Diagnostik bei aggressivem Verhalten Aggressives Verhalten bei somatischen Erkrankungen Behandlungsaspekte Risikovorhersage in psychiatrischen Stationen
Aggressivität als Symptom somatischer Notfälle Postiktale Zustände Schädel-Hirn-Traumata Enzephalitiden, Hirnblutungen Metabolische Störungen (Hypoglykämien!)
Eine dichotome Entscheidung auf einem Kontinuum Arzt ist verantwortlich/verpflichtet/legitimiert, auf das Handeln einer anderen Person gegen deren Willen Einfluss zu nehmen ja nein Entscheidungs-/Einwilligungsfähigkeit erhalten, Gefahr fraglich krankheitsunabhängige Motivationslage Entscheidungs-/Einwilligungsfähigkeit aufgehoben durch psychische Störung Gefahr erheblich klarer kausaler Zusammenhang
Aufhebung der Selbstbestimmungsfähigkeit ist wahrscheinlich bei Akuter Psychose Intoxikation Delir Demenz schwerer Depression in allen anderen Fällen ist eher von erhaltener Selbstbestimmungsfähigkeit auszugehen, abgesehen von akuten situativen Einengungen (eher kurze Zeit)!
Expertenkonsens Bei aggressivem Verhalten soll eine Zuweisung in eine psychiatrische Klinik nur erfolgen, wenn das Verhalten in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung steht und ▪ entweder ein Behandlungswunsch der betreffenden Person vorliegt ▪ oder die Einwilligungsfähigkeit mutmaßlich aufgehoben oder die Entscheidungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist und eine Behandlungsoption besteht. Ausnahmen können für kurze Zeiträume einer erforderlichen Diagnostik und Evaluation gelten.
Risikovorhersage und frühe Interventionen: 19 Studien Individuelle Risikovorhersage und Frühinterventionen 10 Studien Strukturierte/klinische Risikovorhersage 9 Studien Strukturierte/atavistische Risikovorhersage u. Frühinterventionen 1 Studie Nur Strukturierte Risikovorhersage BVC 1 Studie Strukturierte Risikovorhersage und Frühinterventionen BVC, BVC-R, BVC-CH; 3 Studien Strukturierte Risikovorhersage und Frühinterventionen andere Instrumente; 5 Studien
Gewaltprävention im psychiatrischen Hilfesystem / Deeskalation Kapitel 10 / 11 Gewaltprävention im psychiatrischen Hilfesystem / Deeskalation
Gewaltprävention im psychiatrische Hilfesystem Sozialpolitische und ökonomische Aspekte Institutionelle Voraussetzungen Beziehung Trialog, Selbsthilfe und Empowerment Behandlungsvereinbarungen und Vorausverfügungen Psychotherapeutische Programme Soziale Kompetenztrainings Metakognitives Training Achtsamkeitstraining Peer-Programme (auch für geistig behinderte Menschen)
Organisation: 31 Studien Integrierte Versorgung 2 Studien Videoüberwachung, Alarmsystem 1 Studie Mehr/anderes Personal Stärkung der Therapeutischen Gemeinschaft, gemeinsame Aktivitäten 8 Studien Türöffnung, Lockerung des Ausgangs; 3 Studien Umgang mit S/R; 10 Studien Aufteilung von Stationen 4 Studien Überprüfung von S/R durch die Leitung; 6 Studien Reduktion der Stationsgröße; 3 Studien Bessere Dokumentation von S/R; 7 Studien Einrichtung von Spezialstationen; 2 Studien
Umgebung 20 Studien Sensory Modulation/Comfort Rooms 14 Studien Gestaltung psychiatrischer Stationen 7 Studien Verbesserung von Innenausstattung und Einrichtung 4 Studien Sensory Modulation, angeleitet 8 Studien Umzug / Neubau 2 Studien Sensory Modulation, nicht angeleitet 6 Studien Einrichtung spezieller Isolier-/ Fixierräume mit 1:1 Überwachung 1 Studie
Psychotherapeutische Interventionen 15 Studien Alltagstraining 1 Studie Familientherapie, Einbeziehung von Angehörigen 3 Studien Erstellung individueller Behandlungspläne 4 Studien Psychotherapieprogramme bei Persönlichkeitsstörungen 3 Studien Verhaltenstherapie; 6 Studien Verstärkerpläne; 2 Studien Soziales Kompetenztraining; 2 Studien Soziales Lernprogramm; 1 Studien Kognitive Milieutherapie; 1 Studie Stressbewältigung; 2 Studien
Mitarbeiterschulungen, –trainings und Supervision 36 Studien Schriftliches Infomaterial 1 Studie Schulungen für alle (pflegerischen) Mitarbeiter 25 Studien Externe Supervision 3 Studien Interne Supervision/ Response Teams/Train-the-trainer 13 Studien Neue Haltung/Regeln 3 Studie Neue Haltung/Regeln 4 Studien Empathietraining 1 Studie Korrekte Anwendung von Zwang und Alternativen 3 Studie Korrekte Anwendung von Zwang und Alternativen 4 Studien Gewaltfreie Selbstverteidigung 1 Studie Kommunikation, Deeskalation, Prävention 9 Studien Kommunikation, Deeskalation, Prävention; 17 Studien
Deeskalation und Abwehrtechniken Alle Mitarbeitenden sollen in Deeskalationstechniken und Strategien zum Umgang mit aggressivem Verhalten geschult und trainiert werden (Empfehlungsgrad A, Evidenzgrad 3) Eine Kombination aus Deeskalationstechniken mit Abwehrtechniken und sicheren Interventionen zur Durchführung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen soll geschult werden (Empfehlungsgrad A, Evidenzgrad 2) Schmerz-verursachende Hebeltechniken sollen vermieden werden (Expertenkonsens)
Safewards Modell Interventionen Klärung gegenseitiger Erwartungen Verständnisvolle Kommunikation Deeskalierende Gesprächsführung Wertschätzende Kommunikation Unterstützung bei unerfreulichen Nachrichten Gegenseitiges Kennenlernen Gemeinsame Unterstützungskonferenz Methoden zur Beruhigung Sicherheit bieten
Durch Gespräch nicht beherrschbare Erregungszustände und Aggressivität in Zusammenhang mit einer (psychischen) Erkrankung Time-out oder 1:1, 2:1-Betreuung ausreichend? Tim-out oder intensive Betreuung = nein Präferenz für eine bestimmte freiheitsbeschränkende Maßnahme erfragbar? Bevorzugte FBM versuchen Passende Vorausverfügung vorhanden? Bevorzugte FBM versuchen Welche der in der Kliniken vorgehaltenen FBM am ehesten geeignet, Gefahr abzuwenden und die Situation rasch und schonend zu lösen? Festhalten, z. B. Wenn weiter verhandelt werden kann Wenn eine Medikation geplant ist Isolierung z. B. Wenn Reizabschirmung gewünscht wird Wenn Sensory Modulation geplant ist Fixierung z. B. Wenn zusätzlich Eigengefährdung besteht Wenn Festhalten oder Isolierung nicht erfolgreich waren
Durch Gespräch nicht beherrschbare Erregungszustände und Aggressivität in Zusammenhang mit einer (psychischen) Erkrankung Gewünschtes Medikament und Applikations- form anbieten, wenn medizinisch vertretbar Präferenz für eine bestimmte Medikation erfragbar? = nein, nicht mögliche Passende Vorausverfügung vorhanden? Orale Medikation möglich? Parenterale Applikation einer Notfallmedikation als Zwangsmedikation i. d. R. mit Benzodiazepinen, atypischen Neuroleptika oder Haloperidol + Lorazepam oder Haloperidol plus Promethazin Alleinige Benzodiazepingabe zur Vermeidung „unangenehmer“ Nebenwirkungen erwägen Kontraindikation für atem-und kreislaufdepressive Medikation (z. B. Alkoholintoxikation)? Haloperidol-Monotherapie
Medikamente bei aggressivem Verhalten Kapitel 12.5 Medikamente bei aggressivem Verhalten
Akutes und rezidivierendes aggressives Verhalten Chronisch/rezidivierend Situation Notfall Innerhalb einer bestehenden therapeutischen Beziehung Diagnose Oft unbekannt, schwere körperliche Erkrankung möglich Bekannt Medikamente Benzodiazepine, Neuroleptika ? Darreichungsform Parenteral Oral Evidenz Internationale Leitlinien (NICE), hochwertige Studien (RCTs), Übersichtsarbeiten Viele Sekundäranalysen, hochwertige Evidenz fehlt Behandlung Deeskalation Psychotherapie? Medikamente?
Akutes und rezidivierendes aggressives Verhalten Chronisch/rezidivierend Situation Notfall Innerhalb einer bestehenden therapeutischen Beziehung Diagnose Oft unbekannt, schwere körperliche Erkrankung möglich Bekannt Medikamente Benzodiazepine, Neuroleptika ? Darreichungsform Parenteral Oral Evidenz Internationale Leitlinien (NICE), hochwertige Studien (RCTs), Übersichtsarbeiten Viele Sekundäranalysen, hochwertige Evidenz fehlt Behandlung Deeskalation Psychotherapie? Medikamente?
Ergebnisse Psychose Die Grunderkrankung sollte ausreichend mit Antipsychotika behandelt werden Stimmungsstabilisierer sollten bei bipolaren und schizoaffektiven Störungen eingesetzt werden Fazel S, Zetterqvist J, Larsson H, Långström N, Lichtenstein P: Antipsychotics, mood stabilizers, and risk of violent crime. Lancet. 384:1206-14. 2014
Ergebnisse Psychose Clozapin ausprobieren! Frogley C, Taylor D, Dickens G, Picchioni M. A systematic review of the evidence of clozapine's anti-aggressive effects. Int J Neuropsychopharmacol. 15:1351-71. 2012 4 RCTs, 12 prospektive kontrollierte klinische Studien, 22 retrospektive Studien und 4 Fallserien
Ergebnisse Psychose CATIE RCT mit 1445 Patienten, die Perphenazin oder ein neues Neuroleptikum erhalten haben Kein Vorteil der Atypika Aripiprazol nicht getestet
Borderline Störung Evidenz gibt es für Aripiprazol, Lamotrigin, Valproat, Topiramat und Omega-3-Fettsäuren Für Olanzapin gibt es ebenfalls Evidenz, aber negativen Effekte v. a. bei begleitender Essstörung
Grundsätzliche Regeln für medikamentöse Behandlung Nicht-medikamentöse Behandlung ausreizen Medikamente alle 4-8 Wochen überprüfen, Ausschleichversuche machen Medikamente nicht einsetzen, um Dritten einen Gefallen zu tun
Danke für Ihre Aufmerksamkeit Kontakt sophie.hirsch@zfp-zentrum.de sophie_hirsch@gmx.de