BM ‚Politische Systeme‘

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BM ‚Politische Systeme‘ Wie wandeln sich politische Systeme? TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Gliederung der Vorlesung Was ist Politik? Was ist ein ‚politisches System‘? Warum und wie vergleicht man politische Systeme? Wie läßt sich politische Macht ausüben und bändigen? Welche Arten politischer Systeme gibt es? Wie wandeln sich politische Systeme? Welche Strukturen und Funktionen besitzen die zentralen Elemente moderner politischer Systeme? Die Reihenfolge des Stoffes wurde im Vergleich zur bisherigen Einführung verändert. Die nunmehr verfügbaren Präsentation sind der Gliederung der Vorlesung wie folgt zugeordnet: Was ist Politik? – „Was ist Politik“ Was ist Wissenschaft? – „Was ist Wissenschaft“ Was ist ein ‚politisches System‘? – „Das politische System“ Warum und wie vergleich man politische Systeme? – „Systemvergleich“ Wie läßt sich politische Macht bändigen?– „Sicherung und Bändigung von Herrschaft“ Welche Arten politischer Systeme gibt es? – 1) „Gute politische Ordnung“, 2) „Arten politischer Systeme“ Wie wandeln sich politische Systeme? - „Wandel politischer Systeme“ TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Gliederung des Gedankengangs Ko-Evolution von System und Systemumwelt Theorie der Revolution Die Einzelformen von Systemwandel und Systemwechsel im Zusammenhang: Evolution Revolution Transformation ‚Verfassungskreisläufe‘ scheiternde Staatlichkeit TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

System, Umwelt und Wandel zentrales politisches Entscheidungssystem Gesellschaft Anpassung Ausweichen oder Überleben in Nischen inter- nationales System Ende der Selbst-reproduktion Wandel Wandel Wandel Reaktion des Systems auf Wandel in seiner Umwelt globale Umwelt TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Basis und Überbau Reform oder Revolution Überbau ‚Widerspruch‘ erneuerter Überbau Reform oder Revolution systematisierte gesellschaftliche Leitideen und Wertemuster Überbau ‚Widerspruch‘ politische Institutionen Produktivkräfte: Technik & Bildung Produktionsverhältnisse: Funktionslogik unabhängig von Wertungen und Wünschen gesellschaftliche Basis Produktionsverhältnisse: Funktionslogik unabhängig von Wertungen und Wünschen Produktivkräfte: Technik & Bildung gesellschaftliche Basis Entwicklung TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Die Revolution zpEs rascher Systemumbau revolutionäre Erhebung Wandel: Desynchronisation von politischem Prozeß und Umweltwandel durchbricht die Abschreckungslogik des zpEs ‚Auslöser‘ Funktionsdefizite des zpES Protest: System ändern! zpEs Autoritätsverlust des zpES rascher Systemumbau verfügbare Institutionen Steuerungsmuster der Eliten Systemerhaltung durch Repression revolutionäre Erhebung Protest: Wandel stoppen oder korrigieren! Wandel: Ergebnis abhängig von den Machtverhältnissen und der Tatkraft der Akteure exogen endogen Gesellschaft Polarisierung TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

