Exkursion in eine verwinkelte Schlucht

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Exkursion in eine verwinkelte Schlucht Universalgeschichte Exkursion in eine verwinkelte Schlucht

Ein Warnschild Die Geschichte tut nichts, sie »besitzt keinen ungeheuren Reichtum«, sie »kämpft keine Kämpfe«! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die »Geschichte«, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen. Marx/Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW Bd. 2, S. 98)

Begriffsverwirrung „Universalgeschichte“ Universal-, Welt- und Globalgeschichte finden als Begriffe unterschiedlichste Verwendung Zeitlich Räumlich (Eurozentrismus!) Konzeptionell

Universalgeschichte als: Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts Geschichtstheorie Theoretisch orientierte, interpretationsgeleitete Historiographie, die nach synthetischen Aussagen zum historischen Prozess strebt („Geschichte ist unteilbar“) Darstellung anhand aufeinander folgender Paradigmen? Vorsicht: Querliegende Strömungen! ->marxistische Geschichtsinterpretation: (positiver und negativer) Referenzpunkt beinahe aller Geschichtsdiskurse des 20. Jahrhunderts

„Auf dass Vernunft in der Geschichte sei „Auf dass Vernunft in der Geschichte sei...“ Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts Hintergrund: Aufklärung, Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, Französische Revolution Geschichte als Singular und als eigenständiger, zusammenhängender Prozess Geschichte ist immanent - verfügt über bestimmte Sinngebung (bürgerliche Freiheiten und Rechte) und ein Von-Vornherein-Ziel, auf dessen Erfüllung alles Geschehene sich richtet. [Selektivität in der Universalgeschichte, Funktionalität alles Geschehenden] Der Geschichte unterliegt Vernunft Geschichte als Meta-Subjekt (Personifizierung) Geschichte bezieht sich auf die gesamte Menschheit als Gattung Emanzipatorischer Impuls, Säkularisierung der Ursachen und bewegenden Kräfte der Geschichte, Politisches Kampfprogramm Zukunftsprojektion – Teleologie – Linearität

Philosophen der Universalgeschichte Maquis de Condorcet (1743– 1794) emphatischer Fortschrittsoptimismus Naturgesetzlichkeit und Vorhersagbarkeit des historischen Fortschritts Immanuel Kant (1724– 1804) „tentative Geschichtsphilosophie“ Vernunft in der Geschichte als übergeordnetes, aber hintergründiges Prinzip. Ziel: Verwirklichung einer auf Recht basierenden bürgerlichen Gesellschaft. „Die zum Besseren fortschreitende Menschengeschichte“ Jedoch Interferenz durch menschliche Unzulänglichkeit ->Hoffen auf einen der Vernunft entsprechenden Verlauf („Geschichtszeichen“)

Georg Willhelm Hegel (1770– 1831) Geschichte als umfassende Totalität Primat der Philosophie im Erkennen des Prinzips der Geschichte „Geschichte ist der Prozess sich realisierender Freiheit“ Subjekt der Weltgeschichte ist der „Weltgeist“ Ziel ist seiner Ansicht nach bereits verwirklicht, „Ende der Geschichte“ Geschichte als „Theodizee“, als geplante Vorhersehung

19. Jahrhundert: Distanzierung und Wiederannäherung „Wir können alles wissen!“ aufklärerische Universalgeschichte „Wir können nur Fakten wissen!“ Herausbildung der Geschichte als akademische Disziplin, Historismus, Quellenkritik, Positivismus, Deutungszusammenhang nur noch implizit – „wie es eigentlich gewesen“ (v. Ranke) „Was können wir alles wissen? neue Suche nach synthetischen Perspektiven und theoretisch geleiteten Deutungen D: Lamprecht-Streit, Max Weber (Typusbegriff) F: Emil Durkheim (Soziologie), Henri Berr (Begriff „synthèse“)

Universalhistorische Konjunkturen nach 1945 -> Konkurrenz der Blöcke: Modernisierungstheorie vs. Sowjetische Formationstheorie, Dekolonisierung und Unterentwicklungsdebatte Sammelband 1974: Ernst Schulin, Universalgeschichte Arnold Toynbee: „Study of history“, Zivilisationen, Herausforderung/Antwort, Zyklusmodell, Religion als tragende Kategorie Max Weber: Idealtypus, „Die protestantische Ethik...“ Walter Rostow: Modernisierungstheorie in 5 Stufen, Take-off Jacques Godechot/Robert Palmer: „Atlantizismus“ Fernand Braudel: Annales E. M. Shukov: sowjetisches Projekt „Weltgeschichte“ Carlo Cipolla: Zwei Revolutionen (Neolithische und Industrielle Revolution)

Aufschwung nach 1989? Francis Fukuyama: „Das Ende der Geschichte“ Samuel P. Huntington: „Clash of Civilisations“ Paul Kennedy/Emmanuel Todd/Peter Bender: Aufstieg und Fall imperialer Mächte, spez. der USA Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie

Marxistische Geschichtsdeutung Fragmentarisch, vielschichtig, „elastisch“ Ausgangspunkt: die materielle Produktion und Reproduktion der Lebensbedingungen durch den Menschen Drei Perspektiven zur Geschichte Geschichte als universaler Sinnbezug Konkret-historische Praxis des Menschen Geschichte als objektive und gesetzmäßige Struktur- und Prozesslogik (Helmut Fischer, Marxismus und Geschichte, Frankfurt a. Main 1969)

Geschichte als Sinntotalität Anknüpfung an aufklärerische Universalgeschichte Der „frühe Marx“ (Pariser Manuskripte, 1844) Geschichte verfügt über einen immanenten Sinn: „Werden des Menschen im ganzen Reichtum seines Wesens“ ->Emanzipation von Entfremdung, alle bisherige Geschichte nur „Vorgeschichte“ Ziel der Geschichte: „Vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit“ Weltgeschichte ist die „Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit“ -> Arbeit & Gesellschaftlichkeit als „conditio humana“

Geschichte als Praxis „Deutsche Ideologie“ von 1845/46 Ablehnung teleologischer Modelle Praxis und Lebenstätigkeit der Menschen rücken in den Blick. Starker politischer Bezug: “Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ Geschichte als Resultat des bedürfnisgeleiteten und situativen Handelns der Menschen. Die Rahmenbedingungen des menschlichen Handelns Mensch <-> Natur Mensch <-> Produktion Mensch <-> Gesellschaft „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonparte, MEW Bd. 8, S. 115)

Geschichte als naturgesetzlicher Prozess Die Gesamtheit der Handlungsansätze bringt eine eigene Logik gesellschaftlicher Verhältnisse hervor Triebkräfte des historischen Prozesses: Produktivkräfte Eigentums- und Produktionsverhältnisse Produktionsweise Klassenbildung Gesellschaftsformation und ihre gesetzmäßige Abfolge („in großen Umrissen“ Sklavenhaltergesellschaft-asiatische Produktionsweise-Feudalismus-Kapitalismus) „Weltgeschichte als Resultat“ der globalen Interaktionsverdichtung durch die Kapitalismusgenese Tendenz zum ökonomischen Determinismus wurde an vielen Stellen relativiert, jedoch in der stalinistischen Marxismus-Interpretation dominant

Der „schmale Grat“ Struktur Subjekt/Bewusstsein gesetzmäßige Logik der Geschichte Offenheit der Geschichte Notwendigkeit Zufall Ganzes Teil Praxis Determiniertheit Kulturalistischer Marxismus „strukturalistischer“ Marxismus Vs.

Die „Leipziger Schule“ Walter Markov und Manfred Kossok Anknüpfung an universalhistorische Tradition Karl Lamprechts und an die Annales-Tradition Komparatistische und außereuropäische Geschichte Revolutionsgeschichtsschreibung: Volksbewegung „Geschichte von unten“ Vergleichende Revolutionsgeschichte Einbettung der neuzeitlichen Revolutionen in die gesamthistorische Transformation durch Typenbildung Anknüpfung an die „Übergangsdebatte“ „keine Modelle, sondern nur Wege“

Revolutionsgeschichte als Schnittstelle einer historischen Synthese Prägfigurationen Klassenkämpfe handelnde Menschen Gesellschaftliche Transformation Revolution Sozialökonomische Strukturen/determinierende Logik Ideen/Kultur/Vorstellungen„heroische Illusion“

Übergangsdebatte Wie vollzog sich der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus? Mehrere Wellen dieser Debatte: 1950er Jahre: Maurice Dobb – Paul Sweezy 1970er Jahre: Robert Brenner – Immanuel Wallerstein Zwei Blickwinkel: Handel, Marktbeziehungen, Austausch und Geld als zentrale Triebkräfte, die den Feudalismus von außen erodierten (Zirkulationisten/Externalisten) Soziale Beziehungen (Produktionsverhältnisse), Eigentumsverhältnisse, Klassenkräfteverhältnisse und Klassenkämpfe (Produktionisten/Internalisten)

Übergang zur Globalgeschichte Überwindung des mechanischen stalinistischen Geschichtsbegriffs (Gegenläufigkeit, Alternativität, Komplexität, „Gesetze“ als Möglichkeiten und Tendenzen) Von der Weltgeschichte zur Globalgeschichte als Dynamik von „Verdichtung [...] zu einem System gegenseitiger Abhängigkeiten, Durchdringungen, Beeinflussungen, Kommunikationen“ (Manfred Kossok, Von der Universal- zur Globalgeschichte, in: Manfred Kossok, Ausgewählte Schriften Bd. 3. Leipzig 2000, S. 300) Kein ZUlaufen auf einen Punkt mehr, sondern AUSlaufen auf globale Vielfalt

Ausgang aus der Schlucht? Wie lässt sich „Interaktion“ fassen Zu geringe Aufmerksamkeit für direkte soziale Vergesellschaftung (kap. Produktionsweise, Kommodifizierung, Entfremdung, Subsumption) Politischer Anspruch hinter der neuen Bescheidenheit? ->„relationale Emanzipationsgeschichte“ als subjektorientierte Globalgeschichte