Leib, Körper, Gehirn Zur Theorie der Verkörperung (WS 2017/18)

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 Präsentation transkript:

Leib, Körper, Gehirn Zur Theorie der Verkörperung (WS 2017/18) Thomas Fuchs

Kosmos im Kopf? 8

Der Ego-Tunnel „Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. Die moderne Neurowissen­schaft hat gezeigt, dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Kon­strukt, son- dern auch eine höchst selektive Form der Darstel­lung von Information ist … Zuerst erzeugt unser Ge­hirn eine Si­mulation der Welt, die so per­fekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein in­neres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. (…) Wir sind nicht wirklich in direktem Kontakt mit der Welt oder mit uns selbst. Wir leben unser bewuss­tes Leben im Ego-Tunnel.“ T. Metzinger (2010) 8

Das „Gehirn im Tank“ „Im Prinzip könnten wir dieses Erlebnis [der Welt] also auch ohne Augen haben, und wir könnten es sogar als entkörpertes Gehirn in einer Nährlösung haben.“ (Metzinger 2010) 8

8

Die Welt ist nicht im Kopf. Das Subjekt ist nicht im Gehirn. Im Gehirn gibt es keine Gedanken. 8

“Sie haben ihr Gehirn nicht, Sie sind Ihr Gehirn.“ (Spitzer 2005) „Unser Ich ist … eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können.“ (G. Roth 1994) “Sie sind Ihre Synapsen; sie sind das, was Sie sind.“ (LeDoux 2002) “Sie haben ihr Gehirn nicht, Sie sind Ihr Gehirn.“ (Spitzer 2005) 8

„Peters Gehirn überlegte angestrengt, was es nun tun sollte. Als es keine Lösung fand, entschied es sich, erst einmal abzuwarten.“ 8

Der Mensch denkt, nicht das Gehirn. (Erwin Straus 1956) 8

(1) Menschlicher Geist ist lebendiger, verkörperter Geist. (2) Das Gehirn ist nur ein Organ eines Lebewesens – ein Vermittlungs- und Beziehungsorgan. 8

Austausch- und Kreisprozesse 8

Gehirn-Körper-Dualismus der Neurowissenschaften Körper als Trägerapparat Gehirn als „Konstrukteur“ der erlebten Welt und des Subjekts „Zentralismus des Gehirns“  Vernachlässigung von Wechselbeziehungen 8

„Kurzschluss“ von Gehirn und Geist Mentale Prozesse Physikalische Prozesse Gehirn 8

Das Gehirn als Organ des Lebewesens „Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Gehirn; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Leib abgesondertes Organ. Das Gehirn ist nur solange Denkorgan, als es mit einem lebendigen Leib verbunden ist.“ Ludwig Feuerbach 1835 8

Doppelaspekt des Lebewesens Bewusste Lebens-äußerungen Lebe- wesen Physio-logische Prozesse 1.- / 2.-Person- Perspektive 3.-Person- Perspektive 8

Doppelaspekt der Person Erlebter Leib Physi-scher Körper Person 1.- / 2.-Person- Perspektive 3.-Person- Perspektive 8

“Zooming in”: vom Leib zum Körper

„Embodied Cognitive Neuroscience“ (Varela 1991, Clark 2000, Thompson 2007 u.a.)  Subjektivität ist verkörpert in der senso-motorischen Aktivität des Organismus in seiner Umwelt („embodied, embedded, enactive“)  Gehirn als Vermittlungs- und Beziehungsorgan, vernetzt mit der biologischen, sozialen und kulturellen Umwelt Funktion des Gehirns: statt internen Repräsentationen  Handlungsmöglichkeiten für den Organismus in seiner Umwelt 8

Verkörperte Subjektivität (1) Interaktion von Gehirn und Körper basales Selbst Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt ökologisches Selbst (3) Interaktion von Personen soziales Selbst 8

(1) Interaktion von Gehirn und Körper – Basales Selbst Stimmungen, Affekte Leibliches Hintergrunderleben, Kernbewusstsein basales Selbst 8

(2) Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt Wahrnehmung Objekt Körper Bewegung Sensomotorischer Funktionskreis 8

Verkörperung: In-der-Welt-Sein /-Handeln „offene Schleifen“ Wahrnehmen Senso-motorischer Funktionskreis „zuhanden“ Handeln

Ein Objekt zu erkennen bedeutet zu wissen, wie man mit ihm umgeht. Verkörperte Wahrnehmung Wahrnehmen Funktions- kreis „zuhanden“ Handeln Ein Objekt zu erkennen bedeutet zu wissen, wie man mit ihm umgeht.

Instrumentengebrauch Körper ökologisches Selbst 8

(3) Interaktion von Personen – Soziales Selbst Körper Körper Verkörperte Intersubjektivität „Zwischenleiblichkeit“ 8

Zwischenleiblichkeit Ausdrucks- imitation (Meltzoff & Moore 1989) 8

Zwischenleiblichkeit und frühe Intersubjektivität 8

(3) Interaktion von Personen Körper Körper Verkörperte Interaktionen Zwischenleibliche Resonanz soziales Selbst 8

Verkörperte soziale Wahrnehmung Früher Mutter-Kind-Dialog: - Proto-Konversationen, Affektabstimmung → Erwerb affektiv-interaktiver Schemata: „schemes of being-with“, „implizites Beziehungswissen“ (D. Stern) → Andere zu verstehen heißt zu wissen wie man mit ihnen umgeht. 8

Soziale Entwicklungsneurobiologie Körper Körper Rückwirkung durch Neuroplastizität „verkörperte Sozialisation“ 8

Geist und Gehirn Nicht das Gehirn produziert den Geist, sondern der verkörperte Geist und das Gehirn formen einander wechselseitig. Gehirn als Matrix von Erfahrungen 8

Gehirnentwicklung durch Interaktion Sur et al. (2000): „Rewiring“ bei Frettchen Hör-Areal wird durch visuomotorische Stimulierung zum Seh-Areal Die Funktion schafft sich durch Ausübung ihr zerebrales Organ. 8

Gehirnentwicklung durch Interaktion „Erst durch das Denken wird das Hirn zum Denkorgan ausgebildet, ans Denken gewöhnt, und durch die Gewohnheit, dieses oder jenes, so oder so zu denken, auch modifiziert, bleibend bestimmt; aber durch das ausgebildete Denkorgan wird auch das Denken erst selbst gebildetes, geläufiges, gesichertes. Was Wirkung ist, wird zur Ursache, und umgekehrt.“ (Feuerbach 1838) 8

Wechselbeziehung von Prozess und Struktur Interaktive Prozesse Psyche top down bottom up Struktur Neuronales Substrat Gehirn

Geist und Gehirn Das Gehirn ist ein durch den Lebensvollzug, also sozial und biographisch geformtes Organ. 8

Zusammenfassung: Verkörpertes Selbst (1) Leibliches Hintergrundempfinden basales Selbst Beziehung von Organismus und und Umwelt ökologisches Selbst (3) Verkörperte Intersubjektivität, Zwischenleiblichkeit soziales Selbst 8

Bewusstsein als Integral Bewusstsein entsteht nur im übergreifenden System von Organismus und Umwelt. Organis-mus Bewusst- sein Umwelt 8

Kausalität? Wechselwirkung? – Psychophysische Beziehungen Neurobiologische Prozesse und psychische Erlebnisse sind zwei komplementäre Aspekte des Lebensprozesses. Die Person verkörpert und umfasst beide Aspekte. 8

Sokrates zu physikalischen Ursachen „Ebenso, wenn der Physiker von unserm Gespräch andere derglei-chen Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich, die Luft, das Gehör und tausenderlei dergleichen, ohne doch die wahren Ursachen anzuführen: dass nämlich, weil es den Athenern gefiel, mich zu verurteilen, deshalb es auch mir besser schien, hier sitzen zu bleiben und die Strafe geduldig auf mich zu nehmen … Denn, beim Hund, schon lange wären diese Sehnen und Knochen in Megara oder bei den Böotiern, durch die Vorstellung des Besseren in Bewegung gesetzt, hätte ich es nicht für gerechter und schöner gehalten, dem Staate die Strafe zu büßen, die er anordnet, als zu fliehen. Also der-gleichen Ursachen zu nennen ist gar zu wunderlich.“ Platon, Phaidon 8

Übergeordnete Organisation: Zirkuläre Kausalität Wechselbeziehung zwischen Ganzem und Teilen bzw. zwischen höheren und tieferen Systemebenen des Organismus Selbstorganisation: Das Ganze ist die Bedingung für die Existenz und Funktion der Teile, durch die es umgekehrt realisiert wird.  “Abwärts-/Aufwärts-Kausalität” Hochstufige Ebene Aufwärts Abwärts Niederstufige Ebene

Interaktive Prozesse Struktur Neuronales Substrat Zirkuläre Kausalität Psyche top down bottom up Struktur Neuronales Substrat Gehirn

„Abwärts-Kausalität“ – „causa formalis“ Hochstufige Ebene Abwärts Beispiel: Gene - Organismus Aufwärts Niederstufige Ebene

Zirkuläre Kausalität – „causa formalis“ Hochstufige Ebene Abwärts Geistiges wirkt “informierend”: Beispiel: Sprechen In jeder bewussten Tätigkeit wirkt und handelt das Lebewesen als übergeordnete, formierende Ursache. Aufwärts Niederstufige Ebene

Die Rolle der Subjektivität Subjektives Erleben beeinflusst die neuronalen Strukturen. Nicht das Gehirn trifft Entscheidungen, sondern die Person. Subjektivität als höchste Integrationsebene des Organismus ist die Voraussetzung für Freiheit: Selbstbestimmung und Selbststeuerung des Organismus 8

Resümee 8