‚Antizipationsschleifen-Politik‘ Wenn ... die Adressaten einer Handlung wissen, daß diese Handlung eintreten und sicher ganz bestimmte Folgen haben wird oder wenn ... der Autor einer Handlung weiß, daß die Adressaten seiner Handlung (darum) ganz sicher auf eine bestimmte Weise reagieren werden dann reicht es für den Autor der Handlung meist aus, seine Handlung nur anzudeuten oder zu symbolisieren, aber nur solange wie ... TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Exogener Wandel = in der Umwelt des Systems: politische Umwelt: etwa Nachbarstaat wird aggressiv, neue Fernwaffen schaffen Bedrohung wirtschaftliche Umwelt: Krise im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem gesellschaftliche: Bevölkerungsdruck in anderen Staaten und Migration aus ihnen nimmt zu natürliche Umwelt: Klimawandel, Überflutungen, Erdbeben, GAU TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Endogener Wandel = erzeugt im System selbst: technischer Wandel: neue Techniken verändern die Struktur der Arbeitswelt (Produktivkräfte  Produktionsverhältnisse) wirtschaftlicher Wandel: Gesellschaft verliert internationale Konkurrenzfähigkeit, Inflation gesellschaftlicher Wandel: Überalterung, Einwanderung ohne Lösung des Integrationsproblems, Klassenkonflikt kultureller Wandel: Zerfall alter Wertgrundlagen, Ausbreitung neuer, mit dem bisherigen System nicht kompatibler handlungsleitender Werte TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Funktionsdefizite des zpEs Fixierung auf ideologische (Wunsch-)Vorstellungen Festhalten an bisherigen Sichtweisen und ‚politisch korrekten‘ Lagebeurteilungen Verlust an Responsivität Parteien, Interessengruppen, Medien entwickeln weniger Initiative und Kritik Input wird eher abgeschottet als gesucht Verlust an Steuerungsleistung politische Klasse befaßt sich eher mit eigenen Interessen als mit gesellschaftlichen Problemen die politischen Institutionen funktionieren nur mit großen Reibungsverlusten TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Desynchronisation von politischem Prozeß und Umweltwandel unbeseitigbare Uneinigkeit über konkrete Zielsetzungen ‚Schönwetter-Institutionen‘ funktionieren nicht mehr richtig (z.B. anhaltende Regierungsinstabilität wegen verantwortungsscheuer Parteien) friedliche Konfliktbeilegung (etwa durch allgemein akzeptierte Mehrheitsentscheidung) gelingt nicht mehr Vermittlung systemstabilisierender politischer Wertemuster und Verhaltensweisen mißlingt bei Eliten und Bürgerschaft mehr und mehr TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Bewältigung von Wandel und politische Institutionen in der Regel gut geeignet, Wandel zu verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer pluralistischen Demokratie Probleme: allzu konsensabhängiges zpEs fortgeschrittener informeller Verfall der formalen Institutionen in der Regel schlecht geeignet, Wandel zu verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer autoritären Diktatur Ausnahme: entschlossen und kompetent geführte Entwicklungsdiktaturen während ihrer ‚Aufbruchsphase‘ TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Bewältigung von Wandel und die Steuerungsmuster politischer Eliten Reformismus: systembewahrender Wandel ‚Der wahre Konservative ist ein Reformer!‘ Einbinden der Führer von Protestgruppen zielgerichtete Responsivitätssteigerung symbolisch-befriedende Wirkung ‚Durchwursteln‘ ‚Politik der pragmatischen Aushilfen‘ ‚harte Linie‘ abnehmender Nutzen TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Begriffe Zentrale Begriffe für die Analyse von Systemwandel sind: Evolution Revolution Transformation Systemwechsel Ergebnis: TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Evolution schrittweise Weiterentwicklung bestehender Strukturen oder Ausdifferenzierung von Sub- bzw. Suprasystemen (‚Inkrementalismus‘) unter den Bedingungen von Versuch und Irrtum, mit der Umwelt als ‚Überprüfungsinstanz‘ und Selektor ohne jegliche Erfolgsgarantie, sondern mit dem Risiko, in Sackgassen der Entwicklung zu geraten sowohl kontingent als auch pfadabhängig keinesfalls teleologisch (Historizismus) im Fall immer wieder erfolgreicher Umweltanpassung retrospektiv erschließbar als Prozeß ‚institutionellen Lernens‘ TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Kontingenz Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716): „Contingens est quod nec impossibile nec necessarium“ deutsch: „Kontingent ist, was weder unmöglich noch notwendig ist“ D.h.: ‚Kontingenz‘ meint, daß den Lauf der Dinge verändernde Ereignisse und Prozesse ... aus gleich welchen Gründen mit gleich welchen Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1 in einem System oder in dessen Umwelt auftreten und so die Entwicklung eines Systems, oder von dessen Umwelt, in wenig vorhersehbarer Weise beeinflussen. Folgenreich für Systementwicklung und Systemgeschichte: ‚doppelte Kontingenz‘ – einesteils im System, andernteils in dessen Umwelt. TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

man schleppt mit, was man wurde  Prägekraft ‚der Evolution‘ Pfadabhängigkeit t4: zwei längst getrennte Pfade kommen wieder zusammen! t4 t1 t2 t3 A Geschichte B offene Zukunft – irreversibler Ablauf man schleppