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Veröffentlicht von:Friedrich Kaufer Geändert vor über 7 Jahren
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Vertiefungsvorlesung im Bereich ‚Römisches Recht’ – SoSe 2015
Recht, Jurisprudenz und Gerechtigkeit – Ursprünge des europäischen Rechts im antiken Griechenland und im Alten Orient Vertiefungsvorlesung im Bereich ‚Römisches Recht’ – SoSe 2015 Von Heinz Barta LV-Nr
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Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden (2010)
Band I Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden (2010)
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Band I Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden: 2010
Die vier Bände sind das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit den Griechen und ihrem rechtshistorischen Umfeld. Es geht dabei um die Frage, ob die weit verbreitete Auffassung zutreffe, dass Europas rechtliche Wurzeln ausschließlich in der römischen Antike zu suchen seien – ein Eindruck, den nicht zuletzt auch die Wissenschaft vermittelt. Ganz im Gegenteil zu dieser bisher vorherrschenden Meinung, ist aber nachzuweisen, dass vieles, was bislang als römisch galt, in Wirklichkeit aus dem antiken Griechenland und bei genauerem Hinsehen zum Teil auch aus dem Alten Orient stammt: Bd. I bietet eine allgemeine Einleitung und entwickelt historische Perspektiven. Bd. II befasst sich mit Drakon und Solon als Gesetzgebern und Rechtsdenkern. Bd. III geht auf den kulturellen Gesamtkontext ein und behandelt die insbesondere für das griechische Rechtsdenken wichtigen Gebiete der Dichtung (Aischylos und Euripides) und Geschichtsschreibung (Thukydides) sowie die frühe juristische Professionalisierung in Griechenland. Bd. IV widmet sich den Denkern Platon, Aristoteles und Theophrast, geht Fragen des Rechts, der Religion und der Gerechtigkeit in frühen Gesellschaften nach und wagt schließlich einen Ausblick in Gegenwart und Zukunft. ‚Graeca‘ zielt auf Interdisziplinarität und will Brücken schlagen: - zur Alten Geschichte, - zur Altorientalistik, - Ägyptologie, - Archäologie, - Altphilologie, - Religionswissenschaft, - Rechtsphilosophie, R-Soziologie u. R-Anthropologie
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Band II/1 und II/2 Harrassowitz-Verlag/ Wiesbaden: 2011
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Band II/1 und II/2 Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden: 2011
(1) Das Graeca-Projekt geht der Bedeutung der antiken griechischen und eingeschränkt der orientalischen Rechtsentwicklung für Europa nach. Gilt es doch in Rechtsgeschichte und Rechtswissenschaft als ausgemacht, dass das Recht Europas aus Rom stammt. – Griechenland habe alles Mögliche für Europa erdacht, nicht aber Nennenswertes im Bereich des Rechts. – Aber das griechische und das orientalische Rechtsdenken waren für Rom wichtiger als bisher angenommen. Grundlegende Rechtsentwicklungen stammen von den Hellenen und von den Völkern des Alten Orients; nämlich die Rechtswissenschaft selbst, aber auch ihre Teildisziplinen Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtspolitik, Gesetzgebung/Le-gistik u. Rechtsphilosophie. Das Gesetz (als gesellschaftliches Steue-rungsmittel), die Kodifikation, die Bedeutung der Publikation von Gesetzen oder die Grundregeln der Rechtsanwendung und -fortbildung, das Verfahrens-, Verwaltungs-, Völker- und Verfassungsrecht sowie das Urkunden-, Archiv- und Vertragswesen uam. entwickelten die Hellenen und die Völker des Alten Orients. Wie war ein solches Verzeichnen der historischen Entwicklung möglich?
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Band II/1 und II/2 Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden: 2011
(2) Wichtige Gründe: Die Römer haben trotz bedeutender Transfers, Rezeptio-nen etc. die Leistungen der Griechen und des Alten Orients geschmälert u. das Christentum hat diese Sichtweise – wie spätere Wissenschaft – noch vertieft. Christliche Denker hielten es für selbstverständlich, dass etwa der Persönlich-keits(rechts)schutz bis hin zur Menschenwürde – Schöpfungen des Christentums seien. Bd. II enthält das Entstehen der Verschuldenshaftung u. des Rechtssubjekts samt den subjektiven Rechten, das Verständnis des griechischen Vertrages, die Ent-wicklung des gesetzlichen u. gewillkürten Erbrechts (insb. des Testaments), die (für das Entstehen der Rechtswissenschaft) bedeutende Rechtsfigur der Epieikeia (aequitas, equity, Billigkeit), die Hybrisklage als Keimzelle des griech. u. europ. Persönlichkeitsschutzes, Solons Konzept der ‚Eunomia’ u. damit die Fundierung des europ. Gerechtigkeits- u. Rechtsstaatsdenkens, die Genese von Individual-eigentum, Seelgerätstiftung u. die hellenistische Totenkultstiftung uam. – Der Schwerpunkt dieses Bandes liegt auf der archaischen Rechtsentwicklung. Diese u. weitere Themen sind über die Rechtswissenschaft u. Rechtsgeschichte hinaus auch für die Wissenschaftsgeschichte, die Alte Geschichte und die Altorientalistik, aber auch für die (Rechts)Philosophie u. Philosophiegeschichte, die Religionsgeschichte, die (Rechts)Soziologie, die Philologie u. weitere Disziplinen von Interesse.
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Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden (2014)
Band III/1 Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden (2014)
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Band III/1 Harrassowitz-Verlag/Wiesbaden: 2014
An den Griechen läßt sich Kulturentstehung als Zusammenspiel der kreativen Kräfte in einer Gesellschaft studieren: So wurden die Griechen zu Erfindern von ‚Politik’ u. anderen Gesellschaftsdisziplinen, Philosophen interessierten sich über die eigene Disziplin hinaus für Dichtung, Geschichte, Mathematik od. Zoologie u. das Recht. Bürgerinnen u. Bürger gingen ins Theater, erfreuten sich an Kunstwerken auf der Agora u. in Heiligtümern od. besuchten Herodots Geschichtsvorträge. – Ähnliches galt für die Teilnahme am öffentlichen Leben, das erstmals unvermittelt gelebt werden konnte – in der Volksversammlung (Ekklesia), dem Volksgericht (Heliaia), im Rat (Boulé) od. bei den zahlreichen Festen u. Wettkämpfen. Daraus resultierte wissenschaftlich gelebte Interdisziplinarität: Aristoteles lehrte in jungen Jahren an Platons Akademie ‚Rhetorik’, schrieb parallel eine ‚Poetik’ u. später eine ‚Politik’, interessierte sich für Recht, Verfassung u. Solons Gesetzgebung u. verfaßte daneben zahl-reiche philosophische Werke. Aus dieser Kultur entwickelte sich die griechische Philosophie u. es entstanden neue Wissenschaftsdisziplinen; Mathematik, Grammatik, Geographie, Geschichts- u. die Jurisprudenz. Die großen Geister der Griechen blieben nicht unter sich, sondern waren bestrebt, ihr Wissen anderen Menschen zugänglich zu machen; man denke an das Theater od. die Vorlesungen von Platon, Aristoteles u. Theophrast in Akademie, Lykeion, Peripatos od. die Epitaphioi Logoi großer Männer wie Perikles, Gorgias od. Demosthenes. Das zeugt von gelebtem Bürgersinn: Kultur diente den Einzelnen u. dem Gemeinwesen. – Bd. III geht beispielhaft auf die Beziehungen von Dichtung u. Geschichtsschreibung, Recht u. Gerech-tigkeitsdenken u. auf die bereits hochentwickelte griech. Rechtspraxis ein, die bedeutendes leisteten, wovon Rom u. Europa profitierten. – Gesetzgebung, Kautelarjurisprudenz u. das Rechtsdenken von Philosophen u. Rhetoren führte zum Entstehen einer griechischen Jurisprudenz (als Wissenschaft).
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Stoffüberblick 1. und 2. Stunde: s. ab Folie 10
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Einführung in die VL I. Zum Titel der Vorlesung
1. Stunde: 9. März 2015 I. Zum Titel der Vorlesung II. Was bedeutet ‚Graeca non leguntur‘? 2. Stunde: 16. März 2015 III. Recht und Rechtsgeschichte heute? IV. Gesellschaftsfunktion von Recht V. Recht & Sprache, Bildung & Ausbildung VI. Einteilung der Wissenschaften …
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I. Titel der Vorlesung (1)
‚Recht, Jurisprudenz und Gerechtigkeit‘: Lange Titel sind unpraktisch, kurze sagen meist wenig (über das Thema) aus … Der Projekttitel: ‚Graeca non leguntur‘? Zu den Ursprüngen des europäischen Rechts im antiken Griechenland + präzisierende Untertitel für die einzelnen Bände, ist zu lang … … deshalb entschied ich mich (für diese VL) für den Stenogrammtitel: „Recht, Jurisprudenz und Gerechtigkeit“ Programmatisch umfaßt er: - Entstehung, Entwicklung u. Umgang mit/von Recht, Jurisprudenz u. Gerechtigkeit …
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I. Titel der Vorlesung (2)
‚Recht, Jurisprudenz und Gerechtigkeit‘: ‚Recht‘/‚Gesetz‘ steht für jenes gesellschaftliche Steue-rungsmittel, das seit ~ 4 Jtn. Gesellschaften normativ ordnet, befriedet u. lenkt → s. ‚Graeca‘ Bd. II/2, Kap. II 11 ‚Jurisprudenz‘ steht für eine kluge fachliche Pflege des Steuerungsmittels Recht (auf allen seinen Feldern): R-Pol, Gesetzgebung, R-Anwendung (in Rspr, Justiz, Verwaltung, Kautelarjurisprudenz u. Ausbildung); wobei zu betonen ist, dass Juris-Prudenz mehr ist, als Rechts-Wissenschaft → s. ‚Graeca‘ Bd. III/2, Kap. VI Bei der ‚Gerechtigkeit‘ geht es um höchste Ziele u. Zwecke des Rechtsdenkens u. -handelns. Man spricht mit einem Synonym auch von Rechtsidee/RI* (Platon!) – Es geht stets darum, Annäherungswerte zu erreichen! ‚Gerechtigkeit‘ ist ein dynamischert Wert …!
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I. Titel der Vorlesung (3)
Gerechtigkeit/RI verlangt danach, alle juristischen Register zu ziehen: RG, RV, R-Phil (R-Ethik), R-Pol, RS & RTF, bis zu Berührungspunkten mit der Religion: R-Metaphysik! Historische Beispiele (der Suche nach Gerechtigkeit): Die ägyptische ‚Ma‘at‘; Bd. II/2, Kap. II 17 Solons ‚Eunomía‘ (iVm Zeus u. Themis samt deren Töch-tern: Dike, Eunomia u. Eirene); Bd. II/1, Kap. II 1, 7 u. 10 Zu ‚Ma‘at‘ u. ‚Eunomia‘: 7. u. 8. Std. Platons ‚Politeía‘ u. die ‚Politik‘ des Aristoteles u. andere Schriften; Bd. IV Kap. VII u. VIII von ‚Graeca‘
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I. Titel der Vorlesung (4)
Der Begriff ‚Gerechtigkeit‘ berührt schwierigste u. zugleich interessanteste Fragen des Rechtsdenkens, von denen ich beispielhaft nenne: (1) Epieikeia/aequitas/equity/Billigkeit → s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 13 u. Folie: I 5 (2) Solons Grundwertekanon: Freiheit, Gleichheit, politi-sche Teilhabe (494/93 v.) s. Folie I 6 u. → Breslau/Homepage u. auf: (3) Der Perikleische Nomos hybreos (~ 450 v.): Beginn eines allgemeinen Persönlichkeitsschutzes u. der Menschenwürde → s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 14 u. Folien I 7 u. 8 (4) Das Gerechtigkeits-Experiment von J. Rawls (1979)*; s. Folie I 9
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I. Titel der Vorlesung (5)
Epieikeia/aequitas/equity/Billigkeit:* Erfinder des Konzepts war Platon (und die Praxis). – Es ging darum, eine gerechte Entscheidung im Einzelfall auch dann zu gewährleisten, wenn das Gesetz keine, eine unklare od. eine ungerechte Lösung bot … Schwierige Übergänge vom ungeschriebenen ( ) zum geschriebenen Recht ( ) Platon, Aristoteles, Theophrast, Demetrios v. Phaleron u. die Stoa haben dieses Denken an Rom weitergereicht, von wo es zu uns gelangte …! Dieses Konzept diente als Wissenschaftsgenerator in Griechenland u. Rom → ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 13
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I. Titel der Vorlesung (6)
Solons Grundwertekanon von 494/93 v.: Freiheit, Gleichheit, politische Teilhabe … Diese Werte haben die europ. Politik u. (Rechts)Entwicklung geleitet u. → Demokratie u. Rechtsstaatlichkeit ermöglicht (Aristoteles): → Amerikanische Verfassung von 1774 u. → Französische Revolutionsverfassung von 1789: ‚Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte‘/‚Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen‘ Solons Freiheit war (für Bürger) bereits unverlierbar! Die Gleichheit war noch keine vollkommene, aber doch schon eine weitgehende! – Ausnahme: höchste Ämter Die politische Teilhabe umfaßte das gesamte Staatsgeschehen, insbes.: - Volksversammlung (Ekklesía), - Volksgericht (Heliaía) u. - Rat (Boulé; bereits Repräsentativorgan!) Solons Lösung war moderner, als der amerikan. u. französ. Beginn!
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I. Titel der Vorlesung (7)
Zum Perikleischen Nomos hybreos* (~ 450 v.): „Wer ein Kind, eine Frau oder einen Mann, seien sie Freie oder Sklaven, tätlich beleidigt oder gegen sie etwas Gesetzwidriges unternimmt kann von jedem Athener bei den Thesmoteten verklagt werden.“ „ , “. Fortsetzung im ptolemäischen Ägypten → Alexandrinische Dikaiomata (~ 250 v.); von hier: Weitergabe an Rom! Der allgemeine Schutz der Person (bis zur → Menschenwürde) stammt somit bereits aus Griechenland, nicht erst aus Rom od. dem Christentum! Dazu → 5. u. 6. Std.
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I. Titel der Vorlesung (8)
Der Persönlichkeitsschutz des Nomos hybreos war: In die Form einer Generalklausel gekleidet u. statuierte ein allgemeines Persönlichkeitsrecht, das mit Popularklage geltend zu machen war; vgl. heute §§ 28 f KSchG: Verbandsklage Überliefert durch Demosthenes (XXI 47 /gegen Meidias) u. andere Attische Redner*…. Zur Entwicklung des Personsbegriffs → ‚Graeca‘, Bd. III/1, Kap.V 3 sowie in der 3. u. 4. Stunde der VL Auf den (weiten) griechischen Persönlichkeitsschutz gehe ich in ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 14 ein; er stammt aus Perikleischer Zeit, eine genaue Datierung ist bisher nicht möglich. – Die ‚Weite’ u. ‚Qualität’ dieser Norm tendiert bereits in die Richtung des Schutzes der Menschenwürde u. erinnert an § 16 Satz 1 ABGB: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. […]“
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I. Titel der Vorlesung (9)
J. Rawls: ‚Theorie der Gerechtigkeit‘* – Gerechtigkeitsexperiment: Angenommen, eine Gruppe von Menschen könnte noch einmal ganz von vorn anfangen u. sich gemeinsam die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft aus-denken – ohne zu wissen, ob der Einzelne später als Konzernchef, Tellerwä-scher, Glücksritter od. Pechvogel seinen Platz in der Gesellschaft finden wird. Auf welche idealen Gerechtigkeitsgrundsätze könnte sich die Gruppe im ‚Ur-zustand’ wohl verständigen?” – Assheuer: „Rawls war überzeugt, hinter dem ‚Schleier des Nichtwissens’ würden sich alle Beteiligten auf eine Gesellschaft einigen, in der jeder, ob reich oder arm, eine faire Chance besitzt, seine Be-gabung und seine Interessen zu verwirklichen. Diese wohl geordnete Gesell-schaft wird die Grundgüter – berufliche Stellung und Vorrechte, Einkommen und Besitz – gerecht verteilen und Ungleichverteilung nur dann als legitim erachten, wenn der Schlechtestgestellte daraus einen Vorteil bezieht.” Mehr in meinem Zivilrecht (2004), Bd. II 1054 ff (insb ff) online:
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (1)
‚Graeca‘-Projekt → Ergebnis langjährigen Befassens mit den ‚Griechen‘: Ausgangspunkt: Überlegung, nicht alles stammt aus Rom …! Aber auch die Griechen haben manches aus dem Alten Orient übernommen → Rezeptionen, Transfers, Kontaktzonen … Griechen u. Alter Orient haben zur europ. Rechtsentwicklung beigetragen: Die Wissenschaft ist hier nicht ohne Schuld …! Beispiel: Standardwerke des ‚Römischen Rechts‘ (zB Kaser/Knütel, Röm. PrivatR, 19. Aufl.!) betrachten bis heute das Entstehen der Verschuldenshaftung als Leistung röm. Juristen, ohne zu erwähnen, dass die entscheidenden Schritte aus dem antiken Griechenland stammen → ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 4 u VL-Stunden: 8.6. u Mit der griechischen Herkunft (mancher Rechtsentwicklung) wird meist auch der Alte Orient übergangen, dem die europ. Kultur auch rechtlich viel verdankt! → etwa: Gesetz, Kodifikation + Publikation, Urkundenwesen uam. Lit.: W. Burkert, Die Griechen u. der Orient (2003) Erste Kodifikationen, Ende des 3. Jts.: - Codices Urnamma (~ 2050 v.), - Esnunna (~ 1920 v.), - Lipit Estar (~ 1870 v.), - Hammurabi (~ 1750 v.) Großer Entwicklungsvorsprung des Alten Orients: Seßhaftwerdung, Göbekli Tepe; Lit.: K. Schmidt, Sie bauten die ersten Tempel (2006)*
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (1a)
Siedlungen der Frühgeschichte - Aus: Die Zeit, Nr. 02/07 vom 4. Januar 2007
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (1b)
Aus: Damals 02/2007, Seite 17
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (1c)
Aus: GEO 1/2008, Seite 161
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (2)
Exkurs: Göbekli Tepe – ~ Jahre alt Monumentaler (bislang rätselhafter) Totenkult in der Südosttürkei → s. Karte: 1a-1c Bedeutsam, da am Übergang zw. Jäger- u. Sammlerkultur u. Seß-haftwerdung des Menschen Kulturelle Wiege der Menschheit an den Ursprüngen von Euphrat u. Tigris (an den Ausläufern des Zagros- (im Norden) u. des Taurusgebirges (im Osten) von Mesopotamien: → the hilly flanks of the fertile Crescent: Der fruchtbare Halbmond; s. Folien 1b u. 1c Hier kam es zur → Neolithischen Revolution: Gordon Child = Seßhaftwerdung: Domestikation von Wildtieren (Zähmung u. Züchtung von Ziege, Schaf, Rind u. Esel) + Kultivierung von Pflanzen u. Wildgetreidearten
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (3)
Zurück zum Titel ‚Graeca non leguntur …‘ Corpus Iuris Civilis/ CIC* (533/34 n.): ab dem 12. Jh. Bezeichnung für das Gesetzeswerk des oström. Kaisers Justinian* ( n.) bestehend aus 3 Teilen: ‚Institutionen‘:* gerichtet an die nach Rechtskenntnis verlangende Jugend/ ‚cupidae legum iuventuti‘ – Einfüh-rungslehrbuch ‚Digesten‘/‚Pandekten‘* - Erörterung rechtlicher Einzel-fragen; Auszüge/Exzerpte aus röm. Juristenschriften → Interpolationenproblem ‚Codex‘:* Sammlung kaiserlicher Konstitutionen ‚Novellen‘:* Sammlung späterer Kaisererlässe
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (4)
Wiederentdeckung der ‚Digesten‘ u. weiterer Quellen des röm. Rechts (insbes. ‚Institutionen‘ des Gaius) im 11./12. Jh.: ~ 1100: Irnerius - Rechtsschule von Bologna → Glossatoren, Postglossatoren/ Kommentatoren: Vertreter: Azo, Accursius, Bartolus, Baldus etc. Glosse = Randerläuterung/-kommentierung Maximen für die griechischen Teile des CIC: ‚Graeca non leguntur‘ – ‚Griechisches wird nicht gelesen/… bleibt unbeachtet‘ u. ‚Quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia‘ … Wahre Gründe dieser Mißachtung → Antigraezismus des Westens gegenüber dem byzantin. Osten: n.: Konstantin d. G. verlegt Hauptstadt des Reiches nach Byzanz → Konstantinopel; : Kirchen-Schisma; : 4. Kreuzzug: Eroberung von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer (!); : Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen Lit.: - H. E. Troje, Europa u. griechisches Recht (1971)*; - H. Hunger, Reich der neuen Mitte (1965)*; - U. Eco, Baudolino (2001)*; - G. Oberkofler, Die österr. Juristentradition des Vormärz im Widerstreit mit den Reformen des Ministers Grafen Thun (1984)*
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II. ‚Graeca non leguntur‘? (5)
Legal isolationism des römischen Rechts …! Gegensatz zum griechischen Rechtsdenken …! Diese römische ‚Besonderheit‘ wurde bisher als überlegene wissenschaftliche Haltung verstanden …! Nach F. Wieacker hat das: „Eigentümlich-Einzigartige des römischen Rechts [in der] Isolierung der so genannten Rechtsfragen von allen anderen, sozialen, politischen Aspekten“ bestanden, mithin in der „Konstituierung einer eigenständigen Rechtswelt“. – Kritisch dazu: H. E. Troje, Europa u. das griechische Recht (1971)* Juristische Hybris – Digesten I 1, 1 (Ulpian): Danach sind Juristen die Priester der Gerechtigkeit Sie alleine vertreten die wahre Philosophie! Diese Selbstüberschätzung wirkt bis heute nach! Deshalb u. aus christlicher Intoleranz verfügte Kaiser Justinian im Jahre 529, nach ~ 900-jährigem Bestehen, die Schließung der ‚Akademie Platons‘ in Athen!
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III. Recht und RG heute? (1)
Wir brauchen (heute) eine → Rechtsgeschichte Europas u. noch mehr! Nationale RG genügt nicht mehr, wie nationale Rechtsentwick-lung! → s. Folie III 2 Weg der Rechtsentwicklung: a) Historisch: Antike → MA → Neuzeit → Neueste Zeit + Gegenwart u. Zukunft b) Politisch: National → Supranational → International-Global Das ist auch der Weg der → Rechtsgeschichte! Und dies in allen Bereichen der RO: öffentliches u. privates Recht, StrafR, VerfahrensR usw. → Bisher überwog Privat-RG (der Neuzeit)! VL steht im Kontext dieser Entwicklung vom Alten Orient (Mesopotamien + Ägypten) → Griechenland → Rom → MA → Neuzeit u. Moderne …
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III. Recht und RG heute? (2)
Recht (als gesellschaftliches Steuerungsmittel) muß der gesellschaftlichen Entwicklung folgen: Jurisprudenz u. RG können nicht im nationalen Bereich verbleiben, wenn die Rechts-Probleme ….. … immer mehr über den staatlichen Rahmen hinaus weisen. Das verlangt eine → Weiterentwicklung in Richtung Europa u. darüber hinaus → Internationalität/Globalität: Finanz- u. Wirtschaftskrise, Frieden, Umwelt, Menschenrechte, Ökonomie iwS, Arbeitswelt u. Migration, Technik, Verkehr etc. Frage: Können Recht u. RG diesen Wandlungsprozeß (stärker als bisher) unterstützen? Nötig, da → Versagen von Religion, Wirtschaft u. Politik …!? – Technik u. menschliche Entwicklung haben unterschiedliche Ge-schwindigkeiten …! → Entschleunigung durch Recht ! Sigmund Freud (hilft weiter!): „[…] je weniger aber einer vom Vergangenen und Gegenwärtigen weiß, desto unsicherer muß sein Urteil über das Zukünftige ausfallen.“ Aus: ‚Die Zukunft einer Illusion‘, GW XIV 325 (1927). – Freud-Lektüre zu empfehlen! ZB auch: ‚Das Unbehagen in der Kultur‘ (TB)
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III. Recht und RG heute? (3)
Antikes Griechenland steht am Anfang der europ. Entwicklg: Wir wissen, wie kulturell bedeutend (Klassik!) dieser Anfang war → Politik, Architektur, Skulptur, Dichtung (Epos, Lyrik, Drama etc.), Wissenschaften, Philosophie, Geschichtsschreibung (Herodot, Thukydides), Rhetorik uvam. ... Aber wie steht es um das griechische Rechtsdenken? Hat uns das heute noch etwas zu sagen? Und was haben die Griechen eigentlich rechtlich geschaffen …? Man kann aus der Geschichte lernen, wenn man etwas lernen will! – Und zwar aus positiven wie negativen Beispielen: - Etwa dem Versagen Athens (nach den Perserkriegen) → Mißbrauch der Hegemoniestellung im Delisch-Attischen Seebund → Fehlende Weiter-entwicklung: Konflikt mit Bundesgenossen → Folge: Krieg u. Untergang! – Parallele zur Gegenwart Europas? Was, wenn die Weiterentwicklung der EU nicht gelingt u. Europa zerbricht? - Positiv: Solons Grundwerte: Freiheit, Gleichheit, politische Teilhabe → s. Folie I 6!
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III. Recht und RG heute? (4)
Beispiele rechtlicher ‚Erfindungen‘ Griechenlands: Idee der Verfassung + durchdachtes Gesetzgebungsverfahren … → Demokratie u. proto-rechtsstaatliche Entwicklung! Einsatz des Gesetzes (u. dessen Publikation!) → kommt aus dem Alten Orient! Methodische Leistungen: Erfindung von RG, RV, RPhil, RPol u. RDogm: Antiphon, Platon → ‚Nomoi‘, Aristoteles → ‚Politik‘, ‚Rhetorik‘, ‚NE‘ Verfahren u. Verfahrensgrundsätze: audiatur et altera pars, in dubio pro reo, Rechtskraft + ne bis in idem, Rechtskraft etc. Auslegung (verba-voluntas Debatte: Aristoteles, ‚Rhetorik‘) + Lückenfüllung: (samt Analogie u. Richtereid) → Vgl. § 7 ABGB Erfindung der Mediation! → ‚Graeca‘ Bd. I, Kap. I 1, S Bd. II/1, Kap. II 9 (S. 341 f): ‚Diaiteten/Volksrichter wirken als Mediatoren‘! Generalklausel, Präambel oder soft law etc. → s. ‚Graeca‘ Bd. IV, Kap. VII Ethische Verantwortung ‚aller‘ Wissenschaft als griech. Erbe! → ‚W&V‘ u. Erwin Chargaff
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III. Recht und RG heute? (5)
Ein (nicht unwichtiger) Aspekt von RG ist es, dazu beizutragen, eine tragfähige Zukunftsvision zu entwickeln → RPol: u. zwar für den gesamten normativen Bereich von Gesellschaften/Staaten u. deren supra- u. internationale Aktivitäten u. Zusammenschlüsse, um Rückblick auf eigene u. fremde Geschichte bei Zukunftsentscheidungen zur Normalität werden zu lassen u. vor allem auch in die Ausbildung einzubauen! RG fördert das menschliche Bewußtsein in seinem transitorischen Charakter (Vergangenheit → Gegenwart → Zukunft?) u. dadurch menschliche Verantwortung(sbereitschaft), etwa gegenüber künftigen Generationen; wichtig für: Umwelt Gleichheit der Geschlechter + Frieden Soziale Gerechtigkeit u. Sicherheit Kultur uam. Technik (AKWs!) od. Fortpflanzungsmedizin etc.
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III. Recht und RG heute? (6)
Aus der Rechtsgeschichte der Antike, des MA u. der NZ heraus, ist zu fragen: Was bedeuten uns Europa u. sein Rechtsdenken heute? Wie sind sie entstanden? Welche Rolle spielte dabei das Recht? Wie kann es mit Europa u. seinem Recht weitergehen? Literatur: Michael Gehler, Europa. Von der Utopie zur Realität (2014) Thomas Duve, Von der europ. Rechtsgeschichte zu einer Rechtsge-schichte Europas in globalhistorischer Perspektive, in: Rg 20 (2012) 18 ff – Duves Verzicht auf MA u. Antike für die Arbeit des Frkft. MPI ist prob-lematisch; denn ohne Antike u. MA ist die Neuzeit nicht zu verstehen!
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III. Recht und RG heute? (7)
Themenüberblick: RG als empirische Disziplin Zur Entstehung von Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein (F/olien RTF) Staatsentstehung im archaischen Griechenland (F RTF) Religion und Recht: Zum Verhältnis von Mensch, Natur, Gemeinschaft, Religion und Recht (F RTF) Platon als ‚Jurist‘ (F RTF) Die Entstehung der Verschuldenhaftung u. die Rechtskategorie ‚Zufall‘ (F RTF) Zum Umgang mit ‚Rechtskollisionen‘ in der Antike (F 124 f RTF) Die Entstehung des Testaments (F 126 f RTF) Entstehung des Individual-ETs an Fahrnis (F 128 RTF) Epieikeia/Billigkeit: ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 13 Der griechische Vertrag: ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 10
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III. Recht und RG heute? (8)
Rechtsgeschichte als empirische Disziplin Die RG ist ein Teil der ReWi! Und dies seit Aristoteles u. Theophrast! Sie gehört neben der RV, RPhil u. der RPol zu den ältesten Teilen der ReWi! Die RG ist wie in den Folien: SEIN und SOLLEN gezeigt eine empirische Disziplin: Erhebung der rechtlich relevanten historischen Fakten für verschiedene Zwecke Wichtige Fundierung des geltenden Rechts (seines Verständnisses u. seiner Relativierung)! Die behandelte Staatsentstehung erweist sich als diffiziler u. langgestreckter ‚Prozeß‘ zwischen Familie, Einzelnem u. Gemeinschaft/Gesellschaft; Institutionen, Ämtern u. frühem Recht
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (1a)
Staat u. Recht sind (seit der Antike) ‚verbundene Gefäße‘: Der Staat soll Gesellschaft ‚möglich‘ machen! … u. bedient sich dazu des Rechts! → § 19 ABGB § 19 ABGB – ‚Verfolgung der Rechte‘: „Jedem, der sich in seinem Rechte gekränkt zu sein erachtet, steht es frei, seine Beschwerde vor der durch die Gesetze bestimmten Behörde anzubringen. Wer sich aber mit Hintansetzung derselben der eigenmächtigen Hilfe bedient, oder, wer die Grenzen der Notwehr überschreitet, ist dafür verantwortlich.“ (Verständnis)Zusammenhang von: Staatsentstehung (+ Rechts-schutzzusage) → Aufbereitung von Recht iVm → sog. Selbsthilfeverbot/Verbot von Eigenmacht in § 19 ABGB! Recht ist für die Menschen geschaffen → … sie sollen sich seiner bedienen: RO = Recht im objektiven Sinn (= Summe des für die Menschen geschaffenen u. aufbereiteten Rechts!); Recht im subjektiven Sinn (= subjektive Rechte …!) = die von der RO an die/den Einzelnen verliehene Befugnis/se; zB das aus einem KaufV erworbene Recht für Frau B. → s. Folgefolie
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Recht im objektiven u. subjektiven Sinn (… 1b)
Die RO = Recht im objektiven Sinn „Es ist Recht … “ subjektive Rechte = Recht im subjektiven Sinn = von der RO an den Einzelnen "verliehene" rechtliche Befugnis „Ich habe ein Recht“ subjektive öffentliche Rechte subjektive Privatrechte zB Wahlrecht zB Eigentum, ForderungsR „verleiht“
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (2)
Rechtsfunktionen (iSv Aufgaben/ Zwecken des Rechts): Friedens-, Sicherheits- u. Ordnungsfunktion → zivilisierte Kon-fliktaustragung (VerfahrensR)! Gerechtigkeitsfunktion → Rechtsidee/RI: Austeilende (iustitia distributiva) + ausgleichende (i. commutativa) Gerechtigkeit Herrschaftsfunktion → Recht legitimiert Herrschaft … Herrschaftskontrollfunktion des Rechts → zB VfGH u. VwGH Rechtssicherheit iSv Erwartungssicherung, Vorausberechenbarkeit rechtlichen Handelns, Konfliktregelung durch geordnetes Verfahren u. Schutz vor Übergriffen der Politik → Erst dadurch wird rechtliches u. wirtschaftliches Planen möglich! Ein Staat, der diese Grundwerte achtet, ist ein → Rechtsstaat! (Idee der Verfassung u. des Gesetzes als Steuerungsmittel stammt aus Griechenland/Alter Orient) → Aischylos-Zitat: ‚Wenn Macht u. Recht unter einem Joche gehn, welch Zweigespann kann stärker sein als dieses?‘ → Proto-Rechtsstaatlichkeit!
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (3)
Normen als Wegweiser – Orientierungsfunktion von Recht: Nicht die Sanktion, die verhängte Rechtsfolge (als Konsequenz von Rechtsverletzung/Devianz) steht im Vordergrund, … …, sondern ihre Wegweiser- od. Orientierungsfunktion! Ureigenste Aufgabe von Normen/Paragraphen/ Rechtsvorschriften ist es, auf menschliches Verhalten (= Handeln + Unterlassen) einzuwirken, um Rechtsverletzungen möglichst zu vermeiden! Rechtsakzeptanz: Menschen akzeptieren Recht u. orientieren sich daran, wenn es ausgewogen u. nicht willkürlich, sondern gerecht ist! Vorstellung (der Griechen: Solon, Platon, Aristoteles) vom Recht als → gerechte (iSv ausgewogene) ‚Mitte‘!
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (4)
Rechtsnormen sind nicht die einzigen Normen, die menschliches Verhalten/Zusammenleben regeln; daneben existieren: ▪ Sitte, ▪ Moral u. ▪ Religion Diese Normen werden mit dem Sammelbegriff → Sozialnormen bezeichnet: Was unterscheidet ‚Recht‘ von anderen Sozialnormen? – Es kann seine Anordnungen notfalls mit staatlicher Zwangsgewalt durchset-zen; sog. bracchium saeculare: daher zB Kirchen-Beitrag u. nicht Kirchen-Steuer! Sitte; s. anschließend Moral: wendet sich primär an das Gewissen; forum internum … Aber es bestehen Querverbindungen zw. Sitte, Moral u. Recht! – Zunächst keine strikte Trennung von Recht u. Moral (wie von Kant gefordert → vgl. § 879 ABGB: Gute Sittenklausel!)
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (5)
Mehr zu den Sozialnormen (E. R. Dodds, K. Meuli, H. Barta): Religion – „grows out of man‘s relationship to his total environment“ (Dodds);* Moral – „[grows] out of his relation to his fellow-men“ (Dodds) → später: ‚Goldene Regel‘! Dazu später! Sitte – ist (nach K. Meulis schöner Formulierung: 1968)* „die verpflichtende Formel des Vorbildlichen“ → Vorstufe des Rechts! Recht – setzt Grenzen des (für eine Gemeinschaft) Trag-baren/Zuträglichen u. sanktioniert abweichendes/deviantes Verhalten, das gesetzte Grenzen über- od. unterschreitet; ‚Graeca‘, Bd. I, Kap. I 7 (S. 233 f) Gewohnheit: Worin liegt ihr Wert? → s. Folie IV 7
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (6)
Das Nomologische Wissen: Für das Verständnis der Frühzeit wichtig: Sozialnormen bildeten ein → Normamalgam …! … keine (strikte) Trennung von: Sitte, Recht, Religion, Moral etc.! → allmähliches Ausdifferenzieren der einzelnen Elemente! – Zu beachten: Noch heute Überschneidungen von Recht u. Religion (!); Homosexualität, Abtreibung, Ehescheidung etc. Der Begriff stammt von Max Weber, der ihn aber nicht erklärt hat: Es handelt sich um ein gesetzesartiges Wissen, das menschliches Verhalten in frühen Gesellschaften (ohne Verschriftung) durch ein Konglomerat von Sozialnormen regelte → Normative Hintergrundstrahlung, die soziales Handeln bestimmt! Behandlung des Begriffs, in ‚Graeca‘, Bd. III/1, Kap. III 4 (S. 134 ff) + 7. u. 8. Std., Pkt. II: Von Bedeutung ist das Nomologische Wissen auch für die Alte Ge-schichte, Altorientalistik, Religionswissenschaft, Philosophie uam. In Anglo-Amerika spricht man von: inherited conglomerate …
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IV. Gesellschaftsfunktion von Recht (7)
Sozialnormen beruhen auf Gewohnheit … Gewohnheit liegt noch unterhalb der Grenze der erwähnten Sozialnormen: Es handelt sich um gesellschaftlich noch unverbindliches Verhalten, das aber (früher od. später) intersubjektiv u. schließlich gesamtgesell-schaftlich geübt wird u. dann verbindlich werden kann! → zB Sitte od. Gewohnheitsrecht Die Bedeutung von Gewohnheit liegt (für Mensch u. Tier) darin, dass dadurch Sicherheit vermittelt wird, was einen hohen gesellschaftl. u. normativen Wert darstellt: → Rechtssicherheit; s. Folie IV/2 K. Lorenz, ‚Das sogenannte Böse‘* → berührende Geschichte von der Graugans ‚Martina‘!
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V. Recht & Sprache … (1) Als Wissenschaft hat sich die Jurisprudenz, wie andere Disziplinen, um ihr Ausdrucksmittel zu bemühen: die Sprache! Sprache – mündlich wie schriftlich – sollte Studierenden daher ein Anliegen sein. Und dies nicht nur aus ästhetischen Gründen …! Eine klare u. einfache Sprache vermeidet od. mindert Mißverständnisse u. Fehler u. davon gibt es im rechtlichen Bereich genug! Sprachschulung ist ein wissenschafts-disziplinäres Anliegen des Rechtsdenkens → Argumentationskunst! Das oft weder grammatikalisch korrekte, noch sprachlich ansprechende Juris-tendeutsch (unter Anwälten u. Richtern in Verwaltung u. Wissenschaft ver-breitet), ist nicht das Non-plus-ultra deutscher Ausdrucksfähigkeit! Sie sollten das nicht vergessen u. bedenken, dass sie mit ihrer Sprache nicht nur ihre fachliche, sondern auch die menschliche Sensibilität schulen! Sprache = Visitenkarte von fachlicher Persönlichkeit u. Charakter! Lesetip: F. Gschnitzer-Lesebuch (1993/2014) + gute Belletristik lesen (zB Ch. Ransmayr, Atlas eines ängstlichen Mannes: Fischer TaschenBibliothek: 2012) u. nicht nur juristische Texte! + gute Zeitungen …
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V. Recht & Sprache … (2) Die Griechen waren – wie die Ägypter – sprachverliebt → Schöpfer aller literarischen Genres (Dichtung, griech.*): Epos, Lyrik, Rhapsodik, Tragödie u. Komödie, Roman, Biographie etc. Auch Dialog u. Wissenschaftssprache sind ihre Schöpfungen → Platon u. Aristoteles (Geometrie …!) Thukydides schuf die → Antilogie:* These-Antithese-Synthese …! Die Griechen waren die Begründer der Rhetorik in Europa → Sophistik: Protagoras, Gorgias, Antiphon + ‚Dissoi Logoi‘/‚Zweierlei Meinungen‘ ( v.) – Athen. Philosophengesandtschaft in Rom → Reaktion Catos; s. Bd. I, Kap. I 4, S. 138 f Zur Sprachverliebtheit der Ägypter: ‚Oasenmann‘: Kurth, Der Oasenmann eine altägypt. Erzählung (2003) ‚Des Bauern Reden wider die Korruption‘, in: K. Schüssler, Pharao Cheops u. der Magier. Altägypt. Märchen u. Erzählungen (2003)* Juristisch reagierten die Ägypter auf Gefahren der Rhetorik bereits im gerichtl. Prozeß: → Schriftlichkeit der Verfahren! (Diodor I 76)*; s. ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 4, S. 150
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V. … Bildung und Ausbildung
Aus dem LB (2004): Das Wort Bildung – auch das juristische Studium hat über fachliche Ausbildung hinaus zu bilden – bedeutet zweierlei: Einerseits meint es – u. hier liegt die Verantwortung des Lehrers – andere bilden, for-men u. fachlich bereichern. Studierende sind von dieser Bildungstätigkeit (passiv) betroffen, müssen aber die Bereitschaft mitbringen, dieses Ange-bot anzunehmen. – Andererseits meint Bildung immer auch eigene An-strengung u. Aktivität; dies im Sinne von ‚sich bilden‘, was nichts anderes bedeutet, als die Mühen der Menschwerdung bewußt auf sich zu nehmen. Und das erweist sich immer mehr nicht bloß als Fleißaufgabe, sondern als Überlebensvoraussetzung der Menschheit. Denn wie soll es in unserer pluralistischen Welt gelingen, gemeinsame Regeln für das Austragen von Konflikten, die Vermittlung zw. unterschiedlichen Positionen u. Wahrneh-mungen etc. auszubilden, wenn nicht durch die – durch Bildung des Ein-zelnen gewonnene – persönliche Überzeugung, dass Verständigung mög-lich u. nötig ist u. auch Nichtverständigung nicht zu Gewalt führen darf? – Nur beide Wortbedeutungen zusammengenommen, vermögen wahrhaft zu bilden. PS: (Allgemein)Bildung wird im Rahmen von Einstellungsgesprächen getestet u. gibt uU den Ausschlag bei der Auswahl von Mitarbeitern/innen. – Daher Lesen über die Juristerei hinaus!
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VI. Einteilung der Wissenschaften und Teildisziplinen der Rechtswissenschaft sowie Standort der Jurisprudenz im Kanon der Wissenschaften
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Kulturwissenschaften*
VI. Einteilung der Wissenschaften (1) Nach H. Dahmer, Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert (2001) Naturwissenschaften Mischdisziplinen Kulturwissenschaften* Physik Medizin Geisteswissen- schaften Theoret. Physik Psychologie Geschichte Biophysik Philosophie Technik Astronomie etc. Sprachen etc. Soziobiologie Chemie Sozialwissen- schaften Architektur etc Biochemie etc. Ökonomie Biologie Soziologie * Der Begriff ‚Humanwissen-schaften‘ faßt, unabhängig von der hier getroffenen Einteilung, alle Dis-ziplinen zusammen, die den Men-schen zum Gegenstand haben. – Da-durch werden aber Methodenunter-schiede verwischt. Vergleichende Verhaltensforschung + Humanethologie: K. Lorenz PolWiss Rechtswissen- schaft Theologie etc.
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VI. Einteilung der Wissenschaften (2)
Worin besteht der Unterschied? Was will die Einteilung vermitteln? Die Naturwissenschaften behandeln thematisch das, was der Mensch ‚vorgefunden‘ hat; insbes. die Natur (Flora wie Fauna) → Damit befassen sich: Physik, Chemie, Biologie, Astronomie, Botanik etc. Die Kulturwissenschaften behandeln das, was der Mensch (selbst) ‚geschaffen‘ hat u. weiterhin schaffen wird; Philosophie, Theologie, Soziologie, ReWi etc. Wozu dient die ‚eigene‘ Standortbestimmung? ReWi ist eine Umsetzungsdisziplin u. daher auf Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen angewiesen! Schon hier zeigt sich die Problematik des Rechtspositivismus!
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VI. Rechtswissenschaft und Teildisziplinen
Rechtsphilosophie Methodenlehre Legistik Rechtsgeschichte Rechtspolitik Rechtssoziologie + RTF Rechtsanthropologie + Rechtsethnologie Rechtsvergleichung Rechtsinformatik Rechtspsychologie Allgemeine Staatslehre Medizinrecht etc. Rechtspolitologie
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Übersicht 3. u. 4. Stunde 3. Stunde: 23. März 2015 – 4. Stunde: 13. April 2015 I. Emergenz der ‚Person‘/ ‚Entstehung des Rechtssubjekts‘ … II. Ausformung von Persönlichkeitsschutz, Men-schenrechten u. Menschenwürde in der Moderne – Beispiele III. Der lange Weg zum Begriff ‚Person‘: Religiöse u. rechtlich-historische Wurzeln
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I. Emergenz der Person … (1)
‚Emergenz‘: wörtlich – Auf- od. Emportauchen, lat. emergere: auf-, emportauchen Im übertragenen Sinn: aufsteigende Entwicklung von niederen zu höhe-ren Stufen → hier: kulturell-evolutive Entwicklung …! Juristisch, rechtsgeschichtlich: Entstehung des Rechtssubjekts u. der Rechts-Subjekt/Rechts-Person/rechtl. Individuum sind → Synonyma! Innerhalb der Personen im Rechtssinne ist zu unterscheiden zw.: - natürlichen (Menschen) u. - juristischen Personen (d. s. Personenver-bindungen, etwa Vereine od. GmbHs u. Vermögensmassen, etwa Stif-tungen u. Fonds) Entstehung der juristischen Person in Ägypten u. Mesopotamien u. dann im antiken Griechenland → Solon, Hellenismus u. Rom … Wichtig, weil Rechts-Person zentraler Zurechnungspunkt von Rechten u. Pflichten ist; s. → Folie I 3 subjektive Privatrechte subjektiven Rechte subjektiv öffentliche Rechte
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I. Emergenz der Person … (2)
Rechtssubjekt = Träger ,eigener‘ Rechte u. Pflichten; zB aktive u. passive Klagslegitimation Subjektive Rechte: … sind Einzelnen zustehende Rechte, die rechtlich auch durchsetzbar sind! Individuum = gr. á-tomos = un-teilbar Beispiele subjektiver Rechte u. Pflichten: privatrechtlich: Rechte aus Kaufvertrag, Tausch, Schenkung, erbrechtliche Ansprüche od. Prozeßfähigkeit → GF! öffentlich-rechtlich: Wahlrecht (aktiv u. passiv), Wehrpflicht, Steuerpflicht, Übernahme öffentlicher Ämter, Staatsbürger-schaft, Asylgewährung, Fremdenrecht usw.
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I. Emergenz der Person … (3)
Der Weg zum Rechtssubjekt u. den subjektiven Rechten war lang – nicht nur in Griechenland → s. Folie III 9 Inwiefern? →… Das (Rechts)Subjekt mußte in einem evolutiven Prozeß aus größeren gesellschaftl. Einheiten (Stamm, Clan/ Sippe, Verwandtschaft, Familie) herausgelöst u. als politisch-rechtliche Einheit geschaffen werden! Das autonome (Rechts)Subjekt ist daher nichts Selbstverständ-liches! → … Geschöpf der RO (Kulturprodukt)! In Griechenland verlief dieser Prozeß parallel zur → Polisent-wicklung … → Folie I 4 Ergebnis (der Entwicklung): → Erlangen gesellschaftl. Identität! + dialekt. Verhältnis zw. Einzelnen u. Gemeinwesen + zw. Gemeinschaft u. Einzelnen + zw. Einzelnen untereinander!
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I. Emergenz der Person … (4)
Polis benötigte politisch u. rechtlich selbständige, handlungsfähige Bürger: Wehrdienst, polit. Handeln (Volksversammlung/Ekklesia, Volksgericht/Heliaia, Boulé/Rat, Beamte etc.) + selbständiges rechtsgeschäftl. Handeln der Bürger: RF → HF (GF u. DF) Das ‚Kunststück‘ bestand darin, die Einzelperson politisch u. recht-lich autonom zu stellen u. zur ‚Rechts-Person zu machen, ohne Familie u. Verwandtschaft zu zerstören! – Widerstände bspw. im ErbR (alte Verwandtschaftsverbände) → Testierfähigkeit! (Solon) Es ging um die politisch-rechtliche ‚Freistellung‘ des Einzelnen aus Familien- u. Verwandschaftsbanden! – Kein einfacher gesellschaftl. Prozeß! → s. Irak, Lybien, Afghanistan u. italienischer Süden! Bei Mißlingen → schwacher Staat, der mit anderen sog. intermediären Verbänden konkurriert; zB Mafia od. IS! Lit.: M. Horkheimer* (1947/1985) + ‚Graeca‘, Bd. I, Kap. I 2, S. 115 ff
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I. Emergenz der Person … (5)
Diese ‚Freistellung‘ erfolgte – in Griechenland gut nach-vollziehbar – in Teilschritten, etwa: Drakons Gesetz (621 v.): Verlagerung der Haftung von Familie/Clan/Sippe auf Einzelne → Phónos hekoúsios (Mord) u. Phónos akoúsios (Totschlag) – Drakons Unterscheidung zw. vorsätzlicher u. unvorsätzlicher Tötung, setzte bereits eine gefestigte rechtliche Vorstellung eines handelnden u. verantwortlichen (Rechts)-Subjekts voraus, dem ein Erfolg rechtlich zugerechnet werden konnte! Solonische Gesetzgebung (594/93 v.): Schaffung zahlreicher subjektiver Privat- u. öffentlicher Rechte Kleisthenes (~ 508 v.): Ausbau bürgerl. Gleichheit/Isonomía Perikles (~ 450 v.): zB Nómos hýbreos; s. 5. u. 6. Std.: Pkt. II
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I. Emergenz der Person … (6)
Zur stufenweisen Entwicklung des Einzelnen (zum autonomen u. eigenverantwortlichen Rechtssubjekt), s. → Solons Gedicht menschlicher Altersstufen: ‚Graeca‘, Bd. III/1, Kap. III, S. 36 f Das griech. Familienmodell war realistischer, als das rö-mische: → väterliche Gewalt (Kyrieía/patria potéstas)* des Hausvaters (Kyrios/pater familias)* über Haussöhne nur bis zum 18. Lj., im römR solange Vater lebte; daher adjektizische Klagen: zB a. institoria/Geschäftsführer,* a. exer-citoria/Reeder,* a. de peculio/Sondervermögen*) → sog. Noxalhaftung* Töchter standen unter → Geschlechtsvormundschaft:* Vater, Ehemann …
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I. Emergenz der Person … (7)
Politische u. private Altersstufen/-grenzen im antiken Griechenland (Beispiele): 18 J.: Recht zur Teilnahme an der athen. Volksversammlung /Ekklesia* u. aktives Wahlrecht + HF (GF u. DF) 18-60 J.: Pflicht zur Kriegsdienstleistung, auch für Dichter (wie Aischylos!) …, nicht dagegen für Schauspieler! Ab 30 J.: passives Wahlrecht Ab 30 J.: Beamtenstellung + Volksrichter/Dikasten* in den athen. Volksgerichtshöfen/Dikasterien (bis 60 J.) + Mitglied-schaft im Rat/der Boulé* Ab 60 J. (nach 30-jähriger Gerichtspraxis) bestand Pflicht, Schlichtungsrichter/Diaitet* zu werden → Mediatoren! – s. Aristoteles, Rhetorik I 13, 1374b u. dazu ‚Graeca‘, Bd. I, Kap. I 1 (S. 72) u. 5 (S. 149 ff)
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I. Emergenz der Person … (8)
Zusammenfassung: Das Rechtssubjekt entsteht durch evolutive Anwachsung seiner privat- u. öffentlichrechtl. Fähigkeiten: Der Einzelne schließt Verträge (Tausch-, KaufVe, Schenkungen), erlangt ET (s. Bd. II/2, Kap. II 19!), erbt u. leistet Unterhalt, heiratet, adoptiert, führt Prozesse u. wird geklagt u. – das zählt nun zum öffentl. Recht – ent-scheidet als Richter (des Volksgerichts/Heliaía), erlangt eine Beamten-stellung, nimmt an der Volksversammlung teil od. leistet Wehrpflicht … Subjektfördernde Tätigkeiten: Politiker, Heerführer, Dichter, Sophisten (Gorgias, Empedokles: Auftreten!), Künstler, Philosophen, Rhetoren, Sportler (Olympia, Delphi, Nemea, Isthmia etc.), Mäzene; Bd. I, Kap. I 2, S. 115: Entwicklung des Individuums Antike: Polis verlieh Rechtssubjektivität mit BürgerR – Fremde u. Skla-ven waren ausgenommen! Jedoch → öffentlrechtl. (zB Freilassung) u. völ-kerrechtl. Instrumente (Isopolitie od. Sympolitie: wechselseitige Bürger-rechtsverleihung ). – Daneben Möglichkeit best. Rechte an Einzelpersonen (zB Metöken*) zu verleihen → Grundstücke zu erwerben (Enktesis*) od. zu heiraten: Engyesis* u. Ekdosis* uam.
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II. Moderne Beispiele … (1)
Beginnen wir mit Österreich: §§ (iVm § 43) ABGB: Allgemeines (!) Persönlichkeitsrecht zum Schutz der Person; ‚jeder‘ Personm, ohne Standesunterschiede ALR! Das B-VG 1920/1929 kennt keinen Schutz der Würde der Person u. kein allg. Persönlichkeitsrecht; ebensowenig die Verfassungen Frankreichs od. Englands Auch das StGG 1867 kennt noch keinen generellen personalen Schutz des Individuums; Menschenwürde etc. → Schwäche des öffentl. Rechts! Preuß. ALR (1794) kannte noch kein allgem. Persönlichkeitsrecht (wie das ABGB); Standesgliederung! Ähnlich der Code Civil (1804); kein allgemeines Persönlichkeitsrecht DtBGB (1900): § 1- RF des Menschen → Vollendete Geburt; jedoch BonnGG! Schweiz. ZGB (1912): Art. 28 ff – Persönlichkeitsschutz → ABGB!
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II. Moderne Beispiele … (2)
Vorbildlich das Bonner Grundgesetz (1949): Art. 1: Schutz der Menschenwürde – (1): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (2): „Das Deutsche Volk be-kennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschen-rechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ (3) „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Art. 2: Allgemeines Persönlichkeitsrecht – (1): „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungs-mäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
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II. Moderne Beispiele … (3a)
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: 1948 (Vorbildliche) Präambel*: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde u. ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit u. des Friedens in der Welt bildet, … verkündet die Generalversammlung [der Vereinten Nationen] die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern u. Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal ...“ Art. 1: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit „Alle Menschen sind frei u. gleich an Würde u. Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft u. Gewissen begabt u. sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ … Art. 6: Anerkennung als Rechtsperson – „Jeder Mensch hat überall Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson.“ … *Lit.: H. Barta 2003: Platons Plädoyer für Gesetzespräambeln. Dargestellt anhand der Arzt-Patient-Beziehung, in: Juridikum 4/2003, (2003) :
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II. Moderne Beispiele … (3b)
Auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), baut die Europäische Konvention zum Schutz der Menschen-rechte u. Grundfreiheiten ( ZP/1952) auf: Das Recht jedes Menschen auf Leben (Art. 2) Schutz vor Folter, unmensch-licher od. erniedrigender Strafe od. Behandlung (Art. 3) Verbot der Sklaverei, Leibeigen-schaft od. Zwangsarbeit (Art. 4) Recht auf Freiheit u. Sicherheit (Art. 5) Anspruch auf Rechtsschutz u. rechtliches Gehör (Art. 6) Nulla poena sine lege (Art. 7) Achtung des Privat- u. Familien-lebens (Art. 8) Freie Meinungsäußerung (Art. 10) Vereins- u. Versammlungsfreiheit (Art. 11) Recht auf Eheschließung u. Familiengründung (Art. 12)
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II. Moderne Beispiele … (4)
Als weiteres Beispiel der Rechtsstellung der ‚Person‘ im internationalen Recht verweise ich auf die: Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2007) – Art. 1: Würde des Menschen - „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ – Vgl. Art. 1 BonnGG! Ergebnis der Entwicklung: Der Mensch als Rechts-subjekt steht nicht am Anfang der RG, aber die Rechtsentwicklung steuert von Anfang an auf das Rechtssubjekt ‚Mensch‘ zu!
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II. Moderne Beispiele … (5a)
Worin liegt die Bedeutung dieser Entwicklung? Ua. Unterscheidung zw. ‚Person‘ ↔ ‚Sache‘ Zur ‚Sache‘ s. § 285 ABGB: Danach ist die ‚Person‘ Trägerin von Rechten u. Pflichten, während ‚Sachen‘ Gegenstand von Rechten u. Pflichten sind! § 285 ABGB:„Alles, was von der Person unterschieden ist, und zum Gebrauche der Menschen dient, wird im rechtlichen Sinne eine Sache genannt.“ Nach dem Vorbild der natürlichen Person (= Mensch) wird die juristische Person (als rechtliches Kunstgebilde) entwickelt! Jüngste Entwicklung: Schroffe Trennung zw. ‚Person‘ u. ‚Sache‘ wird für Tiere (s. § 285a ABGB) u. Pflanzen (NaturschutzGe der Länder) gelockert! → s. auch Folie III 10
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II. Moderne Beispiele … (5b)
Was bedeutet juristische Person? Die jurist. Person ist der natürl. Person nachgebildet …! Auch juristische Personen haben eigene Rechte u. Pflichten …! Zur Wahrung ihrer Interessen benötigen sie jedoch → natürliche Personen; heute zB: Vereinsvorstand od. Geschäftsführer/in einer GmbH Man unterscheidet bei juristischen Personen: Personenverbindungen (zB Verein, GmbH) → Griechenland: Polis u. Vermögensmassen (zB Stiftung, Fonds) → Ägypten: Totenstiftungen Es wäre ein Fehler, an juristische Personen der Antike gleich strenge Voraussetzungen anzulegen, wie an die der Moderne: Heute haften juristische Personen ausschließlich selbst, nicht ihre Organe od. gar die Mitglieder (etwa eines Vereins) Die ersten gesetzlichen Regelungen finden sich im antiken Griechenland: Solon gestattete den Zusammenschluß mehrerer Personen zu Handels-gesellschaften im Rahmen der gesetzlichen Ordnung …!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (1)
Betrachten wir nun die Genese des Begriffs ‚Person‘ bis zur voll-entwickelten Rechtsperson (des privaten u. öffentlichen Rechts): Um subjektive Rechte od. (gar) Rechte an der eigenen Person (PersönlichkeitsRe) zu schaffen, mußte der ‚Per-sonsbegriff‘ zuerst gesellschaftlich entwickelt u. rechtlich gefaßt werden; s. etwa Pkt. II (1) + (2) Das bedurfte (in der Antike) ua. der Auseinandersetzung mit der Sklaverei → Griechenland (‚Odyssee‘: Eumaios!) u. Rom (Sklavenmassen) → § 16 Satz 2 ABGB … Sklaverei bedeutete: Entpersönlichung, Verdinglichung: Mensch als Sache … → jedoch: große Unterschiede in Behandlung u. Rechtsstellung!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (2)
Paralleler ‚Prozeß‘: Genese von Recht, Staat, Person! Der Nómos hýbreos* (~ 450 v.: Perikleische Zeit) schuf erstmals Rechte an der ‚eigenen‘ Person für beide Geschlechter sowie Sklaven u. Sklavinnen! Das Gesetz sah eine Popularklage* vor; graphé hýbreos! Der nächste Schritt (im griech. Rechtskreis) waren die Alexandrinischen Dikaiomata* (~ 250 v.): Nun war eine Individualklage vorgesehen! (s. 5. u. 6. Std.) Über das Ptolemäische Ägypten wurde der bereits hochent-wickelte Schutz der Person an Rom (iniuria) u. Europa weiter-gereicht; s. etwa § 16 ABGB!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (3)
Wie kam es in nach-homerischer Zeit zum Erwachen der ‚Persönlichkeit‘? B. Snell (1941)* u. W. Schadewaldt (1989, III)* nennen in der Archaik vor allem die griech. Lyrik: Sappho, Alkaíos, Anákreon, Alkmán, Simonídes, Pin-dar, Archílochos u. die Elegiker Solon u. Mimner-mós; s. → Dichtung*, griech. Die Tragödie bezog Bürger/innen (bewußt) ein: / phóbos/Entsetzen + /éleos/gewaltige Rührung → kátharsis/Leuterung; s. Bd. III/1, Kap. III, S. 38 ff
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (4)
Die Entstehung der (Rechts)Person u. ihr Schutz (s. 5. u. 6. Std.) sind in der Entwicklung untrennbar verbunden u. aufeinander bezogen – gleichsam die beiden Seiten der Rechts-Person! Die Entwicklungslinie verläuft in Richtung Herauslösung der Einzelperson aus bestehenden Gemeinschaften (Stamm, Clan/ Sippe, Verwandtschaft, Familie) in Richtung → Rechtssubjekt + subjektive Rechte! Ausschaltung der Bevormundung (in Politik u. Rechtshandeln) durch Familie u. Verwandtschaft! → Widerstände! Jedoch: signifikante Unterschiede zw. den Geschlechtern … Weitgehender Abschluß der Entwicklung schon in der Antike (!), nicht erst im Christentum (s. Bd. III/1, Kap. V 3, S. 286 ff) od. noch später (etwa Renaissance, Aufklärung)!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (5)
Entwicklung hatte auch religiöse Wurzeln …! Religion u. Recht schützten den Toten- u. Ahnenkult (→ Fort-setzung der ‚Person‘ nach dem Tod): Ursprünglich familialer Umgang mit den Toten → Bestattung im Wohnbereich, zB Mykene ~ 700 v. (Zeit Hesiods) → Angst vor den Toten + Miásma: Bestattung außerhalb der Stadtmauern; anders Sparta! Daher Reinigungsrituale (Angstabbau!) + ‚Attic All soul‘s Festival‘! Mit der Angst vor den (Geistern der) Toten hängen offenbar auch Solons gesetzliche Anordnungen zusammen, dass über Verstorbene nicht schlecht geredet werden darf: → ‚De mortuis nihil nisi bene‘, postmortaler Persönlichkeitsschutz:* Schiller → Kant → Plutarch → Solon; Homepage: Graeca, Bd. II/1, Kap. II 10
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (6)
Bedeutung der ‚Hybris‘ bezüglich des personalen Schutzes im griech. Rechts-, Religions- u. politischen Denken: Hybris = Übergriff (im jurist. Sinne) aus dem eigenen Rechtsbereich in den eines anderen → Gewalt, Ver-messenheit, Überheblichkeit, Hochmut etc. … Ausdehnung des Schutzumfangs: Von Real-, auf → Verbal-Injurien u. schließlich auf den → Schutz vor jeder erniedrigenden Behandlung! Hybris verletzt Arkanbereich der Person: → für Gemein-schaften wichtig, weil nur so Vertrauen u. Kommunikati-on gedeihen – Polis brauchte diese Werte u. schützte sie!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (7)
