Friedrich-Schiller-Universität Jena SS 2010

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 Präsentation transkript:

Friedrich-Schiller-Universität Jena SS 2010 Vorlesung Europarecht Prof. Dr. Christoph Ohler, LL.M.

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen I. Verfassungsqualität des Primärrechts EUV und AEUV als Verfassung der EU? Zu bejahen in Hinblick auf die Verfassungsfunktionen Konstituierungs- und Organisationsfunktion Legitimationsfunktion u. Machtbegrenzungsfunktion Rechtserzeugungsfunktion Vorrang in der Normenhierarchie Grenzen des Verfassungsbegriffs Fehlende Staatsqualität der EU: „Staatenverbund“ (BVerfG 89, 155) Fehlen eines europäischen Volkes: Legitimationsfrage Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit (Sprache, Kultur) EuGH: Verträge als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“ Vertrag über eine Verfassung für Europa Begriffliche Ambivalenz Letztlich aber völkerrechtliche Entstehung und Abänderung Vertrag von Lissabon Technisch: Vertrag zur Änderung von EUV und EGV Inhaltlich: Verzicht auf „staatliche“ Symbole und sonstige „Staatsanalogien“

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen II. Das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten Nationale Verfassungen als Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten; Bundesrepublik Deutschland: Art. 23 Abs. 1 GG Begriff des Hoheitsrechts Recht zur Ausübung hoheitlicher Befugnisse im umfassenden Sinne Durchgriffswirkung des Gemeinschaftsrechts auf Bürger; Anwendungspflicht seitens der innerstaatlichen Behörden u. Gerichte Grds. keine Notwendigkeit innerstaatlicher Umsetzung des Gemeinschaftsrechts „Übertragen“ Nicht „dinglich“ zu verstehen Rückholbarkeit verfassungsrechtlich möglich Rolle des Zustimmungsgesetzes Zustimmungsgesetz für den völkerrechtlichen (Änderungs-)Vertrag Maßstab für das „Übertragene“ und damit die indirekte Prüfung der Kompetenzausübung durch Organe der EG/EU Errichtung eines Bundesstaats nur über Art. 146 GG (BVerfG 123, 267) Nationale Verfassungen als Rechtsgrund für die Bindungswirkungen und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts? Str. Deutschland: Art. 23 GG iVm jeweiligem Zustimmungsgesetz A. A.: Rein gemeinschaftsrechtlicher Geltungsgrund Praktische Bedeutung: Vorrang des Gemeinschaftsrechts und seine Grenzen

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen II. Das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten Verschränkungen zwischen EU und Mitgliedstaaten Mitgliedstaaten sind die „Herren der Verträge“ (BVerfGE 89, 155 – Maastricht-Urteil) Entscheidende Einwirkungsbefugnisse der Regierungen der Mitgliedstaaten auf die EU durch den Rat, Art. 16 Abs. 2 EUV Vollzug des Unionsrechts durch mitgliedstaatliche Gesetzgeber, Verwaltungsbehörden und Gerichte Umsetzung von Richtlinien, Art. 288 Abs. 3 AEUV Verwaltungsvollzug: Verordnungen gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV als Rechtsgrundlage für Verwaltungsakte innerstaatlicher Behörden Gerichtlicher Rechtsschutz gegen Maßnahmen innerstaatlicher Behörden vor inländischen Gerichten Keine politischen Durchgriffsrechte und Sanktionsmöglichkeiten der EU gegenüber den Mitgliedstaaten, aber: Vertragsverletzungsverfahren der Kommission; Festsetzung von Zwangsgeld durch den EUGH, Art. 258, 260 EGV Defizitverfahren bei übermäßiger Verschuldung, Art. 126 AEUV Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte bei schwerwiegenden Verstößen gegen Werte der EU, Art. 7 EUV

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen II. Das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten Bezugnahmen des EU Primärrechts auf das nationale Verfassungsrecht Art. 4 Abs. 2 EUV: Identität der Mitgliedstaaten Art. 6 Abs. 3 EUV: gemeinsame Verfassungsüberlieferungen als Grundlage der grundrechtlichen Bindungen der EU Art. 10 Abs. 2 EUV: demokratische Legitimation und Kontrolle der Mitglieder des Europäischen Rats bzw. Rats durch nationale Parlamente Art. 12 EUV: Rolle der nationalen Parlamente, insbesondere verfahrensmäßige Beteiligung an der EU Gesetzgebung aufgrund des Subsidiaritätsprotokolls Art. 16 Abs. 2 EUV: rechtliche Bindungen der Ratsmitglieder „Europäischer Verfassungsverbund“ und „wechselseitige Auffang- und Kooperationsordnung“

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen II. Das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten Wechselseitige Pflichten zwischen EU und Mitgliedstaaten Art. 5 Abs. 1, 2 EUV – Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (keine Kompetenz-Kompetenz der EU) Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV) Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen („Unionstreue“) Anwendungsbeispiele Anforderung an die Umsetzung von Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV) und Grundsatz der gemeinschaftskonformen Auslegung Konsultationspflichten Pflicht zur Aufhebung nationalen unionsrechtswidrigen Rechts Pflicht zum Nicht-Erlass unionsrechtswidrigen nationalen Rechts Pflicht zur Sanktionierung von Unionsrechtsverstößen im innerstaatlichen Recht

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen III. Der Vorrang des Unionsrechts Begriffliche und inhaltliche Unterscheidung nach Geltung unmittelbare Anwendbarkeit Vorrang Begründung des Vorrangprinzips Wirksame Durchsetzung des Unionsrechts Einheitliche Durchsetzung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten ungeachtet der Kollisionsregeln/Rangregeln des innerstaatlichen Rechts Normkollisionen als Anwendungsfall des Vorrangprinzips Widerspruch in den Rechtsfolgen Problem: Kollision mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen Problem: Kollision nationalen Rechts mit Richtlinien, die nicht unmittelbar anwendbar sind

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen III. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts Bedeutung des Anwendungsvorrangs Nationales Recht kein Prüfungsmaßstab für Gemeinschaftsrecht Gemeinschaftsrecht setzt sich im Kollisionsfall durch Unzulässigkeit von innerstaatlichen, gerichtlichen Normenkontrollverfahren zur vorherigen Feststellung der Unanwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts Jede Behörde, jedes Gericht wird durch das Vorrangprinzip gebunden Beachte: kein Geltungsvorrang, EuGH, Rs. C-10/97, IN.CO.GE Aber: Pflicht zur Nichtanwendung widersprechenden nationalen Rechts Problem: Sperrwirkung? Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Pflicht zur Rückerstattung gemeinschaftsrechtswidriger Abgaben Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch Probleme in der Praxis Feststellung des Kollisionsfalls Prüfung der inhaltlichen Reichweite des Unionsrechts, Ermittlung von Rechtfertigungsgründen zugunsten des innerstaatlichen Rechts Beispiel: Doc Morris

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen III. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts Grenzen des Vorrangs Problem der Begründung (verfassungsrechtlich oder gemeinschaftsrechtlich) Problem des Maßstabs auf verfassungsrechtlicher Ebene Problem: Verwerfungskompetenz der Exekutive? (Fall Doc Morris) Ultra-vires Akte Maastricht-Urteil BVerfGE 89, 155 Lissabon-Urteil BVerfG 123, 267 Maßstab Zustimmungsgesetz oder nur manifeste, systematische Verstöße? Konflikte zwischen Sekundärrecht und nationalen Grundrechten Kooperationsverhältnis BVerfG / EuGH, BVerfGE 89, 155 Bananenmarktbeschluss des BVerfGE 102, 147 Identitätsschutz der Verfassung BVerGE 123, 267 – Lissabon Materielle Kernbereiche staatlicher Gesetzgebung aufgrund des Demokratieprinzips unverzichtbar geschützt Problem: Anwendung des Identitätsschutzes auf bereits übertragene Zuständigkeitsbereiche? Eher Kontrollmechanismus gegenüber künftigen Hoheitsrechtsübertragungen

§ 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen IV. Europäisierung des deutschen Verfassungsrecht Modifikation des GR-Schutzes in EU-Sachen Rücknahme des deutschen GR-Schutzes gegenüber sekundärem Unionsrecht Problem: Umsetzungsspielräume bei Richtlinien Erweiterung des Rechtsstaatsbegriffes Art. 20 Abs. 3 GG „Gesetz“ umfasst gesamtes Gemeinschaftsrecht Erweiterung des Grundrechtsschutzes für EU-Bürger Ausdehnung der „Deutschen“-Grundrechte Problem: Dogmatische Begründung EuGH als gesetzlicher Richter, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Spezialregelungen Art. 16 Abs. 2 GG Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG Art. 45, 52 Abs. 3 a, 88 Satz 2 GG