Betriebliches Eingliederungsmanagement und krankheitsbedingte Kündigung Lübeck – 21. September 2016
Betriebliches Eingliederungs-management (BEM) Krankheitsbedingte Kündigung
I. Betriebliches Eingliederungsmanagement
Warum „Betriebliches Eingliederungsmanagement“? Gesetzliche Verpflichtung seit 2005 Krankheitsfinanzierung kostet viel Geld Kein BEM keine Kündigung
Was ist „Betriebliches Eingliederungsmanagement“? Standardisiertes und gleichwohl offenes Verfahren Zur Überwindung von Krankheit Mit Zustimmung des Beschäftigten Unter Einbeziehung des Betriebsrats Bei Krankheit von mehr als 6 Wochen im Jahr
„Betriebliches Eingliederungsmanagement“ ist nicht bloß Ein Krankenrückkehrgespräch Ein Gespräch ohne Einbeziehung des Betriebsrats Eine lose Erörterung, warum eine Krankheit besteht Ein Tipp zu einer gesünderen Lebensführung Für Schwerbehinderte vorgesehen
§ 84 Abs. 2 S. 1 SGB IX („Schwerbehindertengesetzbuch“) Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 93, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
Voraussetzungen eines BEM Krankheit länger als 6 Wochen im Jahr Freiwilligkeit beim Beschäftigten Beteiligung von Betriebsrat (und ggf. SBV) Analyse und Maßnahmen (Evaluation)
Krankheit länger als 6 Wochen im Jahr Nicht notwendig Kalenderjahr Zählweise umstritten: Arbeits- oder Kalendertage Vorzugswürdig: 42 Kalendertage Ununterbrochen oder in der Addition von Einzelkrankheiten Unabhängig von den Kranheitsursachen
Mitteilungspflicht des Arbeitnehmers für Krankheitsursachen? Keine Mitteilungspflicht von Krankheitsursachen Ausnahmen bei Gefährdungssituationen denkbar Krankheit ist Privatsache Mitteilung zu Krankheitsursachen selbst durch das Gericht nicht erzwingbar
Freiwilligkeit beim Beschäftigten Arbeitnehmer hat Entscheidungsfreiheit, ob er ein BEM wünscht oder nicht Ablehnung des ordnungsgemäß angebotenen BEM lässt Durchführungspflicht des Arbeitgebers entfallen
Ordnungsgemäßes Angebot eines BEM Setzt hinreichende Information über Verfahren des BEM voraus Setzt Information über Verwendung, Speicherung, Löschung u.s.w. der im BEM gewonnenen (Kranheits-)Daten des Beschäftigten voraus Kein ordnungsgemäßes BEM-Angebot kein BEM
§ 84 Abs. 2 S. 2 SGB IX („Schwerbehindertengesetzbuch“) Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.
Einladungsschreiben zum BEM Schriftliches Angebot Betreff und Verweis auf Fehlzeiten Formale und inhaltliche Gestaltung Terminvorschläge und Teilnehmerinformation Darstellung der Ziele als freiwilliges Verfahren Fristgebundene Rückantwort beifügen
Ablehnung des BEM durch den Beschäftigten (nach ordnungsgemäßer Information) Lässt Durchführungspflicht des Arbeitgebers entfallen Sollte daher hinreichend dokumentiert werden Wirkt sich „kündigungsneutral“ aus
Beteiligung von Betriebsrat (und ggf. SBV) Betriebsrat ist notwendiger Bestandteil eines BEM Arbeitnehmer hat keinen Einfluss auf die Pflichtbesetzung nach § 84 Abs. 2 SGB IX Will der Arbeitnehmer BR und/oder SBV nicht dabei haben, besteht tatsächlich kein Einverständnis mit dem BEM
Beteiligung von Betriebsrat (und ggf. SBV) BR und SBV sind gleichberechtigte Partner im BEM-Verfahren SBV nimmt nur Teil, wenn Beschäftigter schwerbehindert oder gleichgestellt ist
Analyse und Maßnahmen Keine Festlegung auf konkrete Maßnahmen durch das Gesetz Damit ergebnisoffenes Verfahren zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation des Beschäftigten „Freie Hand“ für Akteure, aber Effektivitätskontrolle
Mögliche Maßnahmen: Beeinträchtigungsanalyse Perspektivgespräch / Einsatzwünsche medizinische Begleitung / Vertrauensarzt Arbeitsplatzumgestaltung technische Analysen arbeitstechnische Hilfsmittel Mitarbeiterschulung („Rückenschule“) u.v.a.m.
Mögliche Maßnahmen Es darf keine in Betracht kommende Maßnahme außer Acht gelassen werden Bei geeigneten Maßnahmen besteht eine Umsetzungspflicht Es können mehrere Maßnahmen (ggf. auch nacheinander) in Betracht kommen
Evaluation Kontrolle der Wirksamkeit der Maßnahmen in gewissen Zeitabständen Falls kein Erfolg ggf. neues BEM
Auswirkung unzureichenden/unterlassenen BEMs: negative gesundheitliche Prognose erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen Interessenabwägung
Arbeitnehmer Arbeitgeber soziale Gesichtspunkte (Mit-)Verursachung Betriebsgröße finanzielle Belastbarkeit AG Wille zum BEM Verweigerung AN zur Teilnahme am BEM
II. Krankheitsbedingte Kündigung
Unterfall der personenbedingten Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG keine weiteren gesetzlichen Festlegungen für diese Kündigungsart personenbedingt = nicht vom Arbeitnehmer steuerbar ausgeformt durch Richterrecht beständige Rechtssprechung, wenig Neuerungen
Krankheit für sich kein Kündigungsgrund entscheidend negative Zukunftsprognose Kündigungserklärung während AU möglich
Personenbedingte Kündigung: Der Arbeitnehmer besitzt von seinen persönlichen Voraussetzungen her nicht (mehr) die Fähigkeit und Eignung, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung ganz oder teilweise zu erbringen. Äquivalenzstörung
Krankheitsbedingte Kündigung: Drei Hauptfälle Dauererkrankung Leistungsmin- derung häufige Kurzerkrankung
Anspruch auf Nicht-Einteilung zu Nachtschichten – BAG Urt. v. 09.04.2014 – 10 AZR 637/13 kann eine Arbeitnehmerin aus gesundheitlichen Gründen keine Nachtschichten mehr leisten, liegt keine Arbeitsunfähigkeit vor AN hat Anspruch auf korrekte Ermessensausübung bei Arbeitseinteilung (§ 106 GewO) hat Anspruch auf Beschäftigung ohne Nachtschichten Arbeitsangebot mit Leistungseinschränkung ist (verzugsbegründendes) ordnungsgemäßes Leistungsangebot
Denkbare Einschränkungsvarianten: Einschränkungen in der Lage der Arbeitszeit Einschränkungen in den Tätigkeitsinhalten Einschränkungen in der Mobilität (Außendienst, andere Betriebsstätte) Einschränkungen hinsichtlich der Benutzung von Arbeitsmitteln Einschränkungen im Umgang mit bestimmten Substanzen/Produkten/Erzeugnissen
Konsequenzen aus der Nachtschicht-Entscheidung: AN werden vermehrt Atteste über Leistungseinschränkungen vorlegen absehbare Missbrauchsdiskussionen kein Recht auf „Zuschnitt des Wunscharbeitsplatzes“
Indizien für ein Gefälligkeitsattest: gesundheitliches Beeinträchtigungsbild passt nicht zur testierten Umsetzungsempfehlung Umsetzungsempfehlung schließt mehrere nicht miteinander in Zusammenhang stehende Teil- Tätigkeiten aus nicht mit dem Attest in Einklang zu bringendes Freizeitverhalten ( Facebook pp.)
Keine Indizien für ein Gefälligkeitsattest: Testat einer Beeinträchtigung, die bereits zuvor (möglicherweise bereits langjährig) mitgeteilt worden war allgemeine betriebliche Unbeliebtheit der negativ attestierten Tätigkeiten
Rechtscharakter des ärztlichen Attests (nicht: AU): reine Handlungsempfehlung ohne bindenden Charakter u.U. klagbarer Anspruch des Arbeitnehmers auf entsprechende Umgestaltung, aber sehr wahrscheinlich mit Sachverständigengutachten Risikosituation für den AG hinsichtlich Fehlbeurteilungen des Attests wegen BAG 10 AZR 637/13
Auseinandersetzungsvarianten bei Leistungseinschränkungen: Arbeitgeber verändert Arbeitsplatz auf Attestvorlage (=berechtigt) nicht oder versetzt nicht: Arbeitgeber ist im Annahmeverzugsrisiko Arbeitgeber droht Klage auf Anpassung des Arbeitsplatzes/Versetzung Arbeitgeber droht Haftungsperspektive bei Schäden des Arbeitnehmers
Grundprüfungsschema immer gleich: negative gesundheitliche Prognose erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen Interessenabwägung
Dauererkrankung: ursächlich i.d.R. eine einzige Erkrankung Entscheidung häufig durch ein ärztliches Gutachten Problem bei der Prüfung der Beeinträchtigung betrieblicher Interessen: Entfall der Entgeltfortzahlungspflicht nach 6 Wochen geminderte Kostenbelastung
Häufige Kurzerkrankungen: häufigste Variante der krankheitsbedingten Kündigung viele Detailprobleme dadurch oft ungewisser Verfahrensausgang
Prüfungsschema erweitert: negative gesundheitliche Prognose (1) indizielle Prognose (2) Widerlegung möglich (3) ggf. Gegenbeweis erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen Interessenabwägung
Indizielle Prognose: offiziell keine typisierte Festlegung Praxis: mehr als 30 Tage Arbeitsunfähigkeit (durchgehend oder in der Summe) in den vergangenen 3 Jahren aber: Einzelfallbetrachtung
Konsequenzen: Kündigung von weniger als 3 Jahre Beschäftigten kaum möglich rechtssichere Betrachtung nur bei deutlichem Überschreiten der AU-Tage gegeben
Darlegungs- und Beweislast für Negativprognose: Arbeitgeber durch: Auszug aus der Personalkartei / EDV-Ausdruck bei Bestreiten durch AN: Zeuge Personalabteilung
Widerlegung der Negativprognose: Arbeitnehmer durch: Darlegung der Erkrankungen und Darlegung, dass diesbezüglich keine weiteren Erkrankungen zur erwarten sind
Gegenbeweis: Arbeitgeber durch: arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten
Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen: (meist) finanzieller oder tatsächlicher, organisatorischer Art
Finanzielle Beeinträchtigungen: Entgeltfortzahlungskosten Kosten von Arbeitsersatz (Subunternehmer, Leiharbeitnehmer) Schäden (Konventionalstrafen) Maschinenstillstand Mehrarbeitsbelastung
Darlegungs- und Beweislast für erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen: Arbeitgeber
Häufigste Variante: hohe Entgeltfortzahlungskosten Faustformel: 20 % den Entgeltgesamtkosten
Nach Vorstellung des BAG soll an dieser Stelle berücksichtigt werden, ob der AG auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz beschäftigen kann. milderes Mittel gegenüber Beendigungskündigung keine Verpflichtung zum Freikündigen ggf. aber Verpflichtung zum Schaffen eines leidensgerechten Arbeitsplatzes BEM
Interessenabwägung: Arbeitgeber Arbeitnehmer
? Arbeitnehmer Arbeitgeber soziale Gesichtspunkte (Mit-)Verursachung Betriebsgröße finanzielle Belastbarkeit AG
Fazit: strukturell eher schwierige Kündigungsart hoher Prüfungsumfang eher Nachteil für AG schlechte Einschätzungsprognose für AG wegen Unterkenntnis von Krankheitsursachen