Rechtliche Entwicklung zur ‚Person‘ war eingebettet in die allg.-gesellschaftliche; s. Folie I 8: ‚subjektfördernde Tätigkeiten.‘ Große rechtliche Entwicklungslinien des Themas: Entstehen der natürlichen u. der juristischen Person Entwicklung im privaten u. öffentlichen Recht sowie im materiellen u. formellen (= Verfahrens-) Recht; jenes betrifft Erwerb u. Gebrauch, dieses die Rechtsdurchset-zung (aktive u. passive Klagslegitimation) Unterschiedliche Entwicklung der Geschlechter … Schutz des Rechtssubjekts → s. 5. u. 6. Std. Herausarbeitung des Unterschieds: Person ↔ Sache! (§§ 285/292 ABGB ↔ § 90 dtBGB)
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (8)
Wichtiger Beitrag für die Rechts-Entwicklung durch Entdeckung des Gewissens: Das geschah in Ägypten am Ende des 3. Jts. v.! (sog. Erste Zwi-schenzeit) + Totengericht (Osiris)!; s. Bd. II/2, Kap. II 17 In Ägypten kam es damals zu einer Demotisierung der Totenreligion u. der Seelenvorstellung: Nicht nur der König hatte nunmehr eine (für das Jenseits nötige) unsterbliche Seele, sondern jeder Mensch → neues Menschenbild: indiv. Verantwortung im Totengericht! Ägypten: Person besteht aus mehreren Facetten; Ach, Ka, Ba, Name … Weiterentwicklung: Ägypten → Ka, Griechenland → Solon: thýmos = innere Stimme, Sokrates: Daimónion, Demokrit: Syneídesis = Gewissen, Stoa/Rom → Stoa/Pythagoräer: conscientia = Gewissen, Germanisierung → Notker v. Sankt Gallen, 11. Jh. = Gewissen
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (9a)
Untersuchungen von Hirzel, Weiss, Bruck etc. (zu Griechenland): Rudolf Hirzel, Die Person. Begriff u. Name derselben im Altertum (1914)* → Folien III 10-12 Egon Weiss, Griech. Privatrecht I (1923, 137 ff):* Folien 13-19 Eberhard F. Bruck, Totenteil u. Seelgerät (1926/1970)*; s. Bd. II/1, Kap. II 10 Albrecht Schnaufer, Frühgriech. Totenglaube (1970)* Tagung ‚Lebend(ig)e Rechtgeschichte‘: 12/2015 – Themati-sche Ergänzung durch alt-orientalische, ägyptische, jüdische, römische u. islamische Entwicklung! → s. Folie: III 9b
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (9b)
Alter Orient noch wenig erforscht; s. aber Gebhard J. Selz, Sumerer u. Akkader. Geschichte, Gesellschaft, Kultur (2010 ²) Danach spielten im Alten Orient für die Entwicklung zur ‚Per-son‘ (anders als in Griechenland) vor allem Großinstitutionen eine Rolle: Tempel u. Palast → Herrscher- u. andere Führungs-persönlichkeiten! Beginnend mit der Akkadzeit! Daneben entwickelte sich das (private) Individuum, gefördert durch → Herausbildung von individualisiertem Eigentum (SachenR) u. → Verwendung der Schrift (zuerst im wirtschaftl. Verkehr): Marktaustausch Zur Entstehung der Schrift in der Spät-Urukzeit (~ v.) in der Wirtschaftsverwaltung; Selz, aaO 23 ff Dies ermöglichte Ausbildung von → Erbrecht!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (10)
Rudolf Hirzel (1914)*: Erstes griech. Wort für ‚Person‘ war: Soma/ → lebender Körper (als Träger der Person)! Dieses Verständnis wurde auf den toten Körper/Leich-nam erstreckt; noch heute: unterschiedliche Meinungen über Leichnam (Person od. Sache? → Transplantation)! Da der Körper Träger der Person war, hatten (bei Grie-chen u. Germanen) auch Tiere eine gewisse Personsqua-lität (mit Rechten u. Pflichten) → Tierprozesse! Vgl. nun § 285a ABGB u. – diesem folgend – § 90a dtBGB: „Tiere sind keine Sachen; [jedoch!] …“
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (11)
Seit Homer bedeutet Soma/ mehr als ‚Körper‘ → auch Seele//Psyché: Körper u. Seele werden Sitz der Person! Wandel zur → Seele, ~ parallel mit Wechsel (der Grie-chen) von Erd- zur Feuerbestattung; Schnaufer (1970) Bei Platon (Dialog ‚Timaios‘) ist bereits die Seele das Wesentliche → Soma-Sema-Lehre: Bild vom Wagenlen-ker u. weißen u. schwarzen Pferden; vgl. Upanishaden! Soma-Begriff (der Griechen) blieb nicht auf Einzelmen-schen beschränkt → Soma póleos/ = Körper der Polis/collectiv body (!) iSv: Summe der Bürger → Anfänge der jurist. Person als Personenverbindung …!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (12)
Nächster Schritt → neuer Personsbegriff; anstelle von ‚Sóma‘ → Prósopon/ = gr. Gesicht, Antlitz (als Spiegel von Körper u. Seele) Moderner Personsbegriff ist nicht vom lat. personare (iSv: durch die Maske durch-tönen) abgeleitet! – Lat. Begriff ‚persona‘ fand zwar Eingang in die Rechtssprache, spielte jedoch genetisch keine Rolle! Hellenismus (~ 320 v.): Begriff Prosopeíon/ für ‚Maske‘ → u. idF Rolle, Charakter Wort ‚Charakter‘ stammt von Theophrast*; Lesetip: ‚Charaktere‘, gr./dt. Reclam-Universalbibliothek, Nr. 619 (2000)
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (13)
Egon Weiss (1923)*: Mit Weiss beginnt die juristische Betrachtung des Begriffs ‚Person‘ u. ihrer rechtlichen Eigenschaften u. Bezüge bei den Griechen …! Auch er unterscheidet zw. älterer körperbezogener Soma- u. jüngerer Seelen-Lehre als Trägern der ‚Person‘ … Konsequenzen dieser Entwicklung: → Rechtliche Zurechnung (für menschl. Verhalten) wird subtiler (Abstellen auf Wollen, Wille …): idF Wandel → von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung! s. 11. u. 12. Std. Allgemeine Bestattungspflicht: Achtung des lebenden Körpers wird auf Leichnam übertragen! → Vorstellung vom ‚(weiter)lebenden Leichnam‘ → postmortaler Persönlichkeitsschutz (s. oben Folie III/5): Solon! 594/593 v. – Antikes Beispiel: ‚Antigone‘ des Sophokles …! Weitere Betonung des Gegensatzes: ‚Person‘ ↔ ‚Sache‘!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (14)
E. Weiss (1923): Totenrecht: … körperliches Fortleben Verstorbener nach Tod u. Bestattung hatte rechtl. Folgen → Rechtspersönlich-keit endete nicht mehr mit dem Tod! → Konsequenz … Toten wurde ihre gesamte Habe (= Totenteil) mit ins Grab gegeben …!; s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 19, S. 296 ff: E. F. Bruck* u. A. Schnaufer*! Nächster Schritt: an die Stelle des Totenteils treten → Sur-rogate als Abfindung der Toten …; Mykene: ‚Figuren‘ statt Menschen u. lebenden Tieren → zuletzt: Doppelobolos! Modernes Totenrecht: Keine Regeln im ABGB! → Lückenfüllung* nach § 7 ABGB: RichterR! – Lit.: LB 2004, II 723 ff + ‚Graeca‘ Bd. III/2, Kap. VI 3
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (15)
E. Weiss (1923): Auch die Götter galten als Rechtssubjekte, denn sie wurden als Ahnen der Menschen betrachtet … … daher rechtl. Schutz von Göttergut → Tempelschatz …! Verwaltung des Göttergutes durch Tempel- od. Staats-organe ‚Götter‘ schlossen Verträge u. waren formell Gläubiger u. Schuldner etc. – Das förderte die Entwicklung der jurP u. anderer Rechtsinstitute (wie Stellvertretung u. Treuhand) Dem personalen Schutz diente auch hier die → Hybrisklage: s. 5. u. 6. Std.
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (16)
E. Weiss (1923): Die wichtigste rechtliche Konsequenz des Personsver-ständnisses war die → Rechtsfähigkeit*/RF = Fähigkeit Träger (eigener) Rechte u. Pflichten zu sein! Heute: RF (s. § 16 ABGB) → HF Trotz Fehlens dieser Begriffe existierte schon in der griech. Antike ein sachlich-normatives Substrat; nämlich → Regeln über den Verlust der RF: Atimie* → Griechen capitis deminutio* → Römer Friedlosigkeit*/Ächtung → Germanen Alter Orient? GF DF
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (17)
E. Weiss (1923): Das Bürgerrecht vermittelte idR → ‚volle‘ RF! In Statusgesellschaften* wurde unterschieden: status libertatis (frei ↔ unfrei) status civitatis (Bürger/in ↔ Fremde/r; später: Ständewesen!) status familiae (Vater/Mutter ↔ Kinder, ehelich ↔ unehelich) Es gab Zwischenstufen → zB Metöken:* Aristoteles u. Theophrast waren keine Athener Berühmte Entwicklungs-Formel (von H. S. Maine*): ‚From status to contract …‘! Noch heute prägt soziale Herkunft, … Status! Aber moder-ne Gesellschaften sind (sozial) durchlässiger!
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (18)
E. Weiss (1923): Kinder setzten (in der Antike) die Rechtsstellung/Status der Eltern fort; heute → sozialer Status!: aber Unterschiede zw. Söhnen u. Töchtern: Töchter → Mitgift, Söhne → Erbrecht, Mitwirkung im öffentl. Leben, GF etc. Atimie u. Verbrechensfolgen trafen auch die Kinder, ebenso die über Tyrannen verhängte Acht; Kritik Platons Es gab auch eine Teilrechtsfähigkeit → Frauen waren zwar rechts-fähig, aber nicht (voll) geschäftsfähig; ähnlich Metöken* Heute vermittelt Geburt ‚volle‘ RF → § 16 ABGB: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet.“
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III. Langer Weg zum Begriff ‚Person‘ … (19)
E. Weiss (1923): Heute vermittelt § 16 ABGB ein allgemeines Persönlich-keitsrecht! – iS einer Generalklausel! Was bedeutet das? → Wenn gesetzlicher Schutz (für Person) fehlt, kann er aus § 16 ABGB gewonnen werden! – Das war modern gedacht! Namenschutz (heute: § 43 ABGB), existierte in Ansätzen schon in der griech. Antike; Euripides: ‚Iphigenie in Aulis‘, Achilleus! – Indiz für eine beachtliche rechtl. Entwicklung! Moderner Rechtsschutz der Person (im Privatrecht): Per-sönlichkeitsschutz der §§ 16, 17, 18 iVm § 43 ABGB → Un-terlassungsklage od. Schadenersatz (bei Verschulden)!
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Übersicht 5. u. 6. Stunde: Persönlichkeitsschutz – Hybris
20. April April 2015 Aufwertung der Polisbürger/Politen durch Solon Hybrisklage + Nómos hýbreos: ~ 450 v. III. Alexandrinische Dikaiómata: ~ 250 v. IV. Zusammenfassung
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I. Aufwertung der Politen: Solon (1)
Erinnerung: Entwicklung des Begriffs ‚Person‘, im Rah-men der Polisbildung; polit. (nicht relig.) Hintergrund! Poliskonzept u. Bürger: Polis = Summe der Bürger → /hoi Athenaíoi Solons Grundwerte (Freiheit, Gleichheit, polit. Teilhabe) verlangten nach personalem Schutz ‚jedes‘ Bürgers gegen Übergriffe (Hybris) aller Art → Hybrisklage Rechtsschutz des Einzelnen sollte polit. Werk absichern! Schutz vor Hybris hatte auch eine religiöse Wurzel: im ‚Über-griff‘ lag eine Herausforderung der Götter, die geahndet wurde; s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 14
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I. Aufwertung der Politen: Solon (2)
Rechtliche Einordnung der Hybrisklage? E. Weiss (1923): Zuweisung ins → öffentlR! J. H. Lipsius: … auch → privatrechtliche Anteile! Das ist (wie die Entwicklung zeigt) zutreffender → Annah-me einer quaestio mixta! s. Folie II 2! Dafür spricht auch die Entwicklung der Zwangsvollstrek-kung, deren Genese (von der Personal-, zur Vermögens-exekution) einen wichtigen Beitrag leistete! → Solon! Beachte: Voraussetzung war, dass das Recht am eigenen Körper nicht mehr als ET-Recht, sondern als Schutzrecht an der eigenen Person verstanden wurde → Solons Verbot des /daneízein (Plutarch, Solon 15, 2)! – Noch im 19. Jh. Ablehnung des Persönlichkeitsschutzes durch F. C. v. Savigny (D) + J. Unger (Ö)!
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I. Aufwertung der Politen: Solon (3)
Personaler Rechtsschutz des Polisbürgers war: … ein Baustein im politischen System, der auch … dem Schutz der freien Persönlichkeit diente! Solons personaler Rechtsschutz umfaßte schon: … den Schutz Lebender u. Toter → sog. postmortaler Persönlichkeitsschutz! … s. Folie III 5: 3. – 4. Stunde Dieser Schutz steigerte sich bis zur Mitte des 5. Jhs. v. → Beginn eines Schutzes der Menschenwürde mit dem Nómos hýbreos …!
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I. Aufwertung der Politen: Solon (4)
Dem Rechtsschutz gegen Übergriffe (Hybris) liegt (bis heute!) zugrunde: … der Wunsch nach menschlicher Anerkennung! … individueller u. kollektiver Gewalt liegt häufig ein ent-täuschter Wunsch nach Anerkennung zugrunde (s. ‚IS‘)! Akzelerierter gesellschaftl. Wandel (→ Modernisierung) schafft Identitätsprobleme u. Entfremdungsphänomene: Gefahr der Gewalt → heute bspw. Islamismus! Ehrempfinden der Griechen war eher zu stark, als zu schwach ausgeprägt – H. J. Gehrke:* „Der Verlust der Ehre war in dieser Gesellschaft tödlich, bedeutete den Verlust der sozialen Exis-tenz.“ → Vgl. bis ins 20. Jh.: Duell …!
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I. Aufwertung der Politen: Solon (5)
Solons Wertgrundlage bestand überwiegend aus bäuerlichen Werten: … die Wertschätzung von Fleiß u. Arbeit stammt nicht erst aus dem Christentum …! Heroisch-kriegerische Tugenden (→ Homer) waren für die Poliskultur ungeeignet, daher … Werteverschmelzung durch Solon, um alle Bevöl-kerungsgruppen einbinden zu können: Bauern, Aufsteigergruppen (Handwerk, Gewerbe, Handel), Aristokraten, unselbständige Arbeiter …
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I. Aufwertung der Politen: Solon (6a)
Rom konnte (den hohen Standard) des griech. Persönlichkeitsschutzes übernehmen: … sowohl das Konzept der Hybrisklage → a. iniuriarum als auch die → Popularklage (bei öffentl. Verbrechen), die von jedem Bürger (quivis ex populo) erhoben werden konnte … Erklärt wird die griech. Popularklage als → Ersatz für das Herauslösen des Einzelnen aus dem Familien- u. Gentil-verband + Zusammenhalt in der Polis sollte dadurch ge-stärkt werden → K. Latte*
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I. Aufwertung der Politen: Solon (6b)
Übliche Darstellung der rechtshistor. Entwicklg des Persönlichkeitsschutzes ist unbefriedigend: Vgl. M. Kaser*, Das röm. Privatrecht 1971, 623 f: „Etwa seit dem Anfang der [röm.] Klassik [d. s J. nach Solon u J. nach dem Nomos hybreos!] umfaßt […] das Delikt über die Realinjurien hinaus jedes Verhalten, das eine bewußte Mißach-tung der fremden Persönlichkeit und damit wie die griechische [Hybris] eine Überhebung der eigenen Person enthält.“ – (?) Das ist für Kaser alles!
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I. Aufwertung der Politen: Solon (7a)
In der Archaik ist das Handeln Einzelner noch stark in Gruppe u. Gemeinschaft eingebunden: Rechtliches Ahnden von Hybris durch → Popularklage bringt das zum Ausdruck …! Verletzung Einzelner wurde als → Verletzung der Ge-meinschaft verstanden! → Konsequenz: Popularklage! Ehre, Achtung, Ansehen des Einzelnen u. seiner Fami-lie, Verwandtschaft etc. war nicht zu trennen! … diese Werte waren in der Archaik noch stark ‚außen-bestimmt‘ → s. noch heute: Widerruf im MedienR!
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I. Aufwertung der Politen: Solon (7b)
Juristisch werden die zunächst bloß ‚äußeren‘ Tb-Elemente schließlich nach ‚innen‘ verlagert: → ‚Handeln mit verwerflicher Gesinnung‘ (= vorsätzliches Handeln): Das entspricht der Entwicklung im Mord- u. Totschlagsrecht (seit Drakon) → Unterscheidung zw. vorsätzlicher ( ) u. unvorsätz-licher ( ) Tötung in der Verschul-denshaftung; s. ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 4 u. 5
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I. Aufwertung der Politen: Solon (8)
Hybris geht von roher Gewalttat aus, wird dann aber wichtig für die Entwicklung von Verschulden: → von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung = Abstellen auf innere Einstellung Handelnder (iSv verwerflicher Gesinnung); s. 11. u. 12. Std. Hesiods Gleichnis vom ‚Habicht und der Nachtigall‘ (in: ‚Werke und Tage‘): … Hesiod prangert das von Mächtigen vertretene ‚Recht des Stärkeren‘ (= Habicht) gegenüber Schwächeren (= Nachtigall) an! → Thukydides: Melierdialog …! Hesiods Rat an seinen Bruder: „Du, mein Perses, höre aufs Recht, mehr` nicht die Gewalttat [Hybris], …!“
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II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (1a)
Hybrisklage ist älter, als Nómos hýbreos (~ 450 v.) u. reicht ins 7. Jh. v. zurück: … schützt (wie erwähnt) Einzelne u. Gemeinschaft ge-gen eigenmächtige (gemeinschaftsschädl.) ‚Übergriffe‘! Dieser Zielsetzung entspricht ihre tatbestands- u. rechts-folgenmäßige Ausgestaltung als → /graphé = Po-pular- od. Schriftklage + Ausgestaltung als aestimatoria! Klagslegitimiert: Bürger + Staatsorgane, zB Archonten … enthält Elemente aus verschiedenen Rechtsbereichen: Straf-, Zivil-, Verfahrens- u. Staatsrecht … diente als Gleichrichter (in der Polis): Isonomie → Schutz der Menschenwürde!
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II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (1b)
Fortsetzung: … der ursprünglich (bloß) hellenische Gleichheits-gedanke wird von Dichtern (Aischylos, Euripides) u. Sophisten (Antiphon*) auf Nicht-Griechen er-streckt: Fremde*, Metöken*, Sklaven/Sklavinnen! s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 14, S. 156: Antiphon – erster Jurist Europas! … Antiphon (Oxyrhýnchos Papyrus): „[…] unsere eigenen Normen kennen und achten wir, doch diejenigen derer, die fern von uns woh-nen, kennen wir weder noch achten wir sie. Hierin also haben wir zu-einander das Verhalten von Barbaren angenommen, haben wir doch jedenfalls von Natur alle die gleichen Voraussetzungen, […]“
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Hybrisklage u. Nómos hýbreos (2a)
Text des Nomos hybreos: „Wer ein Kind, eine Frau oder einen Mann, seien sie Freie oder Sklaven, tätlich beleidigt oder gegen sie etwas Gesetzwidriges unternimmt kann von jedem Athener bei den Thesmoteten verklagt werden.“ – „ - , “ Nomos hybreos (~ 450 v.) statuiert in Form einer Generalklausel, ein allg. Persönlichkeitsrecht, das durch Popularklage geltend zu machen war; überliefert durch Demosthenes (XXI 47 /gegen Meidias) u. andere Attische Redner Zum griech. Persönlichkeitsschutz: s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 14. – Dieser Schutz stammt aus Perikleischer Zeit, eine genaue Datierung ist bisher nicht möglich. – ‚Weite’ u. ‚Qualität’ der Norm tendierte bereits in Richtung → Menschenwürde; vgl. § 16 Satz 1 ABGB!
101
II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (2b)
Der Nomos hýbreos (als Gesetz) fing gelebte Praxis (Gewohn-heitsR) ein u. ergänzte sie um bisherige Lückenerfahrungen (ohne die alten Spezial-Tbe zu beseitigen); das waren: /díke biaía (od. ) = Gewaltanwendung []/díke aikeía (od. ) = Körperverletzung []/díke kakegorías = Ehrverletzung /díke blábes = allgemeine Schadensklage Entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des Nomos hýbreos: General-Tb: Schritt von Kasuistik/Spezial-Tatbeständen zur → Generalklausel! … das bedeutete legistisch einen großen Fortschritt! → Anpassung an sozialen Wandel durch Rspr. (ohne Gesetzgeber!) wird möglich! – Heu-te dient § 7 ABGB der Lückenfüllung; echte u. unechte Lücken!
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II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (3)
Große Ähnlichkeit der röm. ‚iniuria‘ mit der griech. Lösung: Die römische Klage war wie ihr griech. Vorbild eine a. aestimatoria; s. nächste Folie Hinweise auf eine Rezeption finden sich bei: Hitzig* (1899), D. Medicus (DKP II 1411), F. Pringsheim* (1932, 86 ff) u.a.; zur röm. Klage: F. Raber* (1969), s. auch → Folie I 5 … aber es bestanden auch Unterschiede! – Der röm. Lösung fehlte der starke egalitäre Gemeinschaftsbezug u. lange auch der weite Schutzaspekt; s. Folie I 6b: Kaser! … Die beiden verwandten, aber doch unterschiedlichen Klagen – u. a. iniuriarum – spiegeln den Unterschied der polit. Systeme u. Rechtskultur Griechenlands u. Roms wider …! … Probleme des Nachweises von Rezeptionen, Transfers udgl.
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II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (4a)
Die war nicht nur als Popularklage, sondern auch mit richterlicher aestimatio poenae ausgestattet, also eine sog. a. aestimatoria! Interessante Entwicklung: → offen …, → fixiert … u. schließlich wieder → offen! – s. ausführlicher Folie II 4b … es existierten keine Straf- u. Schadenstaxen, sondern der/die Richter konnte/n die Strafe od. Schadenshöhe frei bestimmen …! Die röm. a. iniuriarum folgte diesem Vorbild! (Kaser spricht von Quellenfremdheit der röm. Lösung!): s. schon Folie I 6b! Die Klagsgestaltung als a. aestimatorio verlieh Anpassungsfähigkeit u. Flexibilität; u. dies nicht nur im Tatbestand, sondern auch hin-sichtlich der Rechtsfolgen! Das war ein Beitrag zur Lückenfüllung*!
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II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (4b)
Von freier Sanktionsvereinbarung, zu festen Bußgeldsätzen zur richterlichen aestimatio poenae: Erster Schritt = frühe Selbsthilfe* kannte nur die freie Vereinbarung von Buße; sog. Aidesis* Zweiter Schritt = Einführung fester Bußgeldsätze; zunächst aber mit ständischer Abstufung (in Preußen noch im 19. Jh.!) – Demokratische Gleichheitsvorstellungen verlangten gleiche Bußgeldsätze…! (Erhöhung der Rechtssicherheit!) Dritter Schritt = mit Festigung der bürgerlichen Gleichheitsvorstellun-gen konnte man von dem als zu starr empfundenen System fester Bußgeldsätze wieder abgehen → aestimatio poenae/a. aestimatoria = gerichtl. Sanktionsanpassung im Einzelfall s. Nomos u. graphé hýbreos! Lit.: ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 14, S. 163 f
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II. Hybrisklage u. Nómos hýbreos (5)
Zur Etymologie von Hybris/: … das Wort stammt aus dem Hethitischen (Lehnwort!) u. gelangte über das Griechische in den Wortschatz europäischer Sprachen! ‚Hybris‘ ist Ur- u. Quellgrund des rechtlichen Persön-lichkeitsschutzes u. zwar: des Grundrechts- u. Menschenrechtsschutzes → öffentlR des Strafrechts → öffentlR u. des privatrechtlichen Schutzes → durch Persönlichkeits-rechte!
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III. Alexandrinische Dikaiómata (1)
Alexandria* gilt allgemein als Rezeptions-brücke zw. dem griech. Mutterland u. dem Ptolemäischen Ägypten … … Demetrios von Phaleron* (dritter u. letzter Gesetzgeber Athens: ~ 317 v.) war ein wichtiger Vermittler → Ptolemaios I: 323/ v. … emigrierte ins ptolemäische Ägypten u. nahm sein reiches legistisches Wissen mit! … darunter wohl auch die athenische Hybris-regelung!
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III. Alexandrinische Dikaiómata (2)
Der Dikaiómata-Papyrus od. Papyrus Halensis I stammt aus der Zeit um ~ 250 v.: … dies ante quem Neben Einzel-Tatbeständen enthält der Papyrus eine Hybris-Generalklausel* … Die Aufzeichnungen stammen vermutlich aus einem Anwaltsbüro eines sog. Synegoros …! Dikaiómata/* waren Beweisurkunden … Römische Rezeption lief vornehmlich über Alexandria → nach 30 v. …
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IV. Zusammenfassung (1) Mit dem Entstehen der (Rechts)Person wird klarge-stellt, dass das Recht den Menschen achtet u. schützt …! … u. zwar nicht nur den Einzelnen, sondern auch (in) Gruppen u. Gemeinschaften … … Verantwortung tragen diesbezüglich nicht nur Juristinnen u. Juristen, sondern alle Menschen! … vgl. das Programm des § 16 ABGB: „Jeder Mensch hat angeborne … Rechte …“! (s. 3. u. 4. Std.: Folie III 18) Rechtgeschichte kann uns darin bestärken, Erreichtes zu sichern u. weiter zu entwickeln! …
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IV. Zusammenfassung (2) Ich wollte mit diesem Kapitel zeigen:
… dass die Rechtsgeschichte/RG zum Verständnis des Entstehens der ‚Person‘ etwas beitragen kann; … wozu kommt, dass die Entwicklung zeigt, dass das Recht die Unterstützung anderer Disziplinen (Geschichte, Philo-sophie, Soziologie, Religionswissenschaft, Kunst, Wirtschaft uam.) braucht, um seine Aufgabe erfüllen zu können → Interdisziplinarität …! RG regt dazu an, aus der Geschichte heraus sich mit Gegen-wart u. Zukunft auseinander zu setzen …! Man kann aus der Geschichte lernen, wenn man diese Möglichkeit nicht ausschlägt …!
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IV. Zusammenfassung (3) Exkurs: Das moderne (Rechts)Subjekt
im Gegensatz zu Antike, Mittelalter u. früher Neuzeit ist der moderne Mensch – ohne Ausnahme – Rechtssubjekt; vgl. § 16 ABGB Der moderne Mensch ist rechtlich autonom u. … bestimmt über sich selbst! Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch auch der moderne Mensch als in mancher Hinsicht abhängig: → politisch … u. vor allem ökonomisch!
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‚Recht und Religion‘ „Das Menschenleben selbst führt immer und überall zur Feier bestimmter Phasen, Geburt, Mannbarkeit, Hochzeit, Tod, ebenso der Wechsel der Jahreszeiten und der durch sie bedingten Hauptarbeiten, Saat und Ernte vor allem. Das fordert Heiligung, so dass die religiösen Gefühle im wesentlichen dieselben bleiben, wie immer sie sich ausdrücken, und die Götter, an welche sich Bitte und Dank richten, wechseln können, ohne dass es für die Religion und selbst den Festbrauch viel ausmacht.“ U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, 2 Bde. (Darmstadt, 1973)*
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Übersicht 7. u. 8. Stunde: ‚Recht und Religion‘
7. Stunde: 4. Mai – 8. Stunde: 11. Mai 2015 Einleitung … Das Nomologische Wissen: Bd. III/1, Kap. III 4, S. 134 ff Die Olympische Religion – K. Meulis Erklärung der ‚Griech. Opferbräuche‘: Bd. I, Kap. I 7, S. 215 ff u. 230 ff Ma‘at und Eunomía: Bd. II/2, Kap. II 17 Zusammenfassung …
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I. ‚Recht‘ und ‚Religion‘ - Einleitung (1a)
Was waren die Wurzeln der gesellschaftlichen Normativität? Es waren zwei Ziele, die entscheidend zur Ent-wicklung von Normativität beigetragen haben: die Sicherung des Überlebens der Gruppe u. die dafür nötige Gruppenordnung, die zur gesell-schaftlichen Ordnung wird; s. → Folie: I 1b Soziale Werte – nicht nur (Körper)Kraft u. (ge-sellschaftliche) Macht – spielten in der Evolu-tion von Mensch u. Tier (!) eine wichtige Rolle!
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I. ‚Recht‘ und ‚Religion‘ – Einleitung (1b)
Gemeinschaftswerte entstehen aus individuell u. sich erwei-ternder kollektiv gelebter Gewohnheit, die bei Bewährung als vor-bildlich (!) zur ‚Sitte‘ (iSv geronnener Erfahrung) wird … K. Lorenz (‚Das sog. Böse‘)* betonte den Wert gelebter Gewohnheit für Mensch u. Tier; sie schafft → Verhaltenssicherheit: Von ver-festigter Gewohnheit kann nicht ohneweiters abgegangen werden, ohne bei sich od. anderen Angst u./od. Abwehrreaktionen hervor-zurufen … → berührende Geschichte von der Graugans ‚Martina‘! Für K. Meuli* ist ‚Sitte‘ die ‚verpflichtende Formel des Vorbildlichen‘! → dient dem Überleben u. Wohl der Gruppe! Sitte = erster Schritt zur Normativität, bei Devianz: Mißbilligung! Recht setzt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen; Gefähr-dung des Gemeinwohls, bei sonstiger Sanktion (Sinn: sichert Ge-meinwohl u. dient Überleben) → Frühzeit: harte Sanktionen!
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I. ‚Recht‘ und ‚Religion‘ - Einleitung (1c)
Gewohnheit = Quelle aller Sozialnormen (~ Nomologisches Wissen), also von: Religion, Recht, Sitte, Brauch, Moral … GewohnheitsR: aus (normativer) ‚Sitte‘ entsteht unter bestimmten Voraussetzungen, das stärker strukturierte u. sanktionierte Gewohn-heitsR, als nicht verschriftetes Recht (Entstehungs)Kriterien: langdauernde + gleichförmige Übung + Rechtsüberzeugung; sog. opinio iuris … Neben Gewohnheit existiert (auch schon in der griech. Archaik) autoritativ gesetztes Recht = → Thesmos; Beispiele: Drakon, Solon Entwicklung verlief vom: Alten Nomos = Nomolog. Wissen, zum → Thesmos = autoritativ gesetztes Recht, zum → Neuen Nomos = demokratisch vom Volk beschlossenes Recht
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I. ‚Recht‘ und ‚Religion‘ – Einleitung (2)
‚Recht‘ u. ‚Religion‘ (soweit diese normierend war) sind in der Frühzeit Teile eines normativen Werte-Amalgams, des Nomo-logischen Wissens (s. Pkt. II), das als gesellschaftliches Steue-rungswissen zunächst alle Sozialnormen umfaßte: Neben Recht u. Religion, auch Sitte u. Moral … Der Begriff ‚Nomologisches Wissen‘ stammt von Max Weber … Die Elemente dieses Normkonglomerats differenzieren sich nur langsam aus u. gewinnen allmählich an Selbstständigkeit … Recht avancierte durch seinen ‚irdischen‘ Sanktionsmechanismus u. seine raschere Anpassungsfähigkeit zum wirkungsvollsten Teil dieses gesellschaftlichen Steuerungswissens ... R. Maschke (1926/1968):* „… für Religion, Sittlichkeit und Recht [bestand bei den Griechen] keine getrennte Buchführung“
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I. ‚Recht‘ und ‚Religion‘ – Einleitung (3)
Recht u. Religion können als Geschwister des ur-sprünglichen Werte-Amalgams ( Nomologisches Wissen/NW; s. Pkt. II), bezeichnet werden! Beide Typen von Sozialnormen wollen dazu beitragen, Gesellschaft möglich zu machen …! … wenngleich mit unterschiedlichen Mitteln …! Daher bildeten bei den Griechen ( u. in frühen Gesell-schaften) Recht u. Religion wertmäßig eine Einheit: R. Maschke:* ‚… keine getrennte Buchführung‘! Olympische Religion = normativer Gleichrichter …!
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II. Nomologisches Wissen (1)
NW = voneinander noch mehr od. weniger ungeschiedenes, gesetzesähnliches (das meinte M. Weber mit ‚nomologisch‘!) gesamt-gesellschaftliches Steuerungswissen … … diente als kulturelle Überlebensstrategie! … Recht u. Religion (als wichtigste, ursprünglich aber nicht streng voneinander getrennte, Segmente dieses Wissens) unter-schieden sich zunächst dadurch, dass sich Recht vor-nehmlich auf Erfahrungswerte zwischenmenschlicher Beziehungen u. deren Ordnung beschränkte, während Religion u. Mythos eine (Sinn)Deutung der gesamten menschlichen Umwelt (Natur, Gesellschaft, Sichtbares u. Unsichtbares + bislang Unerklärtes) versuchten; s. schon: 1. u. 2. Std., Pkt. IV → Folien IV 4-7
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II. Nomologisches Wissen (2)
Gründe für den sukzessiven Wandel vom Alten Nomos/ NW zum → Thesmos? … es brauchte bereits in der 2. Hälfte des 7. Jhs. v. ein adäquateres normatives Instrument, um den gesell-schaftlichen Wandel zu bewältigen u. effizienter auf Neues u. gesellschaftl. Herausforderungen antworten zu können, als das behäbige NW! Vgl. K. J. Hölkeskamp 1994, 155 f* u. ‚Graeca‘, Bd. III/1, Kap. III 4, S. 136 f Die Soziale Kontrolle war in frühen Gesellschaften groß …! … daher die große Wirksamkeit der Sozial-Normen! H. Kantorowicz* u. G. Gurvitch hielten ihre Wirksamkeit für größer, als von Rechts-Normen!
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II. Nomologisches Wissen (3)
Ch. Meier: „[NW] ist jenes Allgemeine, Übergeordnete, Nor-mative, auf das wir unser Denken, Handeln u. Erleben zu be-ziehen pflegen, in das dieses Denken, Handeln, Erleben einzu-ordnen sein muß, damit die Dinge stimmen.“ (1988)* Meier hat den Begriff von M. Weber* übernommen, der ihn nicht näher ausgeführt hat …! England, USA sprechen von: → inherited conglomerate … … es ist ‚sinn-konstituierend‘ u. hat Bezug zur Moral … … u. hat auch ‚unbewußte‘ Anteile → Werte der Sozialisation! … es ist dynamisch, also veränderbar, muß aber (um Sicherheit zu vermitteln) auch eine ‚gewisse Widerstandskraft‘ haben! → Das Recht muß auf Rechts-Sicherheit achten! – Andere Beziehung von Recht u. Kunst zur Gesellschaft! - Tonio Hölscher (2007)* Das NW ist nicht systematisch geordnet u. diente der individuellen u. kollektiven Orientierung → Erziehung, Sozialisation…!
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II. Nomologisches Wissen (4)
NW u. Wissenschaftsentwicklung: … ist von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung! … es stimmte zB ‚Politik‘, ‚Ethik‘ u. ‚Recht‘ normativ auf-einander ab u. erleichterte das Entstehen der Wissen-schaftsdisziplinen Ethik, Politik(wissenschaft) u. Jurispru-denz! – Leistung der Philosophie: Platon, Aristoteles, Theophrast Das führte zum Entstehen der Jurisprudenz als Wissenschaft schon im antiken Griechenland u. nicht (wie meist angenom-men) erst in Rom! Einstellung der Griechen zum Recht war eine andere als in Rom → keine legal isolation! – Justinians Hybris (Beginn der Digesten): Juristen sind Priester des Rechts u. die wahren Philosophen ... … bei den Griechen war das Recht Teil einer gesamt-gesellschaftli-chen Betrachtung!
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III. Olympische Religion (1)
‚Recht‘ u. ‚Religion‘ verleugnen (in ihrer Entstehung) die Ur-sprungsverwandtschaft aus dem NW nicht ….! Religiöse Vorstellungen u. Werte mußten (wie rechtliche), um in den (Götter)Himmel gehoben werden zu können, zu-erst auf Erden (in menschl. Gesellschaften) erdacht worden sein …! → s. die folgende Graphik aus ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 7 … als menschliche Hoffnungen, Gefühle, Ängste, Wunsch-vorstellungen uam. …! Nach Transferierung dieser Werte von der ‚Erde‘ in den ‚Himmel‘ war es möglich, sie von dort als höchste, erdent-rückte, religiös-göttliche Werte erneut auf die Erde ‚herun-terzuholen‘, um damit gesellschaftl. Ziele zu verfolgen!
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III. Olympische Religion (2) Zeus-Epiklesen und das Entstehen göttlicher und rechtlicher Werte
… wo die menschlichen Werte in religiöse Werte umgewandelt werden! 3 4 Religiöse Werte fließen erneut in gesellschaftlich-rechtliche ein! – Vgl. Jane E. Harrison (1963): „The god is the reflection, the projection of man‘s emotions socially reinforced.“ 2 1. Zeus Xeínios 2. Zeus Hikésios 3. Zeus Polieús 4. Zeus Kathársios 5. Zeus Eleuthérios 6. Zeus … Die ursprüngliche ‚Amoralität‘ und Apersonalität göttlicher Wesen wird durch das Transferieren gesellschaftlicher Werte (in den ‚Himmel‘) moralisch-ethisch aufgeladen u. personalisiert! Zeus-Epiklesen repräsentieren gesellschaftlich-menschliche Werte Transferierung dieser Werte in den (Götter)‚Himmel‘… Ergebnis: 5 Kreislauf normativer Werte: Menschliche Werte, Wünsche, Gefühle werden in religiöse umgewandelt u. werden zu Sakralnormen u. zu Säkularem Recht 1 2 3 1 4 5 6 7 …..
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III. Olympische Religion (3)
Die Zeusepiklesen (d. s. Wertzuschreibungen) belegen den Transformationsprozeß früher Wert- u. Normordnungen: … menschliche/gesellschaftliche Werte werden den Göt-tern gleichsam (als wünschenswert göttliche) angeheftet u. zu göttlichen gemacht … … das war nötig, da die Götter ursprünglich weder als per-sonale, noch als moralische Wesen verstanden wurden: → ihre Moralisierung erfolgte erst durch den erwähnten Transformationsprozeß! … deshalb wurde nicht nur die Religion als göttliche (Norm)Ordnung ver-standen, sondern auch das Recht als Geschenk der Götter → anfängliche Scheu (der Griechen) Recht aufzuheben od. abzuändern …!
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III. Olympische Religion (4)
Weitere Beispiele für Zeus-Epiklesen: Z. agoraíos/Beschützer der Volksversammlung, Z. boulaíos /Ratgeber, Z. hórkios/Hüter des Eides, Z. phílios/ Be-schützer der Freundschaft … usw. Konvergenz von Religion u. Recht förderte das Ent-stehen ‚gemeinsamer Rechtsanschauungen‘ (Rechts-grundsätze/-prinzipien), etwa: Oikos- u. Familienordnung … patriarchale Geschlechterbeziehung (auch im Olymp!) … Verfahrensordnungen u. -grundsätze (im Prozeß) als rechtl. Entsprechung des religiösen Rituals …! Eid …!
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III. Olympische Religion (5)
‚Griech. Opferbräuche‘ (nach K. Meuli, 1946b:*Graeca, Bd. I, Kap. I 7, S. 230 Unterscheidung zw.: - Olympischem Speiseopfer (→ … beruhte auf uralten Jägersitten) u. - chtonischen Vernichtungs- od. Brandopfern … Diese Opfer-Typen hatten (in ihrer Entstehung) nichts gemein …! Olympisches Speiseopfer → … im Prometheusmythos dargestellt! … alle (!) Jägersitten (nicht nur die der Indoeuropäer) stehen im Einklang mit der Natur: Rückgabe bestimmter Körperteile (Knochen, Häute etc.) dient → Regeneration, Kreislauf, Reziprozität …! … wodurch künftiges Jagdglück gesichert werden sollte! Mit einem Opfer an ein höheres Wesen hatte das nichts zu tun …! → bloßes ‚Geschäft‘ zw. Mensch u. Tier! Olympisches Speiseopfer entsprach Jägerbrauch: → Opfer = rituelle Schlachtung + Essen! (keine Vernichtung wie beim Brandopfer)! – Jägerbräu-che wurden nach Seßhaftwerden von Hirten u. Ackerbauern übernommen, obwohl nun ‚sinnlos‘ → das Ritual wurde nicht mehr verstanden!
