Europäisches Privatrecht

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 Präsentation transkript:

Europäisches Privatrecht Universität Zürich FS 2013 Prof. Dr. Andreas Kellerhals

Gesellschaftsrecht 2 Rechtsprechung

Vorbemerkungen Rechtsgrundlage Gesellschaftsrecht EU Ziel: Errichtung Binnenmarkt Transparent und Schutz insb. für grenzüberschreitende Investitionen Niederlassungsfreiheit: Gleichsetzung nP/jP? Rechtsentwicklung Rechtsetzung Verordnung (Vereinheitlichung) – 3 – 4 Richtlinien Rechtsprechung EuGH (primär Vorlageverfahren)

Rechtsprechung (1) Zentrale Rolle des EuGH Grund: Interpretation des EGV Insb. Grundfreiheiten (Niederlassungsfreiheit) Wichtigste Entscheidungen Daily Mail (1987) Centros (1997) Überseering (2000) Inspire Art (2001) Sevic (2003) Cartesio (2006)

Rechtsprechung (2) Daily Mail (Rs. 81/87) Daily Mail = brit. Aktiengesellschaft mit Sitz in London Um für geplante Veräusserung von Teilen ihres Vermögens Steuer zu entgehen, wollte Daily Mail ihren Sitz ohne Liquidation nach Holland verlegen Brit. Gesetz verlangt für Sitzverlegung ins Ausland ohne Liquidation Genehmigung durch Regierung Klage: Genehmigungsvorbehalt ist widerrechtlich Gleichbehandlung nat. und jur. Personen?

Rechtsprechung (3) EuGH: Primäre/Sekundäre Niederlassungsfreiheit Brit. Vorschriften beschränken übliche Formen der Niederlassung (Agentur, Zweigniederlassung, Tochter) nicht. Hinsichtlich rechtlichen Anforderungen an Sitzverlegungen gibt es noch grosse Unterschiede zwischen den MS EGV trägt diesen Unterschieden Rechnung Daher gewährt Niederlassungsfreiheit beim derzeitigen Stand der Integration nicht das Recht, den Sitz in einen anderen MS zu verlegen

Rechtsprechung (4) Centros (Rs. 212/97) Dänisches Ehepaar wollte Gesellschaft gründen, gleichzeitig aber Einzahlung von Mindestgesellschaftskapital in DK von rund 200‘000 DKR vermeiden. Sie gründeten in GB eine „private limited company“ mit Sitz in London Kein Mindestkapital Eintragung von Zweigniederlassung in Dänemark Dies ist ohne weitere Formalitäten möglich Verwaltung lehnt ab wegen Umgehungsvorwurf Vorabentscheidverfahren

Rechtsprechung (5) EuGH: MS, der Eintragung einer ausländischen Gesellschaft verweigert, verstösst gegen Niederlassungsfreiheit Recht, Gesellschaft im EG-Ausland zu gründen und Zweigniederlassung in anderem MS zu errichten folgt unmittelbar aus Niederlassungsfreiheit Stellt somit kein Missbrauch dieses Rechts dar Ergebnis: Zweigniederlassungen möglich

Rechtsprechung (6) Überseering (Rs. 208/00) Eine in Holland gegründete Gesellschaft hatte Unternehmer mit Malerarbeiten an Gebäude in D beauftragt. Wegen Mängel verklagte Gesellschaft Maler vor deutschem Gericht. In der Zwischenzeit verlegte Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach D (neue Gesellschafter) Verlust ihrer Rechts- und Parteifähigkeit gemäss Sitztheorie (im Gegensatz zu Gründungstheorie) Sitzverlegung nur möglich gemäss Sitztheorie, wenn in D neu gegründet wird Abweisung der Klage!

Rechtsprechung (7) EuGH: Verstoss gegen Art. 43/48 EGV, wenn einer Gesellschaft, welche zulässigerweise im Ausland gegründet wurde, nach Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes die Rechts- und Parteifähigkeit abgesprochen werden. Niederlassungsfreiheit verbietet Aberkennung von Rechts- und Parteifähigkeit aufgrund der Sitztheorie Ergebnis: Ende der Sitztheorie (D)

Rechtsprechung (8) Inspire Art (Rs. 167/01) Inspire Art Ltd. ist eine nach engl. Recht gegründete private company limited by shares Betreibt Kunsthandel in Holland In Amsterdam ist Zweigniederlassung eingetragen Holländisches Recht behandelt im Ausland domizilierte Gesellschaften restriktiver Frage: Europakompatibilität?

Rechtsprechung (9) EuGH: Fortsetzung von Centros Zweigniederlassung kein Missbrauch der Niederlassungsfreiheit Es gilt Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Aber: Ausnahmen sind zulässig Müssen aber begründet sein Nutzung der Niederlassungsfreiheit allein ist kein Missbrauch

Rechtsprechung (10) Sevic (Rs. 411/03) Dt. Umwandlungsgesetz beschränkte dessen Anwendbarkeit ausschliesslich auf Gesellschaften mit Sitz in D Umwandlungen mit ausländ. Gesellschaften waren nicht eintragungsfähig EuGH: Verstoss gegen Niederlassungsfreiheit Kein zwingender Grund Allgemeininteresses Grenzüberschreitende Verschmelzungen nicht derart anders - Unverhältnismässig Grenzüberschreitende Fusion Teil Art. 48 EGV

Rechtsprechung (11) Cartesio (Rs. 210/06) Ungarische Gesellschaft stellt Antrag beim HR auf Sitzverlegung nach Italien „Operativer Sitz“ weiterhin in Ungarn HR lehnt ab, da ungar. Gesellschaft ihren Sitz nicht unter Wahrung ihres ungarischen Personalstatuts ins Ausland verlegen könne Berufungsgericht bestätigt diesen Entscheid Vorlage an EuGH Fragen: Verstoss gegen Niederlassungsfreiheit? Daily Mail „abgelaufen“?

Rechtsprechung (12) EuGH (Rs. 210/06) Kein Verstoss gegen Niederlassungsfreiheit Gemäss Wortlauf Art. 48 EGV (Art. ?? EAUV) fällt es in Kompetenz der MS zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen eine Gesellschaft gegründet und fortbestehen kann Dazu gehört auch die erforderliche Inlandsverknüpfung MS können zulässigerweise entweder auf rechtlichen Sitz oder tatsächliche Verwaltung abstellen Daraus folgt, dass sie auch über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Aufteilung des rechtlichen und operativen Sitzes auf zwei Staaten entscheiden können.

Rechtsprechung (13) EuGH (Rs. 210/06) Bedeutung des Entscheides: Um von Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, verlangt Art. 48 EGV die Gründung einer Gesellschaft nach den Vorschriften eines MS Zudem verlangt Art. 48 EGV enge Beziehung der Gesellschaft zu MS (Satzungssitz, Hauptverwaltung, Hauptniederlassung) Bei Sitzverlegung fehlt (noch) einheitliches EG-Kollisionsrecht Somit kommt nationales IPR zur Anwendung Sitzverlegung löst somit Statutenwechsel aus Gründungstheorie (Wegzug – JP bleibt bestehen) Sitztheorie (Wegzug – JP erlöscht)

Rechtsprechung (14) EuGH (Rs. 210/06) EuGH unterscheidet zwischen Wegzugs- und Zuzugsfällen Für EuGH fusst jP auf einer nationalen Rechtsordnung und hat daher grundsätzlich im Ausland ohne diese Rechtsordnung keine Realität Daher kann gemäss EuGH nationales Recht weiterhin vorsehen, dass sich eine jP im Falle Sitzverlegung ins Ausland auflösen muss Diese Meinung steht im Gegensatz zur Praxis des EuGH, für den Zuzug keine Hemmnisse zu dulden Cartesio hat daran (leider) nichts geändert, Chance vertan

Rechtsprechung (15) EuGH (Rs. 210/06) Einwände gegen Daily Mail bestehen im Kern weiter! EuGH macht Verwirklichung von Niederlassungsfreiheit von bis heute nicht erlassenen Harmonisierungsmassnahmen abhängig Widerspruch zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 43 EGV Im Bereich etwa Anerkennung ausländische Diploma hat EuGH andere Praxis! Auch unter Cartesio bleibt Rechtsrahmen für Mobilität von Gesellschaften in der EU weiterhin unvollendet

Vergleich Gesellschaftsrecht CH-EU Schweizerisches Aktienrecht = liberales Einheitsrecht Vergleichsweise geringe zwingende Anforderungen Privatautonomie Insb. D Aktienrecht: detaillierte zwingende Vorschriften SE: Abweichungen nur möglich, wo ausdrücklich erlaubt Grosse Freiheit in organisatorischer Ausgestaltung Monistisches System mit dualistischen Elementen SE: freie Wahl Keine Pflicht zur Mitbestimmung in CH SE Statuten sehr lückenhaft (80 Verweise auf nationales Recht) Nachteile: Allenfalls Amtsdauer und Vergütung (Minder) „Bonne a tout faire“ Ansätze einer Zweiteilung des Aktienrechts Konzernrecht?

Zusammenfassung Rechtsetzung Supranationalität wenig Erfolg Rechtsangleichung wichtig Rechtsprechung Zentrale Rolle des EuGH Wesentlicher Beitrag zur Verwirklichung der Unternehmensmobilität in Europa Anerkennung der Gründungstheorie Offene Frage: Wegzugsschranken (Daily Mail)