Qualitative Biographieforschung und Narrative Interviews Referenten: Jan-Helge Sartor, Adem Kabatas, Enes Günes
Gliederung Qualitative Biographieforschung: - Einführung zum Begriff der Biographieforschung - Philosophische Grundlagen - Zusammenfassung Das narrative Interview (Enes)
Einführung Gesellschaftlicher Wandel: - Gesellschaften zunehmend komplexer - Ausdifferenzierung individueller Lebensführungen und Werthaltungen - immer schwieriger, den „Normallebenslauf“ zu definieren Quantitativ ausgerichtete Bildungs- und Lebenslaufforschung reicht nicht mehr aus. Chance der Qualitativen Biographieforschung: Sie stellt sich der Komplexität des Einzelfalls.
Einführung Grundlagen der Biographieforschung: Wissenssoziologie Symbolischer Interaktionismus Ethnotheorie Ethnomethodologie Konversationsanalyse
Einführung Methodologische Annahmen: - Menschliche Entwicklung als lebenslanger Lern- und Bildungsprozess - Gesellschaftliche Tatsachen sind über Sinn- und Bedeutungszuschreibungen der Handelnden zu erschließen - Schwerpunkt: Studium individueller Formen der Verarbeitung gesellschaftlicher und milieuspezifischer Erfahrung
Einführung Individuelle Formen der Verarbeitung sind nicht aus gesellschaftlichen Vorgaben ableit- oder vorhersagbar aufgrund von Emergenz und Kontingenz Emergenz: Komplette Vorhersagen über Entscheidungen des Menschen durch Umweltfaktoren nie möglich. Biographische Entscheidungen beinhalten immer das Element Freiheit.
Einführung Kontingenz: Die existenzielle Erfahrung des Endlichen und Zufälligen, durch die der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird. Etwas kann so sein, ist aber auch anders denkbar.
Philosophische Grundlagen Zwei Aspekte für die Konstitution von Biographien besonders wichtig: 1. Prozesse der Bedeutungs- und Sinnherstellung 2. Prozesse der Erzeugung von Selbst- und Weltbildern
Prozesse der Bedeutungs- und Sinnherstellung Wilhelm Dilthey (1852-1911); eröffnete das Verständnis des menschlichen Lebenslaufs. Verstehen eng an Hermeneutik gebunden Lern-/Bildungsprozesse als Arten der Selbst- und Weltinterpretation Aufgabe der Geisteswissenschaften: Individuelle Lebenseinheiten zu verstehen Lebenseinheiten: Einzelpersonen und deren Ausdrucksformen, Worte und Handlungen. In soziale Einheiten eingebunden, die sie selbst prägen und durch welche sie geprägt werden.
Prozesse der Bedeutungs- und Sinnherstellung Sinnbildung als Herstellung von Zusammenhängen Vergangenen Ereignissen wird von der Gegenwart aus Bedeutung zugeschrieben Biographisierung: Form der bedeutungsordnenden, sinnherstellenden Leistung des Subjekts in der Besinnung auf das eigene gelebte Leben „Linien“ werden in das Material der Vergangenheit gelegt.
Prozesse der Bedeutungs- und Sinnherstellung Die Perspektive der individuellen Sinn- und Bedeutungserzeugung führt direkt zum Ansatz moderner qualitativer Biographieforschung
Prozesse der Bedeutungs- und Sinnherstellung Jean Paul Sartre (1905-1980); fordert, hermeneutische Aufmerksamkeit dem Einzelnen zuzuwenden. Versuch, Individuen zu verstehen, indem deren Verarbeitungsformen der Wirklichkeit studiert werden Gegen irgendwie geartete Abgeschlossenheit des Wissens und Eindeutigkeit im Sinnverstehen Für Vielfalt und Vieldimensionalität
Prozesse der Selbst- und Welterzeugung Alfred Schütz (1899-1959); Begründer der phänomenologischen Soziologie Fragt, in Auseinandersetzung mit Georg Simmel und Max Weber, wie man den subjektiven Sinn fremden Verhaltens verstehen kann Der Mensch hat eine Vielzahl von Formen des Zugangs zu sich und der Welt Kosmion: symbolische Selbstinterpretation einer Gesellschaft. Indem der Mensch sich die Welt sinnhaft auslegt, macht er sie zu seiner Lebenswelt, zum Kosmion.
Prozesse der Selbst- und Welterzeugung Schütz´ Werk Don Quixote und das Problem der Realität: Unterscheidung real<->irreal und Psychologie des (Un-)Glaubens, Zweifelns auf zwei psychische Tatsachen gestützt. 1. Man kann denselben Gegenstand auf verschiedene Art und Weise denken. 2. Man hat die Wahl, welcher Ansicht man sich anschließt Ursprung aller Realität ist subjektiv.
Prozesse der Selbst- und Welterzeugung Verschiedene Welten: Alltagswelt, Traumwelt, Wahnwelt (Drogenbeeinflussung), „Virtual Reality“ Der Mensch als Weltenwanderer: Bewegt sich zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, um immer wieder in die Alltagswelt zurückzukehren Notwendiges und sensibles Kriterium für Gemeinschaftsfähigkeit (Alltagswelt als Bezugsrahmen für Weltenwanderung) Biographieforschung: Können wir Wandlungen in Biographisierungsprozessen im Einzelfall verstehen? Sind Aussagen über Bedingungen und Folgen möglich?
Zusammenfassung Typisches Merkmal Qualitativer Biographieforschung: Änderung der Fragerichtung von „Was?“ und „Warum?“ auf das „Wie?“ Bezieht sich auf Vollzüge und Formen des Zugangs zu sich und der gesellschaftlichen Realität Analyse der (z.B. durch narrative Interviews) dokumentierten Biographisierungsprozesse, um Formen der Selbst- und Welthaltung auszulegen Resultat der Analysen: mikrologisch beschriebene Muster der Morphologie/Vielgestaltigkeit empirischer Bildungsfiguren
Zusammenfassung „Wir entwerfen in Prozessen der Biographisierung ständig uns selbst und die Welt vom Blickwinkel einer bestimmten uns eigenen Seinsweise. Es ist berechtigt, ein solches Selbst- und Weltverhalten mit dem Begriff der Bildung anzusprechen. Moderne Qualitative Biographieforschung (in erziehungswissenschaftlicher Absicht) interessiert sich somit für konkrete Bildungsfiguren, ihr Entstehen und ihre Wandlungen (…).“ (Flick u.a. 2009: 185)
Zusammenfassung Einzelne Menschen nehmen scheinbar eindeutige Fakten unterschiedlich subjektiv wahr. Es geht also um deren individuelle Wahrnehmung, Verarbeitung und Bedeutungszuschreibung. Keine wahre oder falsche Sichtweise von Dingen Erfahrungswelt von Subjekten als eigenständiger Bedeutungs- und Sinnzusammenhang für Kreativ- und Problemlösungsprozesse
Das narrative Interview
Moderne Biographieforschung: Frage von dem „Was“? und dem „Warum“? wurde auf das „Wie“? gelenkt Narratives Interview: Erschließung des „Wie? „ Dokumentation und Auslegung von Formen der Selbst- und Welthaltungen.
Besonderheit des narrativen Interviews: Sie vereinbaren Offenheit und „nicht- Direktivität“, mit Konkretion und Erfassung detaillierter Informationen
Entwickelt von Fritz Schütze in den 70ern Wichtiges Merkmal nar. Interviews: die „Stegreiferzählung“
4 Phasen des narrativen Interviews (nach Fischer Rosenthal und Rosenthal): 1.Phase: Erzählaufforderung 2.Phase: Haupterzählung 3.Phase: erzählgenerierende Nachfragen 4.Phase: Interviewabschluss
1.Phase: Erzählaufforderung Erzähler soll durch die Erzählaufforderung nicht „gegängelt“ werden Dem Erzähler soll geholfen werden, frei zu erzählen
2.Phase: Haupterzählung Muss vom Erzähler „autonom gestaltet“ sein Erzähler darf sich nicht auf das Interview vorbereitet haben
3.Phase: Erzählgenerierende Nachfragen Möglichkeit der aktiven Gestaltung des Interviews für den Interviewer: →Interviewer kann offen gebliebene Fragen aufgreifen und nachfragen Wichtig: -Fragen müssen offen formuliert sein -Fragen müssen den Befragten zu weiteren Erzählungen anregen
3.Phase: Erzählgenerierende Nachfragen 3 Nachfragetypen (nach Fischer-Rosenthal): Typ „Ansteuern einer bestimmten Lebensphase“ Typ „Ansteuern einer in der Haupterzählung erwähnten Situation“ Typ „Ansteuern einer Belegerzählung zu einem Argument“
4.Phase: Interviewabschluss Einschätzung des Interviews und der Interviewsituation Bilanzierung Selbstinterpretationen
Erzählungen sind stärker an „konkrete Handlungsabläufe“ gebunden Erzählungen sind weniger stark an Rationalisierungen und Ideologien orientiert
Die Idee hinter dem nar. Interview: Befragte, die frei erzählen, sprechen auch Gedanken und Erinnerungen aus, die sie bei direkten Fragen nicht preisgeben Grund für die Preisgabe:
„Zugzwänge“ des Erzählens Detaillierungszwang Gestaltschließungszwang andere Zwänge