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III. Olympische Religion (6)
Umwandlung des Jägerrituals zum religiösen (olymp.) Opfer: … das Räuchern, das die Jäger vor der Witterung des Wildes schützen sollte, wird zum bloßen Zeremoniell! … das Töten des Tieres wird zum Opferritual für eine Gottheit! … das, was ursprünglich dem Tier zurückgegeben wurde (Knochen u. Häute), wird zur Gabe an Götter + Tier wird wie bei Jägern gegessen! Opfer war Männersache; von den Jägern bis zu den Griechen! Wie die Jäger, mußten auch Opferer ‚rein‘ sein! → Reinheits- u. Reini-gungsvorschriften begleiten das Opfer bis zu den Griechen! Alte Jagdriten waren weder deistisch, noch prä-deistisch! K. Meuli (1946b)* : Entwicklung zeigt, „wie tief im Menschen die Scheu wur-zelt, zu töten, wie mächtig im Grunde doch der Glaube an die Heiligkeit u. Ganzheit des Lebens“ war …! → Mitleid: Schopenhauer; Graeca, Bd. I, Pkt. 7, S. 232
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III. Olympische Religion (7)
Jägersitte, Prometheusmythos u. olympischer Opferbrauch: Hesiod (~ 700 v.) führte die griech. Opferordnung auf den Opfer-betrug des Prometheus zurück …! K. Meuli entmystifizierte mit seiner Studie das olympische Speise-opfer u. erklärte die angebliche List des Prometheus …! Gestaltung des olympischen Knochenopfers wurde zu Hesiods Zeit nicht mehr verstanden u. brauchte eine Erklärung: → Mythos …! Das alte Jägerritual u. sein ursprüngl. Sinn waren längst vergessen …! Prometheusmythos → Erfindung Hesiods, um plausible Erklä-rung des olympischen Speiseopfers bieten zu können! Hesiod: ‚Theogonie‘ Verse u. ‚Werke u. Tage‘ Verse Aufgabe von Mythen: Versuch, ‚große‘ Fragen u. Zusammenhänge der menschlichen Existenz kulturkonform zu erklären …! Lit.: E. Topitsch, Vom Ursprung u. Ende der Metaphysik (1958/1971)*; für den altorientalischen Mythos
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (1a)
… sind frühe u. grundlegende Rechts- u. Gerechtig-keitskonzepte! … behandelt werden erstmals Vorformen der Rechtsstaatlichkeit, was meint: gesamtes Staatshandeln untersteht dem Recht (das für alle gilt )! Vgl. Art. 18 B-VG + 1. Std.: ‚Einleitung‘ → Folie IV 2 (Aischylos) … im Zentrum des jüngeren griech. Konzepts steht (neben ‚Freiheit‘ u. ‚Gleichheit‘) erstmals der politische Teilhabegedanke/Partizipation: s. 1. Std., Folie I 6: Solons ‚Grundwerte‘! → Entwicklung zur Demokratie: Aristoteles! … auch im ägypt. Konzept geht es um das Miteinander aller Gruppen u. Akteure in Staat u. Gesellschaft: Erziehung zur Staatlichkeit + Erlernen der richtigen Lebens- u. WeltO iSd Ma‘at: Eberhard Otto (1964)* Lit.: J. Assmann, Ma‘at (1995)* + ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 17 (S. 217 ff)
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘(1b)
Die Göttin Ma‘at, Relief aus dem Grab Sethos‘ I. (19. Dyn., ~ 1300 v.)
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘(1c)
Umschlagabbildung (von ‚Graeca‘, Bd. II/2): Bronzekopf des Solon aus dem Nationalmuseum von Neapel. Claudi-sche Kopie nach einem Bronzewerk nach 300 v.; aus: Karl Schefold, Die Bild-nisse der antiken Dichter, Redner u. Denker (Basel, 1943), Titelbild u. S. 104 f. (In der 2. Auflage des Werkes wird dieser Bronzekopf Thales von Milet zu-gewiesen; s. K. Schefold, Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner u. Denker. Verfaßt u. neubearbeitet von K. Sche-fold, Basel: Schwabe Verlag, 1997²; Ti-telbild u. S. 206 f.)
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘(1d)
Was meint ‚Eu-nomia‘? … die gute u. wohlgefügte Ordnung der Polis! … von Solon selbst in seiner ‚Staats- od. Eunomia-Elegie‘ besungen! … zur mythologischen Einbindung von ‚Eunomia‘: Zeus ∞ Themis Eunomia Dike Eirene 3 Horen od. Moiren Kampf gegen Hybris, Bia u. Tyrannis
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (2a)
Protorechtsstaatlichkeit im alten Ägypten – Ansprache Thutmosis III. (~ v.) zur Amtseinführung seines Vezirs Rechmire: „Das Vezir sein‘ ist nicht süß, es ist bitter wie Galle. Du sollst darauf achten, dass alles nach dem Gesetz vor sich geht, daß alles nach Richtigkeit getan wird und jeder sein Recht erhält […]. Par-teilichkeit ist Gott ein Greuel! Eine Weisung soll dies sein! Denke daran, demgemäß zu handeln: Betrachte den, den du kennst ge-nauso wie den, der dir fremd ist, den der dir nahe steht so wie den, der dir fernsteht.“ Nach H. Schlögl, Das alte Ägypten (2003, 74)*
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (2b)
H.A. Schlögl, Das Alte Ägypten 13 f (2003):* „Beide, Götter und Menschen, vereinte die Verpflichtung auf die Ma‘at. Dieser Begriff, der oft mit ‚Wahrheit‘, ‚Recht‘, ‚Gerechtigkeit‘ übersetzt wird, hat einen so vielschichtigen Inhalt, dass er in der Übersetzung nicht durch ein einziges Wort ausgedrückt werden kann. Ma‘at verkörpert die Weltordnung, die der Schöpfergott bei der Schaffung der Welt gesetzt hat, bedeutet das Gegenteil von Chaos, beinhaltet die Gesetz-mäßigkeit der Natur und ordnet das Zusammenleben der Menschen unterei-nander. Der Ägypter hat diesen Begriff personalisiert in der Gestalt der Göttin Ma‘at, die als Tochter des Sonnengottes Re galt. Bildlich wird sie als Frau dar-gestellt, die auf dem Kopf als Scheitelattribut eine Straußenfeder, ihr Schriftzei-chen, trägt. Doch nicht nur die Ma‘at in die Tat umzusetzten war Aufgabe von Göttern und Menschen, sie waren auch verpflichtet, alles, was der Schöpfung entgegenstand, sie bedrohte oder sinnentleert machte, abzuwehren. Das Wort ‚Isefet‘ war der ägyptische Sammelbegriff negativer Kräfte und für die Feinde der Schöpfung. Er schloß Mord, Lüge, Gewalt und Tod genauso ein wie Leiden, Mangel, Krieg und Ungerechtigkeit.“
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (3)
Werfen wir einen Blick in die Gegenwart …! … der Neoliberalismus hat vorhandene Partizipationsan-sätze (W. Brandt, B. Kreisky …) zerstört : → Uni-Mitbestim-mung, Wirtschaft, Wohnen, Kultur etc. Deregulierung = Ökonomie braucht angeblich keine Regeln! … Sie sehen, wie lange Entwicklungen brauchen, wenn sie verloren gegangen sind → histor. Tiefendimension! Zu viele leben gerne politisch entmündigt! → Traditionell brave Studenten u. Studentinnen in Ö., von der Bewußtheit der Prof‘s nicht zu reden! … Geld u. Macht sind heute meist wichtiger, als eine gerechte Ge-sellschaftsO! → Demokratie braucht Partizipation! Politische Teilhabe/Partizipation meint: Verknüpfung von Einzel- u. Gemeinschaftsinteressen + Mit-bestimmung = Mit-verantwortung!
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (4)
Solons Grundwerte zielten auf gesellschaftliche Eintracht/Homonoía/; entwachsen der ‚Eunomia-Elegie‘: „Rechte verlieh ich dem Volke, genau in dem richtigen Maße, Nahm ihm an Ansehen nichts, reichte zu viel ihm nicht dar. Auch den Großen des Landes, die Macht und Schätze besaßen Schrieb ich ein neues Gesetz: keinen Besitz ohne Recht! Mit der festesten Wehr beschirmte ich beide Parteien: Nimmermehr ließ ich im Kampfe siegen sie wider das Recht.“ „Dem Edlen und Gemeinen schrieb ich gleiche Satzung Gerechter Spruch gilt nun für jeden Streit.“ – Solon, fr. 36, 16 „ “ – Die Polis/der Staat ist der Lehrer des Mannes.“ – Simonides von Keos: ~ 556–468 v. „Nach allgemeiner Ansicht gelten folgende drei Maßnahmen der Staatsordnung Solons als die volksfreundlichsten. Die erste und wichtigste war die Abschaffung der Darlehen, für die mit dem eigenen Körper gehaftet werden mußte [Seisachtheia]; dann das Recht, daß jeder, der wollte, für diejenigen, die Unrecht erlitten hatten, Vergeltung fordern konnte [Popularklage]; und drittens – wodurch, wie man sagt, die Menge am meisten gestärkt worden ist – die Über-weisung von Rechtsverfahren an das [Volks]Gericht. Denn wenn das Volk (im Gericht) Herr über den Stimmstein (pséphos) ist, wird es auch Herr über den Staat.“ – Aristoteles, AP 9
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (5)
… beide Konzepte brachten kulturelle Zivilisations-schübe iSv N. Elias (Mozart: 1993, 72)*: „Jeder Zivilisationsschub, […], stellt einen Versuch von Menschen dar, im Verkehr miteinander die ungezähmten animalischen Impulse, die ein Teil ihrer naturalen Ausstattung sind, durch gesellschaftlich ge-prägte Gegenimpulse zu zähmen od. […] sublimatorisch u. kulturell zu transformieren. Das ermöglicht es ihnen, miteinander […] zu leben, ohne […] dem unbeherrschbaren Druck ihrer animalischen Regungen […] ausgesetzt zu sein. Blieben Menschen […] die unverwandelten Triebwesen, die sie als Kleinkinder sind, wäre ihre Überlebenschance außerordentlich gering. Sie […] wären widerstandslos dem momen-tanen Drang jedes Verlangens ausgeliefert u. damit sowohl für andere wie für sich selbst eine permanente Gefahr.“ Lit.: N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische u. psychoge-netische Untersuchungen, Bde. I u. II (stw, 1978)*
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IV. ‚Ma‘at‘ und ‚Eunomía‘ (6)
War Solons ‚Eunomia‘-Konzept ägyptisch (Ma‘at) beeinflußt? Diese Frage wurde schon im Altertum gestellt: Herodot, Diodor, Dioge-nes Laertios, … aber auch in der Gegenwart (V. Fadinger/Berlin); s. ‚Graeca‘, Bd. II/2, Kap. II 17 (S. 217 ff) Mögliche/wahrscheinliche Einflüsse: Für Solons ‚Seisáchtheia‘* existierten auch orientalische Vorbilder … Nomos argías* + hoher Stellenwert der Gerechtigkeit … Rechtsstaatliche Vorstellungen; s. Thutmosis/Rechmire + ‚Des Bauern Reden wider die Korruption‘ (K. Schüssler, 2003):* „Wer das Gesetz umstößt, tilgt die Rechtschaffenheit“ … + Bedeutung des Gesetzes/hp: Erfüllung der Ma‘at (S. Lippert, 2008) Ba-/Seelenvorstellungen (Seelenvogel) + Ka-/Herz (Gewissen) u. Verschulden Totengericht + Totenstiftungen + Waage als Gerechtigkeitssymbol … Konzept der Ma‘at: Ma‘at : Is(e)fet = Eu-nomia : Dys-nomia Gerichts-Rhetorik + schriftliches Verfahren: Diodor uam.
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V. Zusammenfassung: Recht und Religion (1)
Man versteht ‚Recht‘ u. ‚Religion‘ besser, kennt man ihre (gemeinsame) Vergangenheit u. Zielsetzungen : Ursprüngliche Wert-Konkordanz (R. Maschke!) ging verloren – Warum wohl? → Mangelnde Anpassungsfähig-keit u. -willigkeit der Religion an den gesellschaftl. Wandel! + Machtansprüche der Religion; s. Ägypten: Amenophis IV (Echnaton) …! – Griechenland: Sokrates …! Wie steht es um die Anpassungsfähigkeit der Religion an gesellschaftl. Werte der Gegenwart? → Schwäche der monotheistischen Religionen …! Wie stellen Sie sich die künftige Entwicklung der beiden wichtigsten Sozialnormen (Recht u. Religion) vor?
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V. Zusammenfassung: Recht und Religion (2)
Zur gesellschaftl. Entwicklung der beiden bedeutendsten Sozialnormen (‚Recht und Religion‘): Recht/Politik u. Religion waren in Ägypten u. Griechen-land noch in einer Hand vereinigt: Pharao od. sonstige politische Repräsentanten … → daher Wertkonkordanz …! Weltliche Machtansprüche der Religion: Machtkampf zw. Religion u. Staat – Religion wird für Staat zur intermediä-ren Konkurrentin! … → Heute: Anspruch des Islam! Beginn dieser Auseinandersetzung im antiken Griechen-land → Atimieprozesse gegen das Umfeld von Perikles: Anaxagoras, Phidias, Protagoras, Aspasia u. Euripides so-wie zuletzt Sokrates (399 v.) …! Spaltung der Gesellschaft!
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V. Zusammenfassung: Recht und Religion (3)
Ma‘at u. Eunomia offenbaren frühe gesellschaftl. Bedeutung normativ-integrativer Gesamt(steuerungs)konzepte: Gesellschaften brauchen Leit-Werte u. Orientierung, die von diesen normativen Konzepten geliefert wurden …! Die Leistungsfähigkeit dieser Konzepte (bei Wertkonkordanz!) ließ Hochkulturen entstehen …! – Gesellschaftliche Energie konnte auf kulturelle Ziele konzentriert werden …! Rechtlich wurden bleibende Grundlagen u. Vorbilder für künftige Ent-wicklungen von Recht, JurPr u. Gerechtigkeit geschaffen; etwa: Idee der Verfassung/gr. Politeía + Proto-Rechtsstaatlichkeit (seit Solon) … Orientierung an Gerechtigkeit steht nun im polit. Raum …! (Ägypten, Solon! …) Dazu kommen: Achtung des Gesetzes (als normativer Handlungsrahmen für Politik, Religion u. Privatbereich) u. der Rechtsperson (u. ihren Interessen)! Schaffung einer (von Religion u. Politik!) unabhängigen Gerichtsbarkeit/Justiz → ‚Eumeniden‘ des Aischylos …; s. ‚Graeca‘, Bd. III/1, Kap. III Erste Rechtsberufe + Kautelarjurisprudenz* …) Uam. …!
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V. Zusammenfassung: Recht und Religion (4)
Künftige Entwicklung u. Beziehung von Recht u. Religion? Läßt sich dazu etwas aus der Rechts- u. Religionsgeschich-te lernen …? Oder kommt es zum ‚Kampf der Kulturen‘ iSv Samuel P. Huntington (1996/2002)? Irreversible Säkularisierung (durch Aufklärung) in entwik-kelten Ländern verlangt weitere Integration relig. Werte (in den staatlich-normativen Bereich) → Verschwinden der Religionen als (Groß)Institutionen (?), bei Transferierung wichtiger Werte in den staatlich-normativen Bereich!? → ‚Religion des Herzens‘ (iSv Wilamo-witz) wird bleiben …! Konzept des Islam nicht zukunftsfähig → Keine Herrschaft der Reli-gion über Politik, Recht, Staat u. Gesellschaft! – Lit.: A. Meddeb, Die Krankheit des Islam (2007)
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Übersicht 9. u. 10. Stunde I. Einleitung …
9. Stunde: 15. Mai Stunde: 1. Juni 2015 I. Einleitung … II. Entstehung von Rechtsbewußtsein u. Rechtsgefühl … III. Die ‚Goldene Regel’ als Rechtsprinzip IV. Zusammenfassung
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I. Einleitung (1) Es geht um die Frage, ob Rechtsgefühl u. Rechtsbewußtsein dem Menschen angeboren sind, also zu seiner Erbausstattung zählen oder … … ob es sich dabei um eine kulturell-evolutio-näre Errungenschaft u. das Ergebnis (langer u. mit Rückfällen gepflasterter) kultureller Ent-wicklung handelt …! Zu fragen ist auch: Was ist das – Rechtsgefühl etc.? Dies wollen wir uns in aller Kürze ansehen …!
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I. Einleitung (2) ‚Yueyues Tod’: Eindrucksvoller Bericht, in: ‚Die Zeit’ vom , Nr. 44, S. 7 Ein 2 Jahre altes Mädchen wird in Südchina von einem Liefer-wagen überrollt u. tödlich verletzt ( ). Die Überwa-chungskamera eines Eisenwarenmarktes nahm den Vorfall durch Video auf. – Nach dieser Aufzeichnung gingen 18 Chinesen acht-los am schwerverletzten kleinen Mädchen vorüber. ‚Die Zeit’: „Nun streitet ein tief erschüttertes Land über seine Werte“. – Kann daraus erschlossen werden, dass kulturell erwor-bene od. vermittelte Werte leichter abgelegt od. vergessen werden als angeborene Anlagen? - - -
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I. Einleitung (3) Zur Entstehung von Rechtsgefühl u. Rechtsbewußtsein:
Lebenssituationen stellen uns immer wieder vor die Frage: Ist das od. jenes gerecht, richtig, vertretbar? – Dies oft unvermittelt u. ohne ausreichend Zeit zu haben, das anstehende Problem hinreichend analysieren u. durchdenken zu können ...! In solchen Situationen spielt das Rechtsgefühl (gerade auch für Nicht-Juristen) als normativer Navigator eine Rolle...! Rechtsgefühl od. Rechtsbewußtsein stammen aus dem ursprüngl. ‚No-mologischen Wissen‘, das einst als Normamalgam unsere Handlungen als Einzelne u. Mitglieder von Gemeinschaften leitete …! Der Begriff ‚Nomolog. Wissen‘ stammt – wie wir wissen – von M. Weber u. spielt noch heute in versch. Disziplinen eine Rolle; RG, Alte Geschichte u. Altorientalistik od. Religionswissenschaft … Rechtsgefühl od. Rechtsbewußtsein haben auch Laien, nicht nur Juristen/innen, die jedoch berufliches Gespür entwickeln können!
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I. Einleitung (4) Diese Fragen werden von Rewi u. RG wenig beachtet …!
Rechts- u. Unrechtsbewußtsein, Rechtsgefühl etc. sind aber weder vom Himmel gefallen, noch ein Geschenk der Natur …! …, sondern Ergebnis einer Synthese aus Biologie u. Kultur: langer u. schwieriger Entstehungs-Prozeß (wie die Geschichte zeigt)…! Formelartig kann die Entwicklung so beschrieben werden: Sie verlief von ‚unten‘ (= kleine Einheiten: Familie, Haus/Oikos/familia, Nachbarschaft) nach → ‚oben‘ (= größere Einheiten: Dorf, Polis, …) u. … von ‚innen‘ (= der eigenen Gemeinschaft) nach → ‚außen‘ (= zu frem-den Gemeinschaften) u. … vom Nomologischen Wissen zur Ausdifferenzierung von dessen Ele-menten: Religion, Recht, Sitte, Moral etc. Richtwert ist Erhaltung, Überleben der Gruppe, Gemeinschaft …!
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I. Einleitung … (5) Früher neigte man zur Annahme, dass es sich bei/m Rechtsgefühl/-bewußtsein/-gesinnung um eine dem Menschen (vollständig!) angeborene Anlage handelt; so noch die Kanzlerrede von G. Rümelin (1895) u. anderen Werken dieses Autors …! Auch K. Lorenz neigte, angeregt durch us.-Juristenmei-nung (!), dazu ...! (In: ‚Die acht Todsünden der Menschheit‘, 1973/2005, 33. Aufl.) Homer u. F. Hampl bewahren uns (wie wir sehen werden) vor einem idealistischen Irrtum …!
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von Rechtsbewußtsein und
II. Entstehung von Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl
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Entstehung von Rechtsbewußtsein … (1a)
Als Synthese zw. eigenem Unrecht-Tun u. Unrecht-Erleiden durch andere entsteht Rechtsgefühl/Rechtsbewußtsein 3 Frühformen der ‚Goldenen Regel‘ bewirken dieses Umdenken … zuerst in der eigenen Gemeinschaft, später in Außenbeziehungen: Rechtsbe- wußtsein ist nicht angeboren; so noch K. Lorenz (1973/2005³³) Messenier …: Odyssee XIV 85 ff Odyssee XIV 229 ff u. XVII 415 ff ODYSSEUS unternimmt (als Fürst von Ithaka) Raubzüge bis Ägypten … 2 Unrecht- Erleiden Unrecht- Tun 1 MESSENIER rauben auf Ithaka … In Rom war das nicht anders; entgegen Cicero! – Zweiter Vertrag Roms mit Karthago; Polybios III 24, 5 f – F. Hampl, Stoische Staatsethik, HZ 184 (1957) 249 ff
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II. Entstehung von Rechtsbewußtsein (1b)
Quellenbelege (Beispiele): ‚Odyssee‘ XIV 85 ff: „Ja, es gibt Leute, feindlich gesinnt u. bar jeden Rechtes; Die überfallen ein fremdes Gebiet …“ (gemeint sind die Messenier, die in Ithaka eingefallen sind) ‚Odyssee‘ XIV 229 ff: Odysseus prahlt mit seinen Kaper-fahrten in die Fremde, die ihn reich gemacht haben …! ‚Odyssee‘ XVII 415 ff: Odysseus u. Gefährten rauben in Ägypten … Polybios, Geschichte III 24, 5 ff: Vertrag zw. Rom u. Karthago … Vgl. auch ‚Odyssee‘ IX 39-42: „Von Ilion trug mich der Wind in die Nähe der Kiko-nen, nach Ismaros. Dort zerstörte ich die Stadt u. tötete die Männer, die Frauen u. viele Güter nahm ich mit aus der Stadt […].“
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II. Entstehung von Rechtsbewußtsein …(2)
Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der ‚Mitte‘ …! Nur für den engsten (familiären) Bereich Bereich ist eine angeborene Anlage anzunehmen: Brutpflege, Aufzucht, Er-ziehung (das zeigt deren große Bedeutung!) u. dafür förderliches Verhalten …! Phylogenese = Stammesgeschichtliche Entwicklung von Lebewesen (von gr. phýle: Untergruppe eines Stammes) … Ontogenese = Entwicklung des einzelnen Lebewesens/Orga-nismus (von der Eizelle bis zum geschlechtsreifen Individuum) Etymologie - gr. tò ón: Lebewesen + génesis: Werden, Entstehen
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II. Entstehung von Rechtsbewußtsein … (3)
… über diesen engen Kreis hinaus ist die Ausbildung von Rechts-gefühl etc. – verstanden Förderung des Lebens u. der Interessen anderer – kulturell bedingt: … das zunächst nicht hinterfragte ‚eigene‘ Handeln, wird auf-grund eigener Leiderfahrung schließlich hinterfragt u. → als UNRECHT(TUN) erkannt! – Im Tierreich fehlt eine Parallele …! Dadurch wird → Mitgefühl möglich: Schopenhauer …! Bedeutung für Juristinnen u. Juristen …! Auch im Rahmen der Hermeneutik/Rechtsanwendung braucht es Mitgefühl iSd Fähig-keit, sich in andere hineinzuversetzen …! Auslegung bietet oft Raum für eine kraftvolle Interpretation, die nicht mit subjektiver Wertschöpfung zu verwechseln ist …! Dieser Entwicklungsprozeß brauchte viel Zeit …!
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II. Entstehung von Rechtsbewußtsein … (4)
Die homerischen Schilderungen kontrastieren bereits mit Hesiods ‚Werken und Tagen‘ (~ 700 v.) …! Nur sehr langsam werden wie wir schon wissen die Rechts- u. Sittlichkeitsvorstellungen der Innen- auf die Außenbeziehung (dh. andere Gemeinschaften u. deren Mitglieder) übertragen … Geschützt waren durch das Recht lange nur die Mit-glieder der eigenen Gemeinschaft nicht aber Fremde …; Schranken des Rechtsbewußtseins …! Zur ‚Goldene Regel‘ s. Pkt. → III.
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II. Entstehung von Rechtsbewußtsein … (5)
Der Schutz Fremder erfolgte zunächst über die Religion; → Zeus Xeínios (als Beschützer von Gastrecht u. Gastfreundschaft), Zeus Hikésios (Beschützer von Bittstellern u. Hilfesuchenden) ... Mit zunehmenden Außenkontakten (See-/Handel): entwickelte sich ein → FremdenR (= gleiche Behandlung aller Fremden) + eigene Beamte u. Gerichte → Vorbild für röm. Prätor peregri-nus …; Erweiterung des Rechtsbewußtseins! Mittlere Stoa → Panaitios v. Rhodos u. Chrysippos: Erste For-derungen nach Humanisierung des Kriegs(völker)rechts …! Lesetip: - F. Hampl, Stoische Staatsethik, H(istorische) Z(eitschrift) 184 (1957) 249 ff; - J. Lampe (Hg), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (1997, stw)
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III. Die ‚Goldene Regel‘ als Rechtsprinzip
„Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“
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III. Die ‚Goldene Regel’ als Rechtsprinzip … (1)
Die angeführten Beispiele aus der ‚Odyssee‘ lassen erahnen, wie die ‚Goldene Regel‘ entstanden ist: Ihre Bildung setzte voraus, daß zwischenmenschliche Vorgänge bereits mit den Augen beider ‚Seiten‘ gesehen wurden …! → Mitgefühl iSv Schopenhauer: Wegfall der Trennwand zw. ICH u. DU …! Es handelt sich um eine weltweite, unabhängige anthropolog. Entwicklung Belege stammen ua. aus : Ägypten, China, Indien, Vorderer Orient, Griechenland, Rom … In Griechenland wurde sie Pittakos, Thales u. Aristoteles zugeschrieben; zB von Diogenes Laertios Das Christentum hat die Regel aus der Antike übernommen …! Es existieren zwei Formen (der ‚Goldenen Regel‘): Eine positive (‚Tut den Menschen das, von dem Ihr wünscht, daß es Euch geschehe‘) u. ei-ne negative Version: ‚Was Du nicht willst , …‘. Nur sie ist brauchbar!
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III. Die ‚Goldene Regel’ als Rechtsprinzip (2)
Die ‚Goldene Regel‘ wurzelt im archaischen Vergeltungs-denken: → alte Vorstellung vom vergeltenden Ausgleich, der alles menschliche Tun u. Erleiden bestimmt; Talio/n → StrafR + Religion: Gegenseitigkeits-/Reziprozitätsprinzip …! Zur weltweit feststellbaren Talion (→ Blutrache): s. Codex Hammurabi (§ 196), Altes Testament (Leviticus 24, 17 ff; Exodus 21, 23 ff; Numeri 35 ff), röm. ZwölftafelG (VIII 2). Geltung in Griechenland bis in nachhomerische Zeit: 7. Jh. v. Die Formel ist Grundlage u. Wegweiser für die Rechtsidee/RI (Gerechtigkeit) …! Lit.: - A. Dihle, Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken u. frühchristlichen Vulgärethik (1962)*; - Th. Mayer-Maly, Rechtsphilosophie 47 ff (2001)*; - R. Hirzel, Zur Talion im Rechtsleben ( )*
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III. ‚Goldene Regel’ als Rechtsprinzip … (3)
Behandelte Fragen sind (nach Pressemeldungen!) aktuell: Debatte über die Jugendkriminalität zeigt, dass in der Soziali-sationsphase Versäumtes kaum nachgeholt werden kann …! → Indiz für kulturelle Werte-Prägung …! Es gilt: ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‘ (… od. doch nur sehr schwer)! Das Ergebnis für die Zeit Homers gilt noch heute: Rechtsgefühl entwickelt sich von ‚unten‘ nach ‚oben‘, also von den engsten menschlichen Beziehungen (in Familie, Freunden/innen, Schule etc.) zu sich erweiternden Beziehungen/Gemeinschaften; Nach-barschaft, Gemeinde, Staat … etc. → IS …!? Die ‚Goldene Regel‘ ist kein Kinderreim …! Rechtspolitische Forderung: Lebensnahes Berücksichtigen im Rah-men von Schule, Erziehung, Studium; zB Ethikunterricht …!
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IV. Zusammenfassung
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IV. Zusammenfassung ‚Goldene Regel‘ (1)
Die immer wieder festzustellende herablassende Aufnahme dieser Regel durch Philosophie (bspw. Kant), Rechtsdenken u. Religion ändert nichts daran, dass: … die Regel eine bedeutende fachliche u. praktische Lebens- und Berufshilfe zu menschlicher Problembe-wältigung darstellt u. … … lehrt, dass Ratio in der kopflastigen Wissenschaft u. Praxis nicht alles ist, sondern auch Gefühl einen berech-tigten Platz hat …! Rechtsgefühl u. Goldene Regel dienen Laien wie Spezi-alisten, um gesellschaftsverträgliche En zu treffen! ufnahme
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IV. Zusammenfassung ‚Goldene Regel‘ (2)
Wir stehen in der Gegenwart vor einer ernsten Situation, die für die Zukunft wichtig ist: … die menschl. Entwicklung hinkt hinter der techn.-öko-nom. (wo andere Werte gelten) bedrohlich hinterher! Das unterstreicht die Bedeutung von Erziehung, Schule u. Bildung …! (prakt. Rechtsbewußtsein!) … Ökonomie u. Technik geben der Politik ihre Werte vor (→ Wirtschaftsliberalismus), statt umgekehrt, was nichts Gutes verheißt …! Korrekturbedarf! Dazu kommt: Huntingtons (1996/2002) These scheint sich zu bewahrhei-ten → ‚Kampf der Kulturen ‘: Arabisch-Islamische Welt, China, Rußland, Indien ↔ ‚Westen‘, der uneinig ist!
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Übersicht 11. u. 12. Stunde 11. Stunde: 8. Juni Stunde: 15. Juni 2015 I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschul-denshaftung II. Genese der Verschuldenshaftung im antiken Griechenland – Bedeutung der Rechtskatego-rie ‚Zufall‘ III. Rezeption durch Rom IV. Früher Rechtsgang … V. Zusammenfassung
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I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung … (1)
Die griech. Entwicklung der Haftungszurechnung verläuft von der vordrakontisch-sakralrechtlichen Erfolgshaftung zur Verschuldenshaftung bei Aristo-teles (nach ~ 350 v.) Das betrifft einen Entwicklungszeitraum von ~ 300 Jahren! Wie bei ‚Emergenz der Person‘ ausgeführt, setzt die Entwicklung der Verschuldenshaftung gewisse Ein-sichten in die menschliche Psyche voraus: Gewissen, Wille, Affekte etc. Es geht hier um ein Verlagern von der: äußeren (→ sichtbarer Erfolg) auf die innere Tatseite (= → innere Einstellung Handelnder)
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I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung … (2)
Zurechnung bei der Erfolgshaftung: … nach dem tatsächlich eingetretenen ‚Erfolg‘ u. zwar zunächst: Unabhängig davon, ob er ‚vorsätzlich‘ od. ‚un-vorsätzlich‘, im Affekt od. ohne solchen …; … ob verschuldet od. un-verschuldet herbeigeführt wurde; u. auch unabhängig davon, ob eine persönliche od. nur eine familiär-kollektive Schuld u. Haftung (zB im Atridenmythos) anzunehmen war → Blutrache; … auch ‚Zufall‘ wurde zugerechnet u. noch nicht von un-vorsätzlichem Handeln geschieden! Die ‚Wurzeln‘ der Verschuldenshaftung liegen aber bereits in der Erfolgshaftung …! → s. Drakontische Sondertatbestände! (F 180)
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I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung … (3a)
Schlüsselerlebnis der menschlichen Evolution: … Mensch findet sich in einer ihm nur begrenzt zu-gänglichen u. verständlichen Umwelt: … den Naturgewalten ausgesetzt … … erkennt aber gewisse Gesetzmäßigkeiten, denen er ausgeliefert ist: … Naturphänomene (Jahreszeiten, Sonne u. Mond etc.) u. Unausweichlichkeit des Todes! … eigene Schwäche u. Hinfälligkeit werden bewußt! … mit der Entwicklung des menschlichen Gehirns steigen Wissensdrang u. Lösungskompetenz … … viele Lösungen bleiben vorläufige, was ua. die sog. → Erfolgshaftung zeigt! Religion versucht Deutung der Umwelt (als Ganzer), Recht bringt Ordnung u. Sicherheit in Gesellschaft!
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I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung … (3b)
E. Kaufmann, Erfolgshaftung (1958):* [1] „Das geistige Bild der frühen Kultur wird von den Wirkungen einfacher Gegensätze bestimmt. [2] Diese Einfachheit ist aber nicht ohne Tiefe. [3] Der den Mächten der Natur ausgelieferte Mensch empfindet die Machtlosigkeit seiner Stellung gegenüber der Übermacht des außer ihm Seienden stärker als der moderne Beherrscher der Umwelt. [4] Daher die Spannung zwischen dumpfer Unterwerfung und aufloderndem Trotz, die dem kühleren Rationalismus der Neuzeit fremd ist. Wo der denkende Mensch sich zuerst als Person den Kräften einer unendlichen und übermächtigen Außenwelt gegenüber sah, mußte er primär auch die Frage der Abhängigkeit stellen.
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I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung … (3c)
[5] Die Antwort konnte zuerst nur diese sein: Du bist abhängig von Deiner Umwelt, machtlos gegen die bewegenden Kräfte des Kosmos, dem Schicksal unterworfen; und unwesentlich ist Dein Wille. [6] Diesen Grundzügen frühen Denkens entsprechen auch die ersten Vorstellungen von Schuld und Haftung. Zwar ist eine Welt sittlicher Normen bereits gesetzt, doch sie zu erfüllen ist nicht dem freien Willen des Menschen anheim gegeben. [7] Schuld ist Schicksal. Von diesen Grundideen ist der indoger-manische Mythos beherrscht. Oedipus und Hödur laden schwe-re Schuld auf sich, nicht weil sie willentlich die Normen verlet-zten, sondern weil das Schicksal sie beherrschte.“ (Gliederung u. Hervorhebung von mir!) → Erfolg wird schicksalhaft gedeutet …!
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I. Einleitung: Von der Erfolgs- zur Verschuldenshaftung … (4)
Eric Voegelin, Die Welt der Polis IV/1, 133 (2002) beleuchtet den Hintergrund unseres Rechtsphänomens im Rahmen ge-schichtsphilosophischer Überlegungen: „Im übrigen dringen die transhumanen Elemente der Seins-ordnung so tief in den Menschen ein oder, andersherum, der Mensch ist als selbstbewußter, reflektierender Akteur noch so unvollkommen abgeschlossen, dass der Status einzelner Phä-nomene als menschlich oder göttlich offen bleiben muß, und dass vor allem ganz häufig nicht sicher ist, inwieweit die Handlungen des Menschen überhaupt seine eigenen sind.“ Damit meint Voegelin (wie Kaufmann) die Einbindung menschlichen Handelns in ein schicksalhaftes Geschehen …! – Aber was ist Schicksal? Ist es unabänderlich …?
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II. Genese der Verschuldenshaftung …
Zur Entwicklung des haftungsrechtlichen Zurechnungsinstrumentariums im antiken Griechenland u. dessen Bedeutung für die europ. Rechtsentwicklung Literatur: Barta, ‚Graeca‘ , Bd. II/1, Kap. II 4-6 (2011) →
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (1)
Der Zeitrahmen der Entwicklung beträgt für Griechenland ~ 300 Jahre: von Drakon bis Aristoteles), bis heute mehr als 2 ⅟2 Jte.! Ich habe in Bd. I von ‚Graeca‘ griech. Rechtsfälle aufbereitet, die zeigen, dass schon die Griechen eine Vorliebe für didaktisch aufbereitete Fälle hatten: - Hypereides gegen Athenogenes (Bd. I, S. 38 ff: Unternehmenskauf); - Chilon, Theophrast u. Aulus Gellius (Bd. I, S. 41 ff: freundschaftliche Befangenheit eines Richters); - Xenophons ‚Kyrupädie‘ (Bd. I, S. 45 ff: Tausch von Kleidungsstücken in der Schule) … Mit diesen Schulfällen will ich zeigen, welch geballtes jurist. Problembewußtsein bereits vorhanden war: → Antiphons ‚Zweite Tetralogie‘ (‚Speerwurf(un)fall‘) ist ein weiteres Beispiel!
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (2a)
Beim ‚Speerwurf(un)fall‘ geht es um bis heute entscheidende haftungsrechtliche Zurech-nungselemente; behandelte Fragen: Kausalität: → verschiedene Formen … Verschulden: Vorsatz + Fahrlässigkeit … Zufall/ / casus: Diese Kategorie war bis Antiphon nicht wirklich erkannt u. verstanden worden; → Weiterentwicklung: casus simplex/ein-facher Zufall u. vis maior/höhere Gewalt …
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (2b)
Worin lag die Bedeutung des ‚Zufalls‘? Bis Antiphon fehlte eine Abgrenzung des Bereichs ‚un-vorsätzl. Handeln/Tötung‘; → dessen Ende war ‚offen‘, was zu Unklarheit u. Unsicherheit führte (s. idF → Folie ‚Haftungszurechnung ‚vor‘ Antiphon: ~ 425 v.‘): d. h. zum Bereich ‚un-vorsätzlich‘ wurde auch die ‚zufällige‘ Schadensherbeiführung gerechnet …! Ab Drakon behalf man sich mit sog. → ‚Sonderfällen‘: etwa den ‚Wettkampfunfällen‘ od. der ‚versehentlichen Tötung eines eigenen Kämpfers‘ …! Seit Antiphon bildete der ‚Zufall‘ die Grenze gegenüber dem ‚un-vorsätzlichem Handeln‘; d. h. ‚Zufall‘ wurde nicht mehr zugerechnet = es bestand keine Haftung mehr! ‚Zufall‘ bedeutet seither: Handeln ohne Schuldvorwurf …!
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (2c)
Vgl. heute § 1311 ABGB: gesetzliche Fassung der antiken Zufallsformel – ‚casum sentit dominus‘: „Der bloße Zufall trifft denjenigen, in dessen Vermögen oder Person er sich ereignet. …“ [→ ‚bloße‘ deshalb: denn Zufall konnte auch ‚verschuldet‘ sein! Und dafür war uU einzustehen!] (Schaden)Ersatz zu erlangen, ist nicht selbstverständlich …! Heute muß ein Schadenersatzanspruch bestimmte Vorausset-zungen erfüllen: Schaden, Kausalität, Verschulden, Rechtswidrigkeit Juristisch sind 2 Arten von ‚Zufall‘ zu unterscheiden: - Natür-licher Z. (→ Sturm vernichtet Ernte od. Überschwemmung!) u. - menschlich verursachter Z. (zB → Antiphons ‚Speerwurf(un)-fall‘)
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (3)
Blick zurück in die ägyptische Geschichte: Entdeckung des Gewissens (am Ende des 3. Jts.!) → großer Entwicklungsvorsprung …! Griech. Entwicklung zieht in der zweiten Hälfte des 7. Jhs. v. nach (!), ob autonom od. rezeptiv ist unsicher …: Drakon: 621 v. → Unterscheidung zw. vorsätzlicher ( ) u. unvorsätzlicher ( ) Tötung Weiterentwicklung über → Solon, Antiphon, Platon u. Aristoteles …
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (4a)
Sachverhalt der ‚Zweiten Tetralogie‘ Antiphons: ‚Der Speerwurf(un)fall‘ – „Bei einer Speerwurfübung auf dem Sportplatz unter der Aufsicht von Lehrern wird ein Knabe, der auf die Wurfbahn läuft, um die geschleuder-ten Speere einzusammeln, vom Speer eines Jugendli-chen tödlich getroffen. Der Vater des [getöteten] Kna-ben beschuldigt den Jugendlichen [Täter] der unvor-sätzlichen Tötung. Den von seinem Vater verteidigten Werfer erwartet im Falle eines Schuldspruchs eine befristete Verbannung.“ Lit.: ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 4, S. 149; Text nach Schirren/ Zinsmaier* 2003, 159
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (4b)
‚Tetralogien‘ heißen … … die für die juristisch-rhetorische Schulung aufbe-reiteten Fälle deshalb, … (s. jedoch: Diskussion zw. Perikles u. Protagoras …!) …, weil in ihnen, wie in der Gerichtspraxis jede Partei 2 x zu Wort kam (2 x 2 = 4; gr. tetra/tessera): Auf die Erste Anklagerede folgt das Erste Plädoyer des Beschuldigten, worauf die Zweite Anklagerede u. ein Zweites Plädoyer des Beschuldigten folgten Lit.: ‚Graeca‘, Bd. II/1, Kap. II 4, S. 149 ff mwH
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (4c)
Der griech. Prozeß verlangte nach dialektischer Kunst der juristischen Argumentation: Spontaneität, Voraussicht, Einfühlungsvermögen u. rasche Auffassungsgabe waren gefragt … … u. dies in psychologischer u. juristischer Hinsicht: Das Erkennen der Schwachstellen des Prozeßgegners …! … Redezeit im attischen Prozeß war beschränkt … → Klepshydra: Abmessung der Redezeit durch eine Wasseruhr → Aristoteles AP 67 (2) Entwickeln von Verfahrensstrategien … Abschätzen der Wirkung der eigenen u. gegnerischen Argumente auf die Richter …!
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (4d)
Zur Person Antiphons (aus Rhamnus): Lebenszeit: ~ v. Erster Rechtswissenschaftler Europas …! Multitalent: Rhetor, Politiker, Rechtswissenschaftler u. Rechtslehrer (→ Rechtsschule u. Lehrbücher), philosoph. Interessen (→ Perí aletheías) … Werk: ~ 60 Gerichtsreden (davon 3 erhalten) + 3 Tetralogien + philosophische Schriften … Bedeutender Verfahrensrechtler: Wahrscheinlichkeits- od. Indizienbeweis ( ): Wahrheit ↔ Wahrscheinlichkeit + ‚in dubio pro reo‘ … Lit.: ‚Graeca‘, Bd. III/2, Kap. VI 4: ‚Griech.-röm. Zeittafel‘, Jahr ~ 480 v. mwH
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II. Genese der Verschuldenshaftung … (5)
Folien-Überblick Drakons Lösung des ‚Phonos‘: 621 v. Drakontisch-solonische Lösung des ‚Phonos‘ – Mit ‚Sonderfällen‘: 594/93 v. Haftungszurechnung ‚vor‘ Antiphon: ~ 425 v. Antiphons Haftungszurechnung: ~ 415 v. Zurechnung u. Haftung bei Aristoteles Straf- u. zivilrechtliche Haftungszurechnung: Vor-satz, Fahrlässigkeit, Zufall – Griech. Endergebnis: ~ 350 v.
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Drakons Lösung des ‚Phonos‘
Phónos/ = Tötung als Oberbegriff für Mord, Totschlag u. gerechtfertigte Tötung – Aufgliederung des bisher einheitlichen Tatbestands der Tötung im Rahmen der Gesetzgebung Drakons : ~ 621/ 620 v.– Anlass: Kylonischer Frevel (?) TÖTUNG VORSÄTZLICHE UNVORSÄTZLICHE BUßLOSE RF:* Erlaubte Selbsthilfe, an Volksversammlungs- beschluß gebunden – noch kein Gerichtszwang! RF:* Exil / Ausland (zunächst 5 Jahre) – ohne Vermögens- verfall + Rechtsschutz RF:* Weder Exil noch Entschädigung; gerechtfertigte Tötung/ – kultische Reinigung * RF = Sanktion oder Rechtsfolge Es existierte nur die Unterscheidung in ‚vorsätzliche‘ u. ‚un-vorsätzliche‘ Tötung; weder Affekt, noch Fahrlässigkeitsgrade, noch Zufall werden unterschieden Unterscheidung vorsätzlich/ unvorsätzlich/ stammt aus dem Sakralrecht des Delphischen Apollon; war sühnbar, / verpflichtete zur Blutrache Beispiele ‚bußloser Tötung‘/ : Notwehr, Asebie, erlaubte Blutrache s. auch F. 180
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Drakontisch-solonische Lösung des ‚Phonos‘ – Mit ‚Sonderfällen‘
Vorsätzliche Tötung = Un-vorsätzliche Tötung ‚Fahrlässig‘ Sonderfälle (seit Drakon): Wettkampfunfälle Versehentliche Tötung im Kampf Kampf auf offener Straße: Rauferei Tötung des Ehebrechers / Moichos Solon (?): Tod bei ärztl. Behandlung RF:* Erlaubte Blut- rache/Selbsthilfe (nach Beschluß der Volksversammlung). Erst ab Solon: Gerichts- zwang! RF:* Verbannung (ohne Vermögens- verfall) od. Mög- lichkeit den Täter zu töten RF:* Auch keine Verbannung; nur kultische Reinigung * RF = Sanktion od. Rechtsfolge Im Deutschen fehlt ein vergleichbarer Begriff für . – Er bedeutete im Rahmen der Zuständigkeit des Areopag Mord, im Bereich der Zuständigkeit des Delphinion Totschlag! Haben sich die ‚Sonderfälle‘ Drakons aus dem Bereich bußloser Tötung/ entwickelt? s. F. 179
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Haftungszurechnung ‚vor‘ Antiphon: ~ 425 v.
V E R S C H U L D E N VORSATZ FAHRLÄSSIGKEIT ZUFALL UNVORSÄTZLICHES HANDELN Antiphons ‚Speerwurfbeispiel‘ zeigt das Unbefriedigende der bestehenden Rechtslage: Der Vorschlag läuft darauf hinaus, den Bereich des ‚un-vorsätzlichen Handelns‘ auf den Fahrlässigkeitsbereich zu reduzieren – u. ‚Zufall‘ künftig haftungsrechtlich nicht mehr zuzurechnen, da kein schuld- haftes (iSv vorwerfbarem) Verhalten vorlag! Noch keine weitere Unterteilung der Fahrlässigkeit! ‚Zufall‘ u. ‚Fahrlässigkeit‘ waren vor Antiphon noch nicht getrennt; aber ‚Sonderfälle‘: F. 179! – Antiphons Änderungen s. F. 181 Der Bereich ‚unvorsätzlichen Handelns‘ umfaßte also noch den ‚Zufall‘!
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Antiphons Haftungszurechnung
Platon, Aristoteles u. Anaximenes von Lampsakos übernehmen Antiphons Schema u. entwickeln es weiter; auch die Kausalität … V E R S C H U L D E N Für ‚Zufall‘ (= fehlendes Verschulden) ist nicht mehr Einzustehen! ZUFALL VORSÄTZLICH UNVORSÄTZLICH (= FAHRLÄSSIG) Zurechnungs- u. Haftungs- grenze Damit liegt das europ. Haftungsmodell vor u. die künftige Rechtsentwicklung verfeinert dieses Schema nur noch; u. zwar: Den Fahrlässigkeitsbereich durch Unterscheidung von Fahrlässigkeitsstufen; insbes. grobe u. leichte Fahrlässigkeit erste Ansätze bereits in Platons ‚Nomoi‘! Der Zufallsbereich wird noch in griech. Zeit durch Unterscheidung von schlichtem u. höherem Zufall (= höhere Gewalt /vis maior) unterteilt; Beginn mit höherem Zufall (?) Zur Anerkennung von verschuldetem Zufall/casus mixtus kommt es erst später
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Zurechnung und Haftung nach Aristoteles
Quellen: ‚Rhetorik‘ I 13, 1374 b + ‚Magna Moralia‘ + ‚Eudemische‘ + ‚Nikomachische Ethik‘ V 10, 1135 b Kausalzurechnung: Unmittelbare + mittelbare Kausalität + K. der Unterlassung Vermittelt ist die aristotelische Lösung durch Platons ‚Nomoi‘ Handeln Zurechnungsgrenze Freiwilliges – unfreiwilliges – Vorsätzlich* – dolus Unvorsätzlich = fahrlässig – Verfehlungen etc – culpa Unglücksfall, Zufall; / – casus Bereits unterschiedliche Vorsatzformen: ~ dolus eventualis u. dolus coloratus * Affekthandlungen werden (nach Platons Vorbild) nicht mehr als vorsätzlich beurteilt Fahrlässigkeit noch nicht unterteilt; bei Platon aber vorbereitet Haftungsgrenze gilt für Straf- u. Privatrecht (u. hier für Schadenersatz aus Vertrag u. Delikt)
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Vorsatz Fahrlässigkeit
Straf- und zivilrechtliche Haftungszurechnung Vorsatz, Fahrlässigkeit u. Zufall Griechisches Endergebnis (~ 350 v.) V E R S C H U L D E N Zurechnungsgrenze Vorsatz /dolus Fahrlässigkeit /culpa Zufall/casus / Nach der Mitte des 4. Jhs. v. bereits Unterarten des Vorsatzes; s. F. 181: ‚Zurechnung u. Haftung nach Aristoteles‘ Begrifflich noch nicht unterteilt in grobe u. leichte Fahrlässig- keit; erste Differenzierungen in Platons ‚Nomoi‘ Zufallsschäden beinhalten keinen Verhaltensvorwurf u. werden nicht mehr zugerechnet = keine Haftung! Kausalität ist bereits weit entwickelt: ua. unmittelbare + mittelbare Verursachung ( ) + Kausalität der Unterlassung (Aristoteles) – Vorbild für lex Aquilia u. röm. Klassik Zw. 450 – 350 v. entwickeln sich aus Drakons Kategorie des (s. F. 178) als Nachfolgebegriffe: /hamártema + /améleia sowie ύ/atýchema u. Lit.: Ingemar Düring, Aristoteles (1966) u., in: RE (1968)
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III. Rezeption durch Rom … (1)
Die Römer konnten die Ergebnisse des griech. Rechtsdenkens übernehmen …! Das ist nachweislich auch geschehen …! Die griech. Wurzeln des röm. Verschuldens- u. Zufallsverständnisses tauchen in analogen röm. Speerwurfbeispielen u. anderen ähnlichen Fällen auf; → zB dem Barbierfall …! Einfallstore für die röm. Rezeption waren → Gaius (~ 150 n.) u. wohl schon Q. M. Scaevola (~ v.: Ciceros Lehrer) u. Ulpian (~ 200 n.)
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III. Rezeption durch Rom … (2)
Auch die Gliederung des (auf Antiphon zurückgehenden) Fahrlässigkeitsbereichs in grobe u. leichte F. (culpa gravis u. levis) hatte bereits griech. Wurzeln → Platon! Weder das Zwölftafel-Gesetz (~ 450 v.), noch die Lex Aquilia (287/6 v.) kannte die klare drakon-tisch-solonische Unterscheidung zw. vorsätzlicher u. unvorsätzlicher Tötung …! Dazu ‚Graeca‘ Bd. II/1, Kap. II 4 (S. 203 ff: ‚Antiphon u. das römR‘ + S. 248 ff: ‚Roms Rezeption‘)
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IV. Früher Rechtsgang … (1a)
Früher Rechtsgang bestand in organisierter Selbsthilfe …; schwacher od. inexistenter Staat! (K. Latte: Formel zum Verhältnis von Recht u. Religion …!) Die Entwicklung seit Drakon ist ein wichtiger Teilschritt der Staatsentstehung …; vgl. → § 19 ABGB! … der sog. Gerichtszwang wird erst durch Solon begründet! Er besteht in der ‚Verstaatlichung‘ des Rechtswesens im Sinne des Ausschlusses von Selbsthilfe/Eigenmacht u. Begründung einer ausschließlichen gerichtl. Zuständigkeit! Drakon band das alte Selbsthilferecht (Rache der nächsten Angehörigen) verfahrensrechtlich-institutionell an eine Entscheidung GHs der Epheten (Vorläufer des Areopag) …!
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IV. Früher Rechtsgang … (1b)
Der GH der Epheten entschied bereits in freier richterlicher Beweiswürdigung (!), ob die Handlung/Tötung vorsätzlich od. unvorsätzlich begangen war …! Beachte: Freie richterl. Beweiswürdigung gehört zu den großen Errungenschaften der Jurisprudenz! Vgl. nunmehr § 272 Abs. 1 ZPO: „Das Gericht hat … unter sorgfäl-tiger Berücksichtigung der Ergebnisse der gesamten Verhandlung u. Beweisführung nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine tatsächliche Angabe für wahr zu halten ist.“ Bei Annahme vorsätzlicher Tötung wurde der Täter dem Zugriff der Verwandten des Getöteten ausgeliefert + Vermögensverfall + bei Flucht: lebenslange Verbannung! … bei Annahme unvorsätzlicher Tötung: freier Abzug ins Ausland + Weiterbestehen des Rechtsschutzes der Person u. ihres Vermö-gens → jedoch: kultische Reinigung!
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IV. Früher Rechtsgang … (1c)
Aidesis//sog. Urfehdeeid: … = Streitbeilegung u. Verzeihung durch Vereinbarung → vertragliche Streitbeendigung durch Vereinbarung einer Bußzahlung/ (lat. poena: Entlehnung aus dem Griechischen) Aidesis bedeutete: rechtl. Verzicht (→ Vergleich!) auf Rache/Strafverfolgung gegen Bezahlung eines Bußgeldes …! → Frühes Beispiel privatautonomer Vereinbarung! In homer. Zeit war eine solche Vereinbarung auch bei vorsätzl. Tötung möglich; → durch Einfluß des Delphischen Apollon galt dies später nur bei un-vorsätzlicher Tötung!
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IV. Früher Rechtsgang … (1d)
Religiöse Sühnung/Reinigung von Miasmen: Diese Rechtsfolge trat zu den übrigen hinzu; seit etwa ~ 700 v. (Zeit Hesiods) … galt bei un-vorsätzlicher Tötung! Dahinter stand wohl der Einfluß schamanistischer Praktiken (aus dem Schwarzmeergebiet!) Diese Reinigungs-Praxis (bei Blutdelikten) existierte bis in die klassische Zeit! Lit.: - R. Parker (1996): Miasma. Pollution and Purification in early Greek Religion (Oxford, 1996)
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IV. Früher Rechtsgang … (2)
Drakon hat nur ein Gesetz über die Tötung geschaffen (→ ), keine umfangreiche Gesetzge-bung … (str.) … u. dieses Gesetz betraf (nur) die un-vorsätzliche Tötung u. das neue Blutracheverfahren → Solche Täter konnten ein Tempelasyl in Anspruch nehmen (nicht dagegen Vorsatztäter!) Die sog. ‚drakon[t]ischen‘ Strafen (iS äußerst strenger Strafen) sind ein Mythos …! Solon mußte angeblich strenge Gesetze Drakons aufheben, … → Märchen! (s. W. Schmitz: 2004* + ‚Graeca‘ II/1, II 3!) Ab Solon bestand die Möglichkeit der Klage gegen einen sich nicht zur Tat bekennenden Mörder → zuständig war Areopag!
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V. Zusammenfassung … Die griech. (Rechts)Entwicklung hat nicht nur die röm., sondern auch die moderne vorweg genommen u. schuf bleibende Grundlagen …! Entscheidend war die Grenzziehung zw. ‚un-vorsätzl. Handeln‘ u. ‚Zufall‘, was die Entdeckung der ‚Fahrlässigkeit‘ (Antiphon) u. deren Unterteilung in grobe u. leichte F. (Platon) ermöglichte ! Die Vertreter des röm. Rechts haben dies bislang nicht zur Kenntnis genommen …! Vgl. Kaser/Knütel* Das ist Geschichtsklitterung …! Stattdessen wird behauptet, die Griechen hätten nur eine RPhil hervorgebracht u. ihr Recht(sdenken) sei ‚naiv‘ u. ‚primitiv‘ geblieben …: H. J. Wolff + G. Thür ua.!
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Übersicht 13. Stunde I. Normgenerator Familienrecht
13. Stunde: 22. Juni 2015 I. Normgenerator Familienrecht II. Entgeltfremde Geschäfte III. Zusammenfassung IV. Antike Rechtsgeschichte – Heute?
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I. Normgenerator Familienrecht … (1a)
Das Thema ist eingebettet in einen größeren Zusammen-hang: Gab es ein ‚gemeines‘ griechisches Recht …? ‚Rechtliche‘ Verwandtschaft zw. den zahlreichen Poleis des griech. Rechts- u. Kulturkreises zeigte sich nicht in allen Gebieten gleicher-maßen … Familien-, Sachen- u. Erbrecht weisen die stärksten Ähnlichkeiten auf …! Vom Kernbereich Familie(n Recht) aus entwickelten sich die weiteren Bereiche des (Privat)Rechts Schritt für Schritt, beginnend mit dem Sachen- u. Erbrecht Man kann sagen: Die Bedeutung der Familie (in der Frühzeit) reicht weit über das FamR hinaus, denn Brauch, Autorität, Ordnung u. Moral (die auch für das Entstehen des Staates u. seiner Organe von Bedeutung sind) werden in der Familie erworben!
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I. Normgenerator Familienrecht … (1b)
Fortsetzung: In frühen Gesellschaften (zB auch in Ägypten) ist nicht das Individuum, sondern die Familie (über die in ihr existierenden Generationen hinweg), das handelnde, leidende u. Verantwortung tragende Subjekt! → s. die Folien: ‚Emergenz der Person‘! (3. u. 4. Std.) Beispiele: - Blutrache (als familiär-verwandtschaftlich organisierte Rechtsdurchsetzung) u. - Familien-Eigentum (in der Form von Mit-Eigen-tum als älteste Eigentumsart); s. → ‚Graeca‘, Bd. III/2, Kap. VI 2b: ‚Miteigentum‘ Die Organisation der griech. Familie wurzelt in der Idee des Hauses/ Das griech. Haus war offener konzipiert als das römische, in dem der Hausvater lebenslang seine Hausgewalt über alle Mitglieder innehatte Auf die familienrechtl. Stellung der Ehefrau sowie der Haussöhne u. -töchter bin ich bereits eingegangen …! s. → ‚Emergenz der Person‘ I (6)
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I. Normgenerator Familienrecht … (2)
Die Familie war die Keimzelle rechtlicher Grundmuster u. von Normativität → Erkenntnisse der Ethnologie … Marcel Mauss u. Claude Levy-Strauss haben gezeigt, dass: - Inzest-, Heirats- u. Nahrungsverteilungsregeln als älteste Normen im Schoße von Familie u. Verwandtschaft entstanden sind Aus den Bereichen Familie u. Verwandtschaft stammt auch der Gedanke des Ausgleichs zw. Gruppen- u. Individualinteressen u. das wichtige Prinzip der Gegenseitigkeit/Reziprozität … Lit.: B. Malinowski, Gegenseitigkeit und Recht (1926/1983)*; R. Thurnwald (1934)* Eingespannt in diesen Regelungsrahmen sind die ersten Rechtsschöpfungen: - Schenkung (→ Prototyp der unentgeltl. Rechtsgeschäfte/Verträge u. - Tausch (→ Prototyp der entgeltl. Rechtsgeschäfte/Verträge) Lit.: - M. Mauss, Die Gabe. Form u. Funktion des Austauschs in archaischen Gesell-schaften (1950/1968); - C. Levy-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandt-schaft (Frankfurt a. M., 1984)
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I. Normgenerator Familienrecht … (3)
Seit M. Mauss wissen wir: … der Austausch in frühen Gesellschaften hat sich in der Form von gegenseitigen Gaben (Gabentausch) vollzogen u. noch nicht durch rechtliche Transaktionen! … M. Mauss bezeichnet diesen Austausch als → ‚fait sociale total‘ = eine totale gesellschaftl. Tatsache u. meint damit eine gesamtgesellschaftl. Tatsache, die magische, religiöse, ökonomische, utilitäre wie sentimentale, juristische u. moralische Elemente hat … Anlaß für einen Gabentausch waren die zentralen mensch-lichen Lebensstationen: Geburt, Heirat, Verlobung, Initia-tion, Tod etc. Vgl. das Wilamowitz-Zitat vor der 7. u. 8. Std.: ‚Recht u. Religion‘
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II. Entgeltfremde Geschäfte … (1)
Zur Kategorie der entgeltfremden/-freien Geschäfte: Uns ist folgende Einteilung vertraut: un-entgeltliche Rechtsgeschäfte/Verträge → Schenkung entgeltliche Rechtsgeschäfte/Verträge → Tausch u. Kauf Zur Genese: Die entgeltlichen Geschäfte haben sich aus den un-entgeltlichen entwickelt; der Tausch ist älter als der Kauf, was das ABGB widerspiegelt: - Tausch (§§ 1045 ff), - Kauf (§§ 1053 ff); vgl. dazu § 1066 ABGB! Daneben existieren noch heute die entgeltfremden od. -freien Rechtsgeschäfte/Verträge, die älter sind als die un-entgeltlichen Geschäfte! – Sie stammen aus der Zeit des allge-meinen Gabentauschs …! (Spuren noch bei Homer: M. I. Finley!)
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II. Entgeltfremde Geschäfte (2)
Zur Kategorie der entgeltfremden/-freien Geschäfte: Auch für diese Kategorie liegt der Grund in Familie u. Verwandtschaft …! Beispiele für entgeltfremde Leistungen: Unterhaltsleistungen, Aus-stattungsverträge, Gutsübergabe, erbrechtl. Zuwendungen uam. Entdecker dieser dritten Kategorie (neben: entgeltlich u. unentgeltlich) war Franz Gschnitzer: JBl. 1935, 122 ff = FGL 1993, 325 Aus der Kategorie der entgeltfremden Geschäfte/Leistungen haben sich zuerst die un-entgeltlichen u. dann die ent-geltlichen Rechtsgeschäfte/ Verträge entwickelt … Auf die entgeltfremden Verträge sind (je nach Inhalt) entweder die Regeln der un-entgeltlichen od. entgeltlichen Rechtsgeschäfte anzu-wenden; Beispiel: bäuerliche Gutsübergabe …
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III. Zusammenfassung Was hat sich aus dem Familienrecht entwickelt?
Zunächst persönliche (Rechts)Beziehungen: → Personen- + Ehe- + Kindschaftsrecht … Dann Beziehungen zu Sachen: → Sachenrecht … vom Familieneigentum (Mit-ET!) zum → Allein- od. Individual-Eigentum Weiters → Erbrecht (als Rechtsgang nach dem Tod; Rechtssprichwort: ‚Das Gut rinnt wie das Blut‘) u. zwar: gesetzliches u. gewillkürtes Erbrecht (Testament); all das sind bereits griech. Entwicklungen! Das Erbrecht diente nicht nur der → Vermögensweitergabe, sondern auch der → Sicherung des Ahnenkults; gr. Nomizómena, lat. sacra … In frühen Gesellschaften genügte lange das Sachenrecht; später trat das Schuldrecht (verfeinernd) hinzu! – Erst spät wurden sog. Allgemeine Teile geschaffen (19. Jh.): u. zwar im SchuldR, SchadenersatzR u. ein ‚Allgemeiner Teil‘ (für das gesamte Privatrecht) …
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