Das Deutsche Hartz IV-System – Vorbild für Österreich? Prof. Dr. Wilhelm Adamy Innsbruck, 3. Dezember 2018

Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung 1 2 3 4 5 6 Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der ALHI Überblick zu und Betroffenheit von Hartz IV Die Folgen für Beschäftigung und Mittelschicht Die Folgen für die Integration Langzeitarbeitsloser Die Folgen für das Armutsrisiko 7 Die Folgen für den sozialen Zusammenhalt

SOZIALSYSTEME BEI ARBEITSLOSIGKEIT Entwicklungslinien in Deutschland 2005 1918 1927 1962 1926 Erwerbslosenfürsorge Arbeitslosenversicherung Krisenunterstützung/Arbeitslosenhilfe (ALHI) Armen-/Wohlfahrtsfürsorge/Sozialhilfe Hartz IV

SOZIALSYSTEME BEI ARBEITSLOSIGKEIT Entwicklungslinien in Deutschland 2005 1927 3-stufiges Sicherungssystem 2-stufiges Sicherungssystem Lohnersatz/Versicherung Lohnersatz/Versicherung Arbeitslosenhilfe (ALHI) Lohnersatz und Einkommens-/ Vermögensprüfung Fürsorgeleistung (Existenzminimum) Fürsorgeleistung (Existenzminimum) = Hartz IV

AUFSPALTUNG VON ARMEN- UND ARBEITNEHMERPOLITIK ZIEL: AUFSPALTUNG VON ARMEN- UND ARBEITNEHMERPOLITIK 1. 2. 3. aus Armut herausführen Risikoabsicherung Lohnabhängiger Beitragszahlung notwendig 4. 5. 6. Leistungsniveau an Erwerbsstatus orientiert allgemeines Gerechtigkeits- empfinden Entlastung der Armutspolitik 5

UNTERSCHIEDE ALHI und HARTZ IV ARBEITSLOSENHILFE (ALHI) Hartz IV im Anschluss an ALG gezahlt viele Leistungen anrechnungs- frei (Kindergeld, Wohn- Pflegegeld, etc.) Freibetrag für Partner – Höhe hypothetische ALHI Einkommen der Eltern nicht berücksichtigt Leistungsanspruch stärkt Stellung im Vermittlungs- prozess Arbeitsförderung und Zumutbarkeit wie ALV Keine Orientierung am früheren Arbeitslohn Absicherung des Existenzminimums Bedürftigkeitsprüfung des gesamten Haushalts Familieneinkommen stärker angerechnet Zumutbarkeit und Sanktionen über vormalige Sozialhilfe hinaus 6

Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung 1 2 3 4 5 6 Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der ALHI Überblick zu und Betroffenheit von Hartz IV Die Folgen für Beschäftigung und Mittelschicht Die Folgen für die Integration Langzeitarbeitsloser Die Folgen für das Armutsrisiko 7 Die Folgen für den sozialen Zusammenhalt

FINANZIELLE KONSEQUENZEN Finanzielle Folgen von Hartz IV für ALHI-EmpfängerInnen VERLIERER/INNEN rd. 20 % haben keine Ansprüche mehr, (Paare mit Kindern rd. 30 %, Paare ohne Kinder rd. 37 %) Einbuße rd. 18 % für Mehrheit der Arbeitslosenhilfe (ALHI)-EmpfängerInnen mit Anspruch Hartz IV Einbuße rd. 20 % insbesondere bei Erwerbstätigkeit der Partner, für Ältere oder bei vormals gutem Lohn. GEWINNER/INNEN Minderheit mit Arbeitslosenhilfe (ALHI) mit aufstockendem – aber nicht realisierten – Sozialhilfeanspruch Anhebung rd. 12 % 8

HÖHE DER MINDESTSICHERUNG Mit der Größe des Haushalts steigt das Existenzminimum (Mindestsicherung) Hartz IV-Anspruch und angerechnetes Einkommen, alle Haushalte Mai 2018 1.204 € 1.134 € Haushalts-budget 805 € Hartz IV-Bedarf tatsächlicherAnspruch 399 € 325 € verfügbares Einkommen angerechnetes Einkommen

RESTGRÖSSE ARBEITSLOSENVERSICHERUNG 2,384 Mio. Arbeitslose (April 2018) 67 % in Hartz IV 26 % mit Arbeitslosenvers. (ALV) 7 % ohne Leistungen 11 % der ALV-BezieherInnen stocken über Hartz IV auf

NIEDRIGLÖHNER/INNEN AM STÄRKSTEN BETROFFEN Übergang in Hartz IV direkt nach sozialversicherter Arbeit (2017) 33% 22% 4% 19% VERARB. GEWERBE LEIHARBEIT GASTGEWERBE INSGESAMT 11

Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung 1 2 3 4 5 6 Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der ALHI Überblick zu und Betroffenheit von Hartz IV Die Folgen für Beschäftigung und Mittelschicht Die Folgen für die Integration Langzeitarbeitsloser Die Folgen für das Armutsrisiko 7 Die Folgen für den sozialen Zusammenhalt

 x ANSPRUCH VON HARTZ IV Besserer Zugang von Sozialhilfebeziehern zur Arbeitsförderung Ganzheitliche Betreuung und bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen Leistung aus einer Hand Bessere Integration von Langzeitarbeitslosen Besserer Sozialversicherungsschutz für Sozialhilfebezieher Finanzielle Einbußen von ALG I in Hartz IV abbremsen Beseitigung finanzieller „Verschiebebahnhöfe“ x 13

POSITIVE ELEMENTE VON HARTZ IV 1. 2. 3. besseres Einbeziehen von Sozialhilfeempf- ängerInnen in Arbeitsförderung Hilfen für vormalige ALHI- EmpfängerInnen (Schuldner- beratung etc.) bessere Betreuungs- relationen 4. 5. 6. stärkere Finanzierung der A-Förderung über Steuermittel Ausbau des Fallmanagements Reduktion der Dunkelziffer der Armut 14

NEUE LOGIK DES FORDERNS UND FÖRDERNS Existenzsicherung mehr Fordern – weniger Fördern Zurückdrängung lohnbezogener Existenzsicherung Umdeutung der Fürsorge – weniger Sicherung Hilfe nur mit stärkere Verpflichtung Existenzminimum insbesondere bei Sanktionen gefährdet Leistungsniveau stärker ökonomisch begründet Höhere Anforderungen an Eigenverantwortung Vorrang Individueller Verhaltensänderungen Kein Rechtsanspruch auf Förderung Zurückdrängung öffentlich geförderter Arbeit Fast jede Arbeit zumutbar Arbeitslosigkeit als Folge individuellen Verhaltens Arbeit ist da – man muss nur wollen

REGIONALES ARMUTSGEFÄLLE 16

VERSCHÄRFTER DRUCK AUF ARBEITSLOSE Fast jede Arbeit zumutbar Sanktionen unter Existenzminimum möglich 17

ARMUTSRISIKO VON ARBEITSLOSEN 18

Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung 1 2 3 4 5 6 Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der ALHI Überblick zu und Betroffenheit von Hartz IV Die Folgen für Beschäftigung und Mittelschicht Die Folgen für die Integration Langzeitarbeitsloser Die Folgen für das Armutsrisiko 7 Die Folgen für den sozialen Zusammenhalt

EINFLUSSFAKTOREN AUF BESCHÄFTIGUNG Veränderung 2007 bis 2017 Lohnpolitik – Einfluss Niedriglöhne Betriebliche Investitions- u. Innovationspolitik Wechselkurse und Zinspolitik Steuersenkung Deregulierung des Bankensektors Qualifikationsniveau der Beschäftigten Ausweitung von Kinderbetreuung und Pflege Besseres Matching

ARMUT TROTZ (VERSICHERTER) BESCHÄFTIGUNG 21

PREKÄRE ARBEITSAUFNAHME NACH HARTZ IV 22

UNTERSTÜTZUNG PREKÄRER ARBEIT 23

STAATLICHE SUBVENTIONIERUNG SCHLECHT BEZAHLTER ARBEIT 24 Quelle: BA-Statistik Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberichtigte Mai 2018

HARTZ IV-AUSGABEN FÜR ERWERBSTÄTIGE ARME in Mio. € (2017) Quelle: BA-Statistik Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsempfänger 25

HARTZ IV ALS DROHKULISSE FÜR KERNBELEGSCHAFT KANN EINSCHÜCHTERN UND DISZIPLINIEREN Ausweitung der Randbelegschaft kann „Preise“ für Kernbelegschaften gefährden schwächt Engagement für bessere Arbeitsbedingungen reduziert Bereitschaft zu Arbeitsplatzwechsel Gefahr des sozialen Abstiegs wird sichtbar ABSTIEGSÄNGSTE KÖNNEN SPALTEN Vorurteile und Abgrenzung nach unten fördern trägt zur Entsolidarisierung bei 26

Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung 1 2 3 4 5 6 Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der ALHI Überblick zu und Betroffenheit von Hartz IV Die Folgen für Beschäftigung und Mittelschicht Die Folgen für die Integration Langzeitarbeitsloser Die Folgen für das Armutsrisiko 7 Die Folgen für den sozialen Zusammenhalt

INTEGRATIONSCHANCEN VON LANGZEITARBEITSLOSEN 28 Eigene Berechnungen nach Statistik der BA

FÖRDERUNG IM RAHMEN VON ALV UND HARTZ IV 29 Eigene Berechnungen nach Statistik der BA

Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung 1 2 3 4 5 6 Das deutsche System der Arbeitslosenunterstützung Die finanziellen Auswirkungen des Wegfalls der ALHI Überblick zu und Betroffenheit von Hartz IV Die Folgen für Beschäftigung und Mittelschicht Die Folgen für die Integration Langzeitarbeitsloser Die Folgen für das Armutsrisiko 7 Die Folgen für den sozialen Zusammenhalt

EINFLUSS DER KONJUNKTUR AUF ANZAHL DER HARTZ IV-EMPFÄNGER Erwerbsfähige (15-65 Jahre) insgesamt vs. Langzeitbezieher Quelle:BA: Grundsicherung für Arbeitsuchende in Zahlen Aufust 2018 31

DAUER DES HARTZ IV-BEZUGS Quelle: IAB-Kurzbericht 4/2017 32

CHRONISCHE ERWERBSLOSIGKEIT IM LÄNDERVERGLEICH 2014

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HARTZ IV UNTER DEM ASPEKT DER BÜRGERFREUNDLICHKEIT stärkere Spaltung in Arbeitslose 1. und 2. Klasse verwaltungs- aufwändig (1,5 Mio. neue Leistungen/Jahr) 600.000 Widersprüche und 110.000 Klagen/Jahr oftmals keine Betreuung aus einer Hand komplexe Ver- antwortlichkeiten begünstigen “Schwarzer- Peter-Spiel” von Betroffenen kaum durchschaubar – Demokratiedefizit bei Wahlen 35

GESELLSCHAFTLICHES ZUGEHÖRIGKEITSGEFÜHL Quelle: IAB: Panel 36

Die erfahrbare Realität von Armut wird missverstanden. D. McGarvey MCGarvey kommt aus der Unterschicht in Glasgow Quelle: Süddeutsche Zeitung 24.9.2018

Das Sozialhilfesystem basiert auf der Annahme, dass die Drohung, erniedrigt oder gedemütigt zu werden, Menschen zu Leistungen anspornt. Aber das Gegenteil ist wahr. Armut lässt keinen Freiraum für Fehler. Sie macht etwas ganz anderes mit Menschen. Sie ziehen sich zurück. D. McGarvey

Armut bedeutet den emotionalen, seelen-verändernden Dauerstress in einem von Aggression geprägtem Umfeld zu leben, in dem jeden Moment ein gewaltsamer Übergriff von Kumpeln, Eltern, Fremden stattfinden kann. Es ist der Stress, verlassen oder enttäuscht zu werden, weil die, auf deren emotionale Stabilität man bauen möchte, selbst überfordert sind. D. McGarvey

Wer Politik für sozial Deprivierte mache, muss einsehen, dass dieser alles erstickende Stress die Ursache für Fettsucht, Rauchen, Spielen, Saufen, Drogensucht und Gewalt ist – und nicht die Folge. D. McGarvey

„Es gibt einen historischen Bruch im Vertrauen zwischen Parteien und Wählern. Der war im Zuge der Agenda 2010 das Thema Absturz aus der Arbeitslosenversicherung in Hartz IV. Jörg Schönenborn Schönenborn ist Fernsehdirektor des WDR u.a. Moderator von Wahlsendungen, ARD-Brennpunkt und Presseclub. Quelle: Kölner-Stadtanzeiger 26.9.2018

Das hat bei vielen Menschen das Gefühl aus-gelöst, ihre Lebensleistung werde nicht mehr geschätzt. Auf den ersten Blick hat das nur SPD-Wähler in die Nicht-Wählerschaft getrie-ben. Aber auch die CDU hat zwar langsamer, aber am Ende ebenfalls sehr deutlich verloren. Ich schätze, dass das fünf bis sieben Millionen Menschen den Volksparteien entfremdet hat. Jörg Schönenborn

HARTZ IV - DIE ARCHILLESFERSE DER ARBEITSMARKTPOLITIK Auffangbecken für unterschiedliche Probleme Arbeitslosenrückgang ist vorrangig durch Demografie, TZ und Arbeitsvolumen bedingt fördert Flexibilisierung und prekäre Beschäftigung Fürsorgesystem verdrängt Versicherungssystem nur geringer Einfluss von Saktions- und Aktivierungsintensität auf Langzeitbezug und Bereitschaft zu Arbeitsplatzwechsel Förderintensität ist im Versicherungssystem höher als im Hartz IV-System Bund stiehlt sich aus Verantwortung und betreibt Umverteilung zu Lasten der BeitragszahlerInnen 43

SCHLUSSFOLGERUNGEN Erwerbsbezogene Sicherung erhalten und armutsfest machen. Soziale Balance von Fördern und Fordern realisieren. Komplexität der Beratung und Vermittlung nimmt zu. Fokussierung auf Integration greift oftmals zu kurz. Individuelle ganzheitliche Unterstützung und Beratung notwendig. Soziale Stabilisierung und gesellschaftliche Teilhabe bringen bessere Erfolge. Soziale Integrationshilfen ausbauen. Bessere institutionelle Zusammenarbeit und Co-Finanzierung. Beschäftigungsfähigkeit und nachhaltige Integration fördern.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit und viel Erfolg bei der Sicherung der Notstandshilfe! Prof. Dr. Wilhelm Adamy w.adamy@netcologne.de

NACH JOBVERLUST DIREKT HARTZ IV Der Weg vom Beschäftigten zum/r Hartz IV-BezieherIn wird kürzer. Insgesamt 400.000 (2017) 46

FÖRDERN UND FORDERN IM HARTZ IV-SYSTEM EXISTENZSICHERUNG keine Rechtsansprüche auf Förderung Instrumente angelehnt an SGB III – keine Instrumente bei Niedriglohn Erweiterung um sozial flankierende Maßnahmen Betonung der Eigenverantwortung und Verhaltens- änderung deutlich schärfere Sanktionen als im SGB III und der vormaligen Sozialhilfe fast jede Arbeit ist zumutbar Mindestsicherung – keine status- /erwerbsbezogene Absicherung Existenzminimus ist an Gegenleistung gekoppelt 47

KINDERZAHL STEIGERT HARTZ IV-RISIKO 20,2 7,6 2,9 68,9 HH mit 3 oder mehr Kinder Partner-HH mit Kinder insgesamt Partner-HH ohne Kinder insgesamt Alleinerziehende mit 3 oder mehr Kinder 34,7 11,7 9,5 Angaben in Prozent Alleinerziehende insgesamt Single-HH insgesamt Haushalte insgesamt 48

MOTIVATION UND KONZESSIONSBEREITSCHAFT 49 Quelle: IAB-Kurzbericht 15/2010