Multimorbidität in der Geriatrie – und ihre Folgen Dr. med. Harlacher Klinik für Geriatrie Medizinisches Zentrum Kreis Aachen 52146 Würselen 26.April 2006
Einige Daten ..... Zunehmende Lebenserwartung 1,18 Kinder pro Paar Ca. 250 000 Menschen > 90 Jahre 1,3 Mill. Pflegebedürftige Ca. 35 – 40 % Single-Haushalte
Bevölkerungsentwicklung im Kreis Aachen Jahr Gesamt 60-70 J. Anteil in % > 70 Jahre 1995 301.253 34.300 11.39 30.000 9.96 2000 305.579 36.820 12.05 34.455 11.28 2010 309.489 33.088 10.69 41.830 13.51 2015 308.283 34.385 11.15 42.760 13.87
Erkrankungen im Alter Alterungsprozess vs. Krankheitsprozess Individuelles Altern Chronizität Multimorbidität Alter kein alleiniges Kriterium
Geriatrie – ein Weg ??? Nicht Krankheits- sondern Kranken orientiert Funktions- und Ressourcen orientiert Fachübergreifend (Interdisziplinarität) Akutmedizin und Rehabilitation Multiprofessionelles Team Einbezug von Angehörigen, Hausärzten, ambulanten Diensten Betreuung am Lebensende
Dimensionen geriatrischer Medizin Physiologische Altersveränderungen Veränderte Normwerte Veränderte Pharmkokinetik /-dynamik Atypische Symptomatik /Verlauf/ Multimorbidität / Chronizität Reduzierte Adaptationsfähigkeit Kognitive Einschränkung/ fehlende Einwilligungsfähigkeit Bewertung diagnostischer / therapeutischer Maßnahmen Funktionell - rehabilitativer Ansatz Kontinuität der Versorgung / Angehörigenarbeit
Clinical Practise Guidelines and Quality of Care for Older Patients With Multiple Comorbid Diseases Boyld CM et al., JAMA 2005,Vol294; 6,716-724 79-jährige Patientin mit COPD, Diabetes mellitus, Osteo-porose, art. Hypertonie, Polyarthrosen Therapieplan nach US –Leitlinien 12 Medikamente in 19 Dosierungen zu 5 Tageszeiten 406 $ Therapiekosten / Monat z.T. widersprechende Empfehlungen, diverse Wechsel- wirkungen
Grundsätze der Pharmakotherapie Wenige Arzneimittel Niedrige Einstiegsdosis Langsame Aufdosierung Unspezifische Zeichen der Überdosierung Nicht zu schnell umsetzen Mangelnde Resorption bedenken (?) Compliance überprüfen Indikation regelmäßig überdenken
Therapieziele im Alter Selbständigkeit Vertraute Umgebung Schmerzfreiheit Lebensqualität Funktionalität nicht Mortalität
ICIDH-Klassifikation ( WHO 1980) Disease Impairment Disability Handicap Ätiologie, Pathologie Veränderungen auf Organebene Einschränkungen der Funktion Folgen im sozialen Umfeld
Krankheitsfolgen: Beispiel Schlaganfall Disease Impairment Disability Handicap Ischämie, Blutung Lähmung, Aphasie, Ataxie Antrieb, Kompen-sation, Depression, Isolation Soziale Folgen
Bedeutung des Geriatrischen Assessment Entdeckung funktionaler Defizite Strukturierung der Behandlungsplanung Integration krankheitsspezifischer und funktionaler Behandlungsansätze Entlassungs-/ Versorgungsplanung Hilfsmittelversorgung
Assessmentinstrumente Barthel-Index Folstein-Test (MMST) SKT DemTect Uhrentest GDS Timed Up & Go Mobilitätstest nach Tinetti Handgrip - Test
Stürze – Screening Erkennen von Sehstörungen Muskelschwächen Arthrosen Apoplex, Parkinson Demenz, Depression Schwindel Polyneuropathien Kardiale Erkrankungen inadäquate Medikation Hypoglykämie Dranginkontinenz Stolperfallen Rutschende Bodenbeläge Schlechte Beleuchtung Mangelnde Haltemöglichkeiten Schuhwerk Glatte Böden
Stürze - Prävention Verbesserung von Gangsicherheit Gleichgewichtsempfinden Muskelkraft Evtl. Aufstehtraining Adäquate Gehhilfen vermitteln Hüftprotektoren Osteoporosetherapie Sicherheit im Alltag erhöhen: Griffe, Beleuchtung.... Weniger Medikamente
Demenz Die Herausforderung der Zukunft ......
Ursachen einer Demenz Alzheimer-Krankheit (ca. 50%) • Durchblutungsstörung (Schlaganfall) (ca. 10%) • Mischformen von Alzheimer-Krankheit und Durchblutungsstörung (ca. 15%) • Lewy-Körperchen-Demenz (ca. 15%) • Parkinson-Krankheit (ca. 6%) • Vitamin- und Hormonmangelzustände (< 10%)
Demenz – Symptome und Verlauf Gedächtnis-, Sprach- und Orientierungsstörungen, Veränderung von Stimmung, Verhalten und Persönlichkeit, Verlust der Alltagsfunktionen Verlauf – schleichend beginnend, langsam fortschreitend, variabel – Einteilung in drei Stadien (leicht, mittel, schwer) Ursachen – in den meisten Fällen unbekannt – selten vererbt Risikofaktoren – Alter, Geschlecht, ApoE4, Bildung
Demenz: Kognitive Schere im Alter Kristaline Intelligenz : gut erhalten sprachgebunden Fluide Intelligenz: aktuelle Probleme angehend Handlungsplanung
Welches Gedächtnis leidet ???? Kurzzeitgedächtnis: Worte, Zahlen nachsprechen, bleibt lange erhalten Arbeitgedächtnis: erstellt Verknüpfungen, damit erhöhte Wahrscheinlichkeit der Speicherung, Voraussetzung für Lernen; Zahlen rückwärts aufzählen Zahlen 1 – 10, Alphabet A – J; aber: 1-A, 2-B...... Langzeitgedächtnis
Mild Cognitive Impairment (MCI) Subjektive Gedächtniseinbuße Konverterrate in Alzheimer Demenz von 12 –16% /Jahr DD: Depression: deutlicher speed Abfall, lernen schlechter, merken sich erste und letzte Worte Demenz: Power und speed Abfall, kein Lernen, merken sich letzte Worte
Diagnostik bei Demenz TSH, Vit. B12, TPHA (Apo E) Liquor: (V.a. entz. O. neoplastische Veränderungen) CT, MRT: Hippocampus Atrophie (SPECT, PET: Minderperf. korreliert nicht !) (EEG: in Spätstadien) Beta-Amyloid i.Liquor: erniedrigt auch bei LE, Parkinson, Lewy-Body-Demenz Tau-Protein: erhöht auch bei rascher Hirnschädigung (SHT, Apo, Kreutzfeld-Jakob)
Das frühe Stadium....... Gedächtnisstörung • Sprachstörung • Wahrnehmungsstörung • Störung von Handlungsabläufen • Störung des abstrakten Denkens • Verringerte Urteilskraft Alltagsinkompetenz
Erleben und Empfinden Persönlichkeitsveränderungen: grundlegende Eigenschaften bleiben aber erhalten. • Zeitstruktur: Für den Betroffenen können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander übergehen. • Abhängigkeit und Bindung: Angst vor Verlassenheit und eine erneute Phase der Abhängigkeit Identität und Erwachsensein: Wichtige Geschichten der Person verschwinden, eigene Identität verändert • Regression – Zurückschreiten
Autofahren – wie lange ???? Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und der eigenen Person Übersehen von Verkehrszeichen Verlangsamtes Reaktionsvermögen Verletzen der Regeln der Verkehrsordnung Schwierigkeiten, bekannte Ziele anzusteuern
Das mittlere Stadium..... Problem: Die Betroffenen verstehen weniger, haben selbst einen eingeschränkten Wortschatz • Suchhaltung: Die Botschaften entschlüsseln, mit eigenen Worten ergänzen (oft findet man Begründungen aus der Lebensgeschichte) • Wertschätzung: Gefühle ansprechen und bestätigen („Spiegeln“), günstig ist ein simultanes, gemeinsames Handeln • Der Ton macht die Musik - Kranke reagieren eher auf das „Wie“ (weniger auf das „Was“) Keine „warum-weshalb-wieso-wozu“-Fragen • Vertrautheit nutzen: An gemeinsame Erinnerungen anknüpfen (Fotos usw.)
Unruhe und Laufzwang: Bewegung muss sein...!!!!! Ständige Bewegung: „heimgehen“ oder „rausgehen“, Gefühle der Fremdheit führen oft zur „Flucht“ • Bewegung erzeugt Wohlfühlhormone und bessert die Stimmung • Sichere Laufwege einüben, Tanzen geht oft erstaunlich gut • Verschlossenheit meiden, Türen soweit möglich offen lassen, manchmal kurzes „Einsperren“ unumgänglich! Adressen in die Kleidung nähen, Zettel in die Taschen stecken. Immer kleine Geldbeträge mitgeben, evtl. Umfeld informieren • Sich darauf einstellen: Weglaufen kommt vor
Das späte Stadium ...... „Sisyphos-Arbeit“ der Pflege! • Schuldgefühle, es kann zur Rollenumkehr (Eltern werden zu Kindern) kommen • Trauern kann eine gesunde Reaktion sein • Den Kranken gewähren lassen, ihm behutsam zur Seite stehen • Schuldgefühle von früher können zur Überfürsorge führen Druckgeschwüre • Versteifung der Gelenke • Vermehrt auftretende Infektionen • Nahrungsaufnahme erschwert – Magensonde? • Entscheidungsfindung über Krankenhauseinweisung und lebensverlängernde Maßnahmen
Demenz – Diagnose und Therapie MMST nach Folstein SKT nach Erzigkeit Demtect-Test Basistherapie (Herzkreislauf, Hochdruck, Diabetes...) Schmerztherapie Neuroleptika Antidepressiva Antidementiva Neue medikamentöse Ansätze
Das Geriatrische Team besteht aus: Pflegekräften · Physio- / Ergotherapeuten · Logopäden · Sozialarbeitern · Seelsorgern · Ärzten unterschiedlicher Fachrichtung
Pflegedienst Aktivierende Pflege Anleiten Überwachen Unterstützen Durchführen
Ergotherapie Ziel: Körperliche und geistige Selbständigkeit Motorisch-funktionelle Therapie Wasch-/Anziehtraining Hirnleistungstraining Kreativgruppen Kochgruppen Hilfsmittelberatung
Physiotherapie Erhaltung von Mobilität und Sicherheit Einzel-/Gruppentherapie Gangschule Ergometertraining Massagen Bäder/Bewegungsbad Hilfsmittelverordnung
Logopädie Behandlung von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen Förderung von Lesen und schreiben Orofaciale Therapie Abklärung von Schluckstörungen Angehörigenberatung
Sozialdienst Beratung und Betreuung Vollmachten, Verfügungen Angebote der Altenhilfe Fragen der Pflegeversicherung Ambulante Rehabilitation Krankheitsbewältigung Familiäre Probleme
Seelsorge Begleitung von Kranken und ihren Angehörigen Beratung für Trauernde Gottesdienste Gespräche und Begleitung von Mitarbeitern
Ärztlicher Dienst Innere Medizin Klinische Geriatrie Neurologie/Psychiatrie Physikalische Therapie Rehabilitationswesen Naturheilkunde Sportmedizin