Verstehende Soziologie II: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt Alfred Schütz (*1899 in Wien — †1958 in New York)

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Verstehende Soziologie II: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt Alfred Schütz (*1899 in Wien — †1958 in New York)

Alfred Schütz (*1899 in Wien — †1958 in New York) Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt

Vita und ausgewählte Werke (I) 1917 - Notabitur, Militärdienst 1918-1921 - Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Wien 1921 - Promotion in Rechtswissenschaften - Einstellung beim Österreichischen Bankverein - dazu parallel bis 1923 vertieftes Studium der Staatswissenschaft in Wien - Mitglied des privaten Seminars von Ludwig von Mises zusammen mit F.A. Hayek, E.Voegelin, F. Machlup und anderen - Beginn des „Doppellebens“ als Bankjurist und Gelehrter 1924-1928 - „Theorie der Lebensformen“ Frühschriften unter dem Einfluss von Max Weber und Henri Bergson 1928 - Annäherung an Husserls Phänomenologie 1932 - „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ 1936-1937 - Arbeit am Manuskript „Das Problem der Personalität in der Sozialwelt“ 1937 - Erste Reise in die USA 1938 - nach dem „Anschluss“ Österreichs emigriert die Familie Schütz nach Paris 1939 - Übersiedlung nach New York

Vita und ausgewählte Werke (II) 1940-1941 - briefliche Auseinandersetzung mit Talcott Parsons 1943-1952 - lecturer and visiting professor an der New School for Social Research in New York 1945 - „On multiple Realities“ 1952 - Professor für Soziologie dortselbst 1955 - „Symbol, Reality and Society“ 1958 - Erkrankung; Schutz wir bewusst, dass er sein geplantes opus magnum, die „Strukturen der Lebenswelt, nicht wird niederschreiben können; Ausarbeitung genauer Anweisungen für die Fertigstellung des Buches, die Thomas Luckmann als Grundlage für die Niederschrift dienen Posthum erscheinen in deutscher Sprache: 1971 - Gesammelte Aufsätze I-III, nur auf Englisch: 1994 - Collected Papers IV 1971 - Das Problem der Relevanz 1975 und 1984 mit Thomas Luckmann: - Strukturen der Lebenswelt I und II 1977 - Zur Theorie sozialen Handelns (Korrespondenz mit T. Parsons) 1981 - Theorie der Lebensformen Alfred Schütz Werkausgabe erscheint ab Januar 2003 bei Universitätsverlag Konstanz (UVK)

II. „Phänomenologische“ Soziologie von Alfred Schütz als Weiterführung der verstehenden Soziologie Max Webers Bedeutung: Begründer der „phänomenologischen“ Soziologie (Soziologie des Alltags) Wirkung: „Interpretative sociology“ in den USA Ethnomethodologie (H. Garfinkel) Wissenssoziologie/Sozialer Konstruktivismus (P.L. Berger/T. Luckmann) Entwicklung qualitativer Methoden der Sozialforschung

Ausgangspunkte das Wiener intellektuelle Milieu - Ökonomie Carl von Mengers (1840 -1921) Wiener Kreis Mises-Seminar Lebensphilosophie Henri Bergsons (1859-1941) Phänomenologie Husserls (1859 - 1938) Carl von Menger Henri Bergson Edmund Husserl

Ausgangspunkte problematisches Erbe Max Webers: Webers Kulturskepsis: Sinnorientierung sozialen Handelns in Zeiten der „Entzauberung“ (= Sinnentleerung durch die Moderne) wird problematisch; Bedarf eines verstehenden und zugleich verallgemeinernden Ansatzes: Schütz‘s Lösung: Untersuchung der Sinnorientierung alltäglichen Handelns und der Sinnstruktur der Lebenswelt

Sinnhafter Aufbau der sozialen Welt Fragestellung: Kritik des Weberschen Sinnbegriffs - es muss geklärt werden: Wie entsteht der Sinn einer Handlung? Wie ist Fremdverstehen möglich? Wie entsteht gemeinsames Wissen?

Sinnhafter Aufbau der sozialen Welt Wie entsteht Sinn im allgemeinen und der Sinn einer Handlung im besonderen? Husserls Phänomenologie als Theorie der Sinnkonstitution Der Sinn von Erlebnissen ist ein Zeitkonstrukt, Bewusstsein ist plastisch Sinn/Zeitstruktur des Handelns: Primärer Sinn der Handlung ist ihr Entwurf, aber erst wenn eine Handlung abgelaufen ist, steht ihr endgültiger Sinn fest.

Sinnhafter Aufbau der sozialen Welt Genese gemeinsamer Wirklichkeit in Wirkensbeziehungen, d.h. in Kommunikation und Interaktion Handlungen haben Zeichencharakter (weisen auf den mit ihnen verbundenen Sinn hin), daher Fremdverstehen prinzipiell möglich Soziale Genese von Sinn: Sinn meiner Handlung ist die Reaktion des Anderen und vice versa: Entstehung gemeinsamer Erwartungen in Wirkensbeziehungen Alltägliche Wirkwelt als Kern der sozialen Realität, da dort kommunikative und interaktive Konstruktion gemeinsamer Realität möglich.

Strukturen der Lebenswelt Die sinnhaft aufgebaute soziale Welt begreift Schütz als “Lebenswelt”. Ihre Struktur entfaltet sich aus der alltäglichen Wirkwelt: Zeitliche, räumliche und soziale Dimension der Wirkwelt gliedern sich entlang der Achse von vertraut/unvertraut zeitlich: lebendige Gegenwart, Vergangenheit (Vorwelt), Zukunft (Nachwelt) räumlich: unmittelbare/mittelbare Reichweite sozial: intime Wir-Beziehung =Umwelt/anonyme Ihr-Beziehung= Mitwelt

Strukturen der Lebenswelt Pragmatische Genese von Typik und Relevanz Typik: Deutungs - und Lösungsmuster von Situationen Relevanzen: Selektive Raster von bedeutsamen Handlungsbedingungen: thematische interpretative motivationsmäßige Entstehung gruppenbezogener Wissensvorräte soziale und individuelle (subjektive) Modifikationen der alltäglichen Wirkwelt: sozial: fremde Wirkwelten (andere Berufe: Politik, Wirtschaft, etc.) subjektiv: Wandel der Einstellung zum Alltag: Phantasie, Traum, Wissenschaft Mannigfaltige Wirklichkeiten als Sinnschichten der Lebenswelt Lebenswelt als Kulturwelt

Strukturen der Lebenswelt Kommunikation und Zeichensysteme (Sprache) als „Sinnklammer“ der Lebenswelt, Zeichen verbinden unterschiedliche Sinnbereiche Kommunikation koordiniert das Handeln und Erleben in der Wirkwelt Sprache als kollektiver Träger von historisch entstandenen Typik- und Relevanzschemata, gibt an: Was wird benannt, wie wird es interpretiert, wie wird es behandelt (z.B.: Taxonomie: Herr, Mann, Typ, Kerl)

Alltagswissen und Wissenschaft Methodologische Konsequenzen für den verstehenden Ansatz Sozialwissenschaft muss von der Perspektive des handelnden Individuums ausgehen (methodologischer Individualismus). Sozialwissenschaftliche typenbildende Verfahren sind berechtigt, weil auch der alltäglich Handelnde sich nach typischen Mustern orientiert. Alltägliche Typisierungen und wissenschaftliche Modelle als Typisierungen 1. und 2. Grades. Das Postulat der Adäquanz: die wissenschaftliche Typenbildung muss daher die Strukturen der alltäglichen Typenbildung berücksichtigen. Die Analyse von Strukturen der Lebenswelt stellt den Leitfaden sozialwissenschaftlicher Typenbildung dar.