Birgit Sauer, Universität Wien

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Immer noch kein Frieden in Bosnien-Herzegowina ?
Advertisements

Demokratisierung ökonomischer Verhältnisse – Ausgangs- und Einsatzpunkte einer aktuellen Notwendigkeit Track#9: Demokratie und Ökonomie Momentum12, 28.Sept.
Berg-Schlosser : VL : Vergleichende Politikwissenschaft Entwickung und Stellenwert der Vergleichenden Politikwissenschaft 1.Begriffe : Vergleichende.
IB mit t&t Wintersemester 2004/05 1 Tutorien Mo.12-14Zeljo BranovicIhne 22/E2 Mo.12-14Silke LodeIhne 22/UG2 Mo.12-14Simon SottsasOEI 301 Di.14-16Harald.
Einführung in die Internationalen Beziehungen
Einführung in die Internationalen Beziehungen
IB mit t&t Wintersemester 2004/05 1 Einführung in die Internationalen Beziehungen Internationale Beziehungen und Internationale Politik Internationale.
Einführung in die Internationalen Beziehungen
Kulturen Und Gesellschaften Asiens China - Indien - Japan
Corporate Citizenship – Teil 1
9. Jan: Klassen und Schichten
GRUNDBEGRIFFE UND GRUNDPERSPEKTIVEN INTERNATIONALER BEZIEHUNGEN
Lang lebe Leviathan Scheitern und Wiederaufbau von Staaten.
Familie zwischen Trauma und Idyll. 1Historische Entwicklung.
Modulforum „Christlicher Glaube in säkularer Gesellschaft“
BERATUNG KANN MEHR FRAUENSPEZIFISCHE BERATUNGSFORMEN ZWISCHEN LÖSUNGSORIENTIERUNG UND THERAPIE PROF. DR. SABINE SCHEFFLER ZENTRUM FÜR ANGEWANDTE PSYCHOLOGIE.
Grundwissen: Rousseau Direkte Demokratie
Grundkurs praktische Philosophie 10
Religion und Politik.
Theorie Was ist das? Gedankliches möglichst konsistentes Bild oder Modell der (sozialen, politischen) Realität System beschreibender und erklärender Aussage.
Sozialpolitik.
„Politische Bildung“ vs. „Demokratiepädagogik“
The Crisis of Democracy
DAS POLITISCHE DENKEN DER AUFKLÄRUNG:
Von der „Aussen“- zur Weltinnenpolitik: Souveränität und Direkte Demokratie angesichts der transnationalen Transformation Von Andreas Gross, Politikwissenschafter,
VO C3 H. Gottweis - WiSe 2oo5/o6: (2) Entwicklung des Staates im Interkulturellen Vergleich VO C3: Einführung in die Vergleichende Politikwissenschaft.
Annahmen historisch-materialistischer Theorie(n)
Referatsgruppe Dr. Eva Kreisky Geschlecht als politische und politikwissenschaftliche Kategorie erschienen in: Rosenberger Sieglinde K., Sauer.
Methodische Postulate der Frauen- und Geschlechterforschung
Übersicht: Gesellschaft, Kultur, Institution, Organisation
Kapitel 10. Feminismus Begriffliches Ideologische Grundlagen
Einleitung Politische Ideen und ihre Träger Vorlesung WS 2000/2001 Institut für Politikwissenschaft Universität Bern, Andreas Ladner.
2. Kapitel: Vom Stamm zum Staat in einer globalisierten Umwelt B: Die Entwicklungsstadien der staatlichen Gemeinschaft.
Stadt Weilburg Vielfalt tut gut – Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und kompetent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus.
Die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens Menschen leben in Staaten.
Staatstheorie der Aufklärung 1:
Bewegungen und Staat im globalen Raum – Ulrich Brand – Berlin Handlungsspielräume für emanzipative Bewegungen, alternative Konzepte und Staat.
Vielfalt tut gut – Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und kompetent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus Von 2007 bis.
Theorien des Politischen
Theorie ist ein Netz, das ausgeworfen wird, um Realität einzufangen
Transformationsforschung: Neoinstitutionalismus
Aktualität und Geschichte von politischer Theorie und Ideengeschichte 01. April 2008.
Von umfassender zu nachhaltiger Sicherheit?
1 Prof. Dr. Hans J. Lietzmann Jean-Monnet-Professor for European Politcs Europastudien 3. Theoretische Perspektiven Jawaharlal Nehru University / Neu-Delhi.
Theorie des Neoliberalismus
Referat „Soziale Wandel“
Der Wohlfahrtsstaat im Zeitalter der permanenten Austerität Festvortrag an den Bremer Universitäts- Gesprächen Prof. Dr. Klaus Armingeon Institut für Politikwissenschaft.
ZUKUNFTSTAG NIEDERÖSTERREICH Zukunft. Bürgerbeteiligung. Neue Wege in der Kommunikation mit den Bürgern BADEN, 7. NOVEMBER 2014 Dr. Serge Embacher, Berlin.
Theorien Internationaler Politik (3): Theorien Internationaler Politischer Ökonomie VO Internationale Politik (Prof. Brand), was bedeutet Internationale.
Dr. Petra Bendel Vorlesung: Einführung in die Politische Wissenschaft Vorlesungsteil Internationale Politik II: Empirischer.
Modulforum „Christlicher Glaube in säkularer Gesellschaft“
Grundlagen der Internationalen Beziehungen
VO C3 H. Gottweis - WiSe 2oo7/o8: (2) Staatsentwicklung VO C3: Einführung in die Vergleichende Politikwissenschaft 2. Stunde am 25. Oktober.
Gastprofessor Dr. Árpád v. Klimó
Berg-Schlosser : VL : VergleichendePolitikwissenschaft Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung Neben der Demokratieforschung bezieht sich die.
Grundkurs praktische Philosophie 20. Dezember 2004 Politische Freiheit
VO G6 H. Gottweis - SoSe 2oo8: (4) Klassische Policy-Modelle VO G6: Einführung in die Politikfeldanalyse 4. Stunde am 17. April 2008: Klassische.
SE: Sicherheitspolitik nach dem Ost-West-Konflikt
Geschlecht als politikwissenschaftliche Kategorie
Die Zukunft der Familie Nach „Soziale Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland“ S
Konfliktforschung I: Kriegsursachen im historischen Kontext
Kann Politik ehrlich sein? D‘ Sunne schiint für alli Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
SCHULFREIHEIT IN DEN NIEDERLANDEN Haben Dezentralität und Eigenverantwortung einen Mehrwert? Was können wir von einander lernen? FDP Schulpolitischer Kongress.
Theologie der Verbände
Oliver W. Lembcke (HSU-HH) PS-1: Neo-Institutionalismus Ansätze und theoretische Zugänge Vorlesung im Wintertrimester 1/2012 Neo-Institutionalismus Ansätze.
Verwaltungslehre Ist Bürokratie eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Kapitalismus?
 Verfassungsgesetze und Bestimmungen des Bundesrechtes › Gesetze › Einzelne Bestimmungen › Staatsverträge  Beschluss 1920  Unterbrechung
Ullrich Beck/ Individualisierungstheorie Von: Lukas Autor und Julius Ullrich.
Moderne Gesellschaften II: Funktionen, Leistungen, Probleme Dr. Andreas Weber.
Zentrale Themen, Fragestellungen, Methoden und Vorgehensweisen der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft Die sozialwissenschaftliche Perspektive.
 Präsentation transkript:

Birgit Sauer, Universität Wien 25.11.2009 Staat und Governance Birgit Sauer, Universität Wien 25.11.2009

Was ist der Staat? Ordnung der Gesellschaft, des Zusammenlebens Ordnung braucht „Unter-Ordnung“ = Herrschaft? Garantie von Sicherheit Herrschaft durch einen Herrscher oder durch ein System von Herrschaft

Was ist der Staat? Herrscher: Gott => religiöse, christliche Begründung von Herrschaft Christliche Begründung auch von weltlicher Herrschaft (mittelalterliche Staatstheorie) Herrscher: Weltliche Person „L‘état c‘est moi“, Louis XIV „moderner Staatsgedanke“: Herrschaft durch Institutionen („subjektlose Gewalt“, Heide Gerstenberger)

Was ist der Staat? Subjektlose Herrschaft: Staatsgewalt umfasst Institutionen, Bürokratie, Geld, Militär, Polizei, Symbole => Staatsapparat, Dreigliedriger Staatsbegriff: Territorialität Staatsvolk Staatsgewalt (Potestas, violentia) Staat = legitime Form der Herrschaftsausübung

Staat als Zentralkategorie der Politikwissenschaft Staat als Gefüge von Institutionen, das verbindliche Entscheidungen zur Gestaltung gesellschaftlicher Ordnung trifft und durchsetzt (Normen) Demokratischer Staat = Volksherrschaft Politik = Staat? (= Normgenese und Normdurchsetzung)

Staat als Zentralkategorie der Politikwissenschaft Mittel staatlicher Herrschaftsausübung: Gesetze Bürokratie Polizei Militär Geld Physisches Gewaltmonopol Souveränität Citizenship (Rechte und Zugehörigkeit)

Staatsanalyse - Staatstheorie Staatsanalyse untersucht Institutionen, Politikprozesse, Normen => Staatstätigkeitsforschung, Policy-Forschung Staatstheorie sucht nach Begründungen und Erklärungen für den Staat/Staatlichkeit: Warum gibt es/braucht man überhaupt einen Staat? Historische und systematische Erklärungen

Staatsbegründung Theorien des Gesellschaftsvertrags (Hobbes, Locke) – Denkfigur Freiwillige Unterwerfung unter den Leviathan, das staatliche Gewaltmonopol Sicherheit (des Lebens, des Eigentums) als Zweck des Staates, als Legitimation des Staates Säkulare Begründung des Staates

Staatsbegründung Begründung „subjektloser Herrschaft“ (Heide Gerstenberger) – im Unterschied zu personaler feudaler Herrschaft Feministische Kritik: Staat als sexueller Unterwerfungsvertrag, als persönliche Herrschaft (in der Familie) (Carole Pateman)

Konjunkturen politischer und politikwissenschaftlicher Staatsdebatte 1970er Jahre: Sozialdemokratischer Politiktyp: Expansion staatlicher Regulierung Verzicht auf ein politikwissenschaftliches Staatskonzept => politisches System, Policy-Prozess, politisches Verhalten Gefahr: Verlust gesamtgesellschaftlicher, herrschaftskritischer Orientierung; Verlust der Weber‘schen Sicht

Konjunkturen politischer und politikwisenschaftlicher Staatsanalyse Seit Mitte 1980er Jahre: „Bringing the state back in“ (Evans/Rueschemeyer/Skocpol 1985) Staatstheoretische Renaissance (Voigt) Politische Verabschiedung des Staates unter neoliberalen Vorzeichen: Erosion? Zerfaserung? Rückkehr des Staates: Post-Neoliberalismus?

Dimensionen der Staatsanalyse Genese und historische Entwicklung Territorialstaat/Gewaltstaat (16. Jhd. ff)=> Westfälischer Staat Rechtsstaat, Nationalstaat (19. Jhd. ff) Liberaler Staat Sozialstaat (20. Jhd.)=> Regulatorischer Staat neoliberaler Staat=> Postmoderner Staat

Dimensionen der Staatsanalyse Funktionen/Aufgaben des Staates: Grenzen sichern (Souveränität nach außen) Eigentum sichern Allgemeinwohl herstellen Umverteilung Gleichstellung Verhältnis von Staat und Gesellschaft: Warum gibt es/braucht es den Staat? => zentrale Frage der Staatstheorie

Wie lässt sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft erklären? Politikwissenschaftliche Ansätze Institutionalismus/Neo-Institutionalismus: Autonomie des Staates (Theda Skocpol) (Neo-)Marxismus: Antonio Gramsci, Nicos Poulantzas, Bob Jessop Feminismus und Geschlechterforschung

Neo-Institutionalismus Bringing the State Back In (Theda Skocpol) Abgrenzung vom Behavioralismus und Strukturfunktionalismus Weberianische Staatssicht (Herrschaft, Gewaltmonopol) Neuer Institutionenbegriff (staatliche Institutionen sind nicht gegeben, sondern entstehen in Kräftefeld) These: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Gesellschaft und staatlichen Akteuren/Institutionen

Neo-Institutionalismus Aber: Keine Determination staatlicher Institutionen durch Gesellschaft Staat als autonomer Akteur: Politics does matter Staat als Regierung (enger Staatsbegriff) Frage nach Staatskapazitäten: Regierbarkeit? Vergleichende Staatsanalysen Historische Staatsanalysen

Staat als Herrschaftsverhältnis, Neo-Marxismus Keine kohärente Staatstheorie von Marx und Engels Essential: Totalität sozialer Verhältnisse. Zusammenhang zwischen spezifischer Staatsform (bürgerlicher Staat) und sozialen, ökonomischen Verhältnissen (Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften) Funktion des bürgerlichen Staates als „besonderte“ Institution: Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Mehrwerts managen

Neo-Marxismus Staat als Instrument der herrschenden Klasse, als „geschäftsführender Ausschuss“ des Kapitals Funktion des bürgerlich-kapitalistischen Staates: Aufrechterhaltung kapitalistischer Verhältnisse Johannes Agnoli: Aufgabe des Staates ist Bündelung der Interessen der fragmentierten Kapitalisten

Neo-Marxismus Staat als Funktion ökonomischer Strukturen Staat als Selektionsmechanismus, als „Filtersystem“ (Claus Offe 1972), das Interessen privilegiert oder negiert Offes Demokratiekritik: Demokratisches Prozedere dementiert den Klassencharakter des Staates

Neo-Marxismus Antonio Gramsci (1881-1937): Erweiterter Staatsbegriff/integraler Staat: Staat = Hegemonie gepanzert mit Zwang Zivilgesellschaft, politische Gesellschaft, Staat im engeren Sinne Ausarbeitung von Hegemonie (= common sense) in der Zivilgesellschaft Molekulare Prozesse von Staatlichkeit

Neo-Marxismus Nicos Poulantzas: Staat ist Verdichtung eines Kräfteverhältnisses = Staat ist die Arena für soziale Dynamiken, Interessen Staatlicher Verdichtungsprozess ist stets instabil, umkämpfte Kompromisse Staat partiell autonom von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, weil widersprüchlich

Staat als Gouvernementalität - Foucault Michel Foucault (1926-1984): Staatsphobie Mikrophysik der Macht verortet Macht NICHT NUR im Staatsapparat Staat ist keine besonderte Form, sondern eine spezifische Machtform Herausbildung des modernen Staates als spezifische Machtform

Staat als Gouvernementalität: Foucault Moderner Staat ist neue Form der Macht – jenseits des Staatsapparates (z.B. Ökonomie, z.B. des Ehemanns über Ehefrau) Vielfältige machtvolle Kräfteverhältnisse, die sich im Staatsapparat kristallisieren Staatsapparat als Kodifizierungsinstanz von Machtverhältnisse Wichtig: Staatsdiskurse, die „wahr-sprechen“

Staat als Gouvernementalität: Foucault Gouvernementalität: moderner Staat ist eine neue Regierungsform=> Selbstregieren, Selbsttechnologie Staat als Praxis der Subjektkonstitution Regieren durch Freiheit

Patriarchatskritik – männlicher Staat Seit den 1980er Jahren Vergeschlechtlichung des vermeintlich neutralen Staates (engendering) Der Staat hat ein Geschlecht, er ist nicht neutral Staat als Männerbund: positionale Männlichkeit substantielle/systemische Männlichkeit

Transformation des Staates Erosion und/oder Ausfransen des Staates? Ausfransen des Staates: Auseinandersentwickeln von Territorialität und Gewalt Vom Keynesianischen Wohlfahrtsstaat (Fordismus) zum Schumpeterianischen Workfare-Staat (Post-Fordismus) (Bob Jessop) Uploading – downloading – lateral loading – offloading (Banazack/Beckwith/Rucht) Governance versus Government?

Governance Neuartige Entscheidungsmuster auf lokaler (Runde Tische), nationaler und globaler Ebene (UN-Weltkonferenzen, Klimakonferenz, Frauenkonferenz) Re-Skalierung von Entscheidungskompetenz Nationalstaaten sind nicht mehr dominante politische Akteure, sie verloren das Monopol auf Problemdefinition und Problementscheidung

Governance Transformation staatlicher Ordnungs- und Entscheidungsmuster: Weniger Hierarchie, sondern: Netzwerke (Einbezug von NGOs) Gemeinschaften (Wissen) Wettbewerb/Markt Neue Ordnungsmechanismen: Verhandeln, Dialog, Bargaining, Benchmarking, Best-Practice

Governance Public-Private-Partnership Governacne als Konzept, das auf Wandel des Staates hinweist Problem von Governance: Alte Herrschaftsformen in neuem Gewand? Governance als „internationalisierter“, neoliberaler Staat Governance als politische Regulation neo-liberaler Verhältnisse Zumindest: Governance Umarbeitung von Staatlichkeit unter neoliberalem Vorzeichen Gefahr der Informalisierung von Politik