Ein Fall von multifokaler motorischer Neuropathie diagnostiziert als spinale Muskelatrophie vor 17 Jahren: Elektrophysiologische und klinische Befunde sowie Ansprechen auf intravenöse Immunglobuline P. Binz, U. Hofstadt-van Oy Abteilung für Neurologie Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Trier Fallbericht: Die multifokale motorische Neuropathie (MMN) ist eine seltene autoimmun vermittelte, demyelinisierende Neuropathie mit persistierenden Leitungsblöcken motorischer Nerven. Die erste Kasuistiken gehen auf Parry und Clarke [1988] sowie Pestronk at al. [1988] zurück. Die klinische Unterscheidung von der „lower motoneuron-Variante“ der Amyotrophen Lateralsklerose ist oft schwierig, aber wegen der potentiell günstigen Behandlungsmöglichkeit der MMN mit i.v. Immunglobulinen (van den Berg 1998) entscheidend. Klinisch finden sich bei der MMN meist asymmetrisch beginnende Paresen in distaler Betonung beginnend an den Armen, oft generalisiert Faszikulationen und allenfalls milde sensible Defizite. Diagnostisch hilfreich ist, wie auch dieser Fall zeigt, der elektroneurographische Nachweis motorischer Leitungsblöcke, Fälle ohne nachweisbare Leitungsblöcke sind beschrieben (Pakiam und Parry 1998). Ein erhöhter GM1-IgM Antikörpertiter im Serum ist bei bis zu 80 % nachweisbar (Nobile-Orazio 2001), aber wenig spezifisch. Einführung: Eine heute 56-jährige Patientin entwickelte vor achtzehn Jahren eine langsam progrediente Parese zunächst des rechten Unterarmes und der Hand ohne wesentliche Atrophien. Neun Jahre später trat auch eine Schwäche des linken Armes ein, seit 2002 mit langsam progredienten proximalen Paresen beider Arme. Anamnestisch ging den eigentlichen Paresen ein auf den Verlauf der peripheren Nerven zu projizierender Schmerz voraus, zuletzt am lateralen linken Oberschenkel. Vor siebzehn Jahren wurde aufgrund der Klinik und wegen elektromyographisch nachweisbarer Denervierung und chronisch neurogenem Umbau in distaler Distribution am rechten Arm ohne Leitungsblöcke die Diagnose einer spinalen Muskelatrophie (SMA) gestellt. Eine proximale Stimulation peripherer Nerven wurde nicht durchgeführt. Die Patientin wurde uns zur Abklärung zugewiesen. Klinisch fanden sich distal betonte asymmetrische atrophe Paresen der Arme (siehe Abb. 1) sowie gering auch des proximalen rechten Beines bei intakter Sensibilität und wenig lebhaften oder fehlenden Muskeleigenreflexen. Elektroneurographisch fanden sich bei proximaler Hochvolt-Stimulation drei partielle Leitungsblöcke dreier Armnerven beider Arme (siehe Beispiel in Abb. 2) sowie ein proximaler Leitungsblock des N.tibialis rechts, der mit proximaler Stimulation des N.ischiadicus mit einer Nadelelektrode darstellbar war (Abb. 3). Im Vergleich zu den Voruntersuchungen fand sich eine Amplitudenabnahme der motorischen Summenaktionspotentiale. Elektromyographisch fand sich an den Handmuskeln anhaltende Zeichen der Denervierung bei chronisch neurogenem Umbau auch proximaler Armmuskeln wie auch proximaler und distaler Beinmuskeln. Die Verdachtsdiagnose einer multifokalen motorischen Neuropathie wurde durch einen deutlich erhöhten Titer an GM1-IgM-Antikörpern (35%) gestützt. Ein Therapieversuch mit 5 x 0,2 mg/kg KG i.v. Immunglobulin blieb ohne Effekt. Dieser stellte sich erst nach einer Gabe von 5 x 0,4 g/kg ein, die zur Zeit in dreiwöchigen Abständen wiederholt wird. Unter dieser Therapie zeigen sich im Verlauf der letzten drei Monate bereits eine funktionell relevante Verbesserung der Kraft und Feinmotorik beider Hände. Untersuchungsbefunde: Diskussion: Multifokale Paresen mit progredienten Atrophien und Faszikulationen führen meistens zu der Diagnose einer Motoneuronerkrankung, bei unserem Fall zu der Annahme einer spinalen Muskelatrophie. Dabei sollte, v.a. hinsichtlich der möglichen Therapieoptionen, auch an die multifokale motorische Neuropathie gedacht werden, besonders wenn das motorische Defizit dem Innervationsmuster peripherer Nerven entspricht oder Paresen anfangs ohne wesentliche Atrophie auftreten. Elektrophysiologische Untersuchungen mit proximaler (Hochvolt-) Stimulation motorischer Nerven zum Nachweis von Leitungsblöcken sind für die Diagnose hilfreich und können auch bei langer Anamnese zu einer diagnostischen Neubewertung führen. Bei dem geschilderten Fall war eine Therapie mit i.v. Immunglobulinen trotz fortgeschrittener Muskelatrophie erfolgreich. Literatur: Parry GJ, Clarke S: Multifocal acquired demyelinating neuropathy masquerading as motor neuron disease. Muscle Nerve 11: 103 – 107 (1988) Pestronk A, Cornblath DR, Ilyas AA, Baba H; Quarles RH, Griffin JW, Alderson K, Adams RN: A treatable multifocal motor neuropathy with antibodies to GM1 ganglioside. Ann Neurol 24: (1988) Nobile-Orazo E: Multifocal motor neuropathy. J Neuroimmunol 115: 4 – 18 (2001) Pakiam AS, Parry GJ: Multifokal motor neuropathy without overt conduction block. Muscle Nerve 21: 243 – 245 (1998) van den Berg LH, Franssen H, Wokke JHJ: The longterm effect of intravenous immunoglobulin treatment in multifocal motor neuropathy. Brain 121: 421 – 428 (1998) Abb. 1: atrophe Paresen der Hände Abb. 3: partieller Leitungsblock des N.tibialis re. (Nadelstimulation des N.ischiadicus gluteal, Hochvoltstimulation über LWK1) Abb. 2: partieller Leitungsblock des N. medianus li. zwischen Erb und Axilla (Hochvoltstimulation über Erb und HWK7)