Rechtssoziologie I Vorlesungen vom 14. und 21. März 2012

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 Präsentation transkript:

Rechtssoziologie I Vorlesungen vom 14. und 21. März 2012 Prof. Dr. Lukas Gschwend Universität Zürich Frühjahrssemester 2012

A. Theoretische Rechtssoziologie: Einführung 2 Anthropologische Vorbemerkung: Der Mensch als animal sociale 1.1 Ideengeschichtliche Grundlagen Aristoteles (Antike) Thomas von Aquin (13. Jh.) Hugo Grotius / Samuel Pufendorf (17. Jh.) Thomas Hobbes (17. Jh.) 1.2 Homo oeconomicus - Adam Smith (1723–1790) / Thomas Malthus (1766–1834) Egoismus – Nutzenoptimierung – Altruismus

A. Theoretische Rechtssoziologie: Einführung 3 1.3 Sozialdarwinistische und biologistische Deutung des Menschen Charles Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life survival of the fittest, 1859 Rezeption der Evolutionstheorie durch die Sozialwissenschaften Ethologie des 20. Jh.: Konrad Lorenz Behaviorismus (Sinner und Watson) nach 1950 1.4 Der Mensch als lernfähiges soziales Wesen Instinkt versus Entscheidungsfreiheit Lernprozess statt Instinkt biologische Determinanten und soziale Prägung Menschen brauchen soziale Interaktion, um leben zu können

A. Rechtssoziologische Theorien: Einführung 4 1.5 Homo sociologicus Ralf Dahrendorf, Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (1958) Der homo sociologicus als die Gesamtheit seiner sozialen Rollen, die ihrerseits von Normen, Erwartungen und Sanktionen geprägt wird Dimensionen sozialen Verhaltens Für die Rechtssoziologie lassen sich folgende theoretischen Ansätze der Soziologie fruchtbar machen: a) Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze b) Norm- und rollentheoretische Ansätze c) Theorien sozialer Ungleichheit

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 5 d) Institutionstheoretische Ansätze e) Systemtheoretische Ansätze f) Konflikttheoretische Ansätze 3. Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 3.1 Max Webers Theorie des sozialen Handelns Menschen, die in einer Gesellschaft leben, berücksichtigen bei ihren Handlungen die Existenz und die potentielle Reaktion der anderen Menschen. Soziales Handeln orientiert sich stets am vergangenen, gegenwärtigen oder künftig zu erwartenden Verhalten von Drittpersonen. Soziales Handeln ist stets sinnhaft und folgt gewissen Regeln

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 6 Soziales Verhalten folgt gewissen Bestimmungsgründen Diese lassen sich nach folgenden Idealtypen strukturieren: zweckrationale wertrationale affektuelle traditionale Soweit das soziale Handeln affektuell und traditional bestimmt ist, ist es Teil des Vergemeinschaftungsprozesses der Bezugsgruppe. Soweit das soziale Handeln zweck- und wertrational bedingt ist und dem Interessenausgleich dient, ist es Ausdruck des Vergesellschaftungsprozesses der Bezugsgruppe. Juristische Relevanz zweckrationaler Deutung sozialen Verhaltens

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 7 Juristische Relevanz wertrationaler Deutung sozialen Verhaltens (Bsp. Naturrecht) Soziales Verhalten ist komplex. Widersprüche zwischen idealtypischen Bestimmungsgründen sind durchaus möglich. 3.2 Die Struktur sozialen Handelns gemäss Vilfredo Pareto Der italienische Soziologe Vilfredo Pareto (1848–1923) geht im Gegensatz zu Max Weber davon aus, dass das soziale Handeln der Menschen über eine irrationale Struktur verfügt. Soziale Handlungen sind von subjektiven Nützlichkeitserwägungen bestimmt, hauptsächlich von nicht-ökonomischen Faktoren bedingt und folgen keiner Logik. Nicht-logische, sozial bezogene Handlungen weisen keine Identität zwischen subjektiver Zielsetzung und den objektiven Möglichkeiten auf.

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 8 Der moderne Mensch versucht sein nicht-logisches Verhalten zu rationalisieren. Der Ursprung der nicht-logischen sozialen Handlung liegt in der menschlichen Gefühlswelt. Im Gegensatz zur Psychologie hat die Soziologie diesen, die motivationale Struktur des Handelns bestimmenden Einfluss des Gefühlskomplexes soweit zu untersuchen, als er sozial wirksam wird. Residuen = Gefühlsmanifestationen, die im sozialen Leben wirksam werden. Derivation = bewusste und verbale Rechtfertigung von Residuen, im Bestreben diese als logisch erscheinen zu lassen. Elitetheorie

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 9 Inwiefern lässt sich Paretos Theorie des sozialen Handelns für das Recht nutzbar machen? Recht als Derivat Recht als elitäres Machtinstrument Recht als Kommunikationsinstrument der sozialen Steuerung 3.3 Lerntheorien Lerntheorien erklären weniger die Motive sozialen Handelns als die Ursachen dafür, dass sich der Mensch nach bestimmten Regeln verhält. Verhalten ist in erster Linie erlernte Reaktion. Erfolg wirkt verstärkend, Misserfolg führt zu Resignation, Frustration und/oder Aggression (Frustrations-Aggressionsthese)

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 10 Problem behavioristischer Lerntheorien Der Mensch funktioniert in seinen Entscheidungen komplex, u. a. deshalb, weil ihm seine Lernerfahrung ein komplexes Reizbild vermittelt. Lerntheorien sind rechtssoziologisch relevant, weil externe Verhaltenssteuerung durch Belohnung und Strafe geschieht. 3.4 Austauschtheorien Menschen lassen sich durch den Austausch von Gegenständen und Handlungen motivieren. „Do ut des“ als sozialpsychologisches und juristisches Prinzip Rechtssoziologische Anwendbarkeit: Vertragswesen (Konsensualvertrag, Innominatkontrakte) Rollenteilung und Organisation in der Gesellschaft Reziprozität und Äquivalenz

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 11 3.5 Die allgemeine Handlungstheorie von Talcott Parsons Talcott Parsons (1902–1979), Soziologieprofessor in Harvard, erweiterte die Handlungstheorie Max Webers, indem er das Individuum stets in seiner Einbindung in soziale Systeme betrachtet. Menschliches Verhalten ist als soziales Handeln sinngesteuerte Aktion. Sinn ≠ Rationalität Verhaltensmuster entstehen aus der subjektiven Erfahrung, welche Verhaltenserinnerungen an ähnliche Situationen reproduziert (action system). Persönlichkeit: individuelles biologisches System plus Prägung durch soziales und kulturelles System Jede Handlung spielt sich in den strukturellen, normativen und funktionalen Elementen der Situation ab.

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 12 Die Sinnhaftigkeit sozialen Handelns orientiert sich an Bedürfnisdispositionen, Motiven und Werten Soziale Handlung Bewertung der Handlungsalternativen psychisch-emotionale Seite der Handlung subjektive Wahrnehmung der Handlungssituation

B. Rechtssoziologische Theorien: Verhaltens- und handlungstheoretische Ansätze 13 Bewertung der Handlungsalternativen (pattern variables) im Sinne von dichotomen Wahlalternativen: Affektivität – Affektive Neutralität Diffusion – Spezialität Universalismus – Partikularismus Zuweisung – Leistungsorientierung Selbstorientierung – Kollektive Orientierung

C. Rechtssoziologische Theorien: Normtheoretische Ansätze 14 4.1 Soziale Normen Soziale Normen lösen Verhaltensgleichförmigkeiten aus. Qualifizierte soziale Normen beinhalten sanktionsbewehrte Verhaltensforderungen Normtheoretische Ansätze gehen davon aus, dass das gesellschaftliche Leben von Normen konstituiert und gesteuert wird. Soziologischer Rechtsbegriff

C. Rechtssoziologische Theorien: Normtheoretische Ansätze 15 4.2 Verkehrssitten, Handelsbräuche und gute Sitten Verkehrssitten, Usanzen, Handelsbräuche, nicht kodifizierte Standards, technische Normen, Gewohnheiten und Sitten Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe Problem: Bestimmung mittels Wertung durch Gerichte und/oder durch Erhebung der faktischen Deutung durch die Rechtsunterworfenen Gute Sitten als „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“?

C. Rechtssoziologische Theorien: Normtheoretische Ansätze 16 4.3 Innere Verhaltensmuster Das Normverständnis von Individuen und sozialen Gruppen wird massgeblich von inneren Verhaltensmustern geprägt. Soziales Verhalten wird von psychischen Erscheinungen begleitet. Ähnlichkeit des Verhaltens, Denkens und Fühlens der Menschen innerhalb derselben Gesellschaft Vorurteile als Bestandteil innerer Verhaltensmuster Zweck- und Wertvorstellungen Norm- und Handlungswirksamkeit innerer Verhaltensmuster

C. Rechtssoziologische Theorien: Rollentheoretische Ansätze 17 5.1 Soziale Rollen Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten und –attribute) Rollenbilder und Rollenerwartung Erlernen von Rollen durch Sozialisierung Zuschreibung von Rollen Rollen – Wertvorstellungen – Normerwartungen Rollenkumulation und Rollenkonflikte

C. Rechtssoziologische Theorien: Rollentheoretische Ansätze 18 5.2 Rechtssoziologische Anwendung Rollendistanz und gesellschaftliche Rollenveränderungen haben Einfluss auf Rechtsentwicklung und –auslegung (Bsp. Familienrecht) Normverstoss als Nichterfüllung der Rollenerwartung Rollenkonflikte und Unvereinbarkeitsbestimmungen Staatliche Gewaltenteilung als Rollenteilung Das Gerichtsverfahren als Rollenspiel Wer den vom Gericht positiv bewerteten Rollenerwartungen entspricht, kann mit einer günstigeren Beurteilung rechnen.