Die Auswertung qualitativer Interviews

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 Präsentation transkript:

Die Auswertung qualitativer Interviews Prof. Dr. Marion Klein Seminar „Forschungsmethoden I: Methoden der qualitativen Sozialforschung“ FT 2017 – FHCHP

Formen der Auswertung 1. Zwischen klassifikatorischer und sinnrekonstruierender Vorgehensweise Qualitative Inhaltsanalyse (nach Mayring) 2. Sinnrekonstruierende Vorgehensweise Objektive Hermeneutik (nach Oevermann) Hermeneutische Wissenssoziologie Konversationsanalyse Erzählanalyse Dokumentarische Methode Implizite und / oder explizite Sinnebene

Basis einer rekonstruktiv verfahrenden Sozialforschung Annahme der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger / Luckmann 1969) Aufgabe der empirischen Forschung ist es, die Konstruktionen der Wirklichkeit zu rekonstruieren, welche die Akteur_innen in und mit ihren Handlungen vollziehen Wirklichkeitskonstruktionen geschehen gewissermaßen en passant im Routinehandeln Es bedarf einer Methode, die einen Zugang ermöglicht zu dem – der Alltagspraxis zu Grunde liegenden – impliziten, teilweise inkorporierten und zugleich handlungsleitenden Erfahrungswissen Dieses ist den Akteur_innen weder vollkommen bewusst noch vollkommen unbewusst, weshalb Mannheim (1980: 73 [1922-25]) von „atheoretische[m]“ Wissen spricht

Dokumentarische Methode „Gründungsväter“: Ralf Bohnsack (war Professor an der FU) mit Bezug auf Karl Mannheim (Soziologe und Philosoph, 1893-1947) und die Tradition der Ethnomethodologie Analyseverfahren eröffnet einen Zugang nicht nur zum reflexiven Wissen, sondern zum handlungsleitenden Wissen der Akteur_innen und somit zur Handlungspraxis Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrundeliegende habitualisierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert.

Unterscheidung von zwei bzw. drei Sinnebenen 1. Wörtlicher, expliziter Sinngehalt: Intentionaler Ausdruckssinn (Motive des Erzählenden/Handelnden) Objektsinn (allgemeine Bedeutung eines Textinhaltes oder einer Handlung, „objektiver sozialer Zusammenhang“) 2. Impliziter Sinngehalt: Dokumentsinn (was dokumentiert sich in dem Gesagten bzw. in der Handlung über die Personen und ihre Orientierung?)

Beispiel (nach Karl Mannheim) „Ich gehe mit einem Freunde auf der Straße, ein Bettler steht an der Ecke, er gibt ihm ein Almosen“ Objektsinn bzw. Objektiver Sinn (unabhängig davon, in welcher Art und Weise der Freund dem „Bettler“ das Geld gibt)? Intentionaler Ausdruckssinn? Dokumentsinn (Was zeigt sich mir durch seine Art und Weise der Handlung über den Freund? Auch von ihm unbeabsichtigt!)?

Beispiel (nach Karl Mannheim) „Ich gehe mit einem Freunde auf der Straße, ein Bettler steht an der Ecke, er gibt ihm ein Almosen“ Objektiver Sinn (unabhängig davon, in welcher Art und Weise der Freund dem „Bettler“ das Geld gibt)? Hilfe Intentionaler Ausdruckssinn? Kann nur der Freund wissen! Dokumentsinn (Was zeigt sich mir durch seine Art und Weise der Handlung über den Freund? Auch von ihm unbeabsichtigt!)? Ist seine „Almosengabe“ das Dokument einer freigiebigen, heuchlerischen, überlegenen, angeberischen, religiösen Persönlichkeit? Kontext entscheidend!

Unterscheidung von zwei Wissensarten Kommunikatives Wissen = gesellschaftlich gültiges Wissen Konjunktives Wissen = milieuspezifisch gültiges Wissen [conjungere (lat.)] beruht auf einer gleichartigen Handlungspraxis und Erfahrung Beispiel: Familie, BVG-NutzerInnen, Thema: „Holocaust“

Komparative Sequenzanalyse Sequenzanalyse der dokumentarischen Methode: Es wird davon ausgegangen, dass sich die Produktionsregeln der Äußerungen durch ihre Abfolge erschließen lassen. 1. Handlung bzw. Äußerung 2. Handlung bzw. Äußerung

Implizite Regelhaftigkeit = Orientierungsrahmen Die Kenntnis dieser Regelhaftigkeit ist in den atheoretischen, den konjunktiven Wissensbeständen der Untersuchten angesiedelt. Sie verfügen über diese Regelhaftigkeit intuitiv. 2. Handlung bzw. Äußerung 1. Handlung bzw. Äußerung

„und dann kam ich in die Schule“ o.ä. Fall Erzählsequenz Interview A Interview B Interview C Äußerung „und dann kam ich in die Schule“ o.ä. 2. Äußerung „Ich war ganz allein“ „ich wollte endlich schreiben lernen“ „meine ganze Verwandtschaft war zum Fest gekommen“ 3. Äußerung „In der Schule traf ich auf ganz viele fremde Kinder“ „Leider haben wir die ersten Wochen nur Bilder gemalt“ „wir haben zwei Tage lang gefeiert“

Dokumentarische Methode: Komparative Analyse Fallinterne komparative Analyse Fallexterne (fallübergreifende) komparative Analyse 1. Schritt: Wie wird das – auf der wörtlichen Sinnebene – gleiche Thema in unterschiedlichen Gruppen bzw. bei unterschiedlichen Personen bearbeitet? Bsp.: Erfahrungen im Stelenfeld

Erzählungen und Beschreibungen … dienen dazu, das implizite oder „konjunktive“ Wissen der Interviewten zu erheben, das in die Handlungspraxis eingelassen ist und nicht reflexiv verfügbar ist bzw. sein muss. Der/die Forscher(in) weiß nicht mehr, als die Erforschten. Diese wissen nicht, „was sie da eigentlich alles wissen“ Atheoretisches Wissen (Mannheim), habituelles Handeln (Bohnsack), „Wissen ohne Bewusstsein“ (Bourdieu)

Warum „dokumentarisch“? D= „Dokument“ (in unserem Falle: Äußerung) Gelbe Markierung: „Muster“ bzw. Orientierungsrahmen Orientierungen sind Sinnmuster, die unterschiedliche (einzelne) Handlungen / Aussagen strukturieren, hervorbringen D 1 D 2 D 3 D 4 D 5 D 6 D 7 D 8 D 9 D 10 D 11 D 12 D 13 D 14 D 15 D 16 D 17 D 18 D 19 D 20

Einen interpretativen Zugang zu Orientierungen eröffnen… Erfassung von drei prinzipiellen Strukturmerkmalen: Positiver Horizont: Positives Ideal, auf das eine Orientierung zustrebt Negativer Gegenhorizont: Richtung, Handlung, Entwicklung, von der eine Orientierung sich abgrenzt Enaktierungspotenzial: Einschätzung der Realisierungsmöglichkeiten; Einschätzung der Chancen, die eigenen Orientierungen zu verwirklichen

Die Fragen, die die Interpretierenden zu beantworten haben, lauten in etwa: Was zeigt sich hier über den Fall? Welches Prinzip, welcher Sinngehalt kann eine derartige Äußerung motivieren, hervorbringen? Welches Prinzip kann mir zwei oder gar mehr (thematisch) unterschiedliche Äußerungen als Ausdruck desselben zugrunde liegenden Sinns verständlich machen? !!!! Es „interessiert nicht, ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierungen dokumentiert“ (Bohnsack)!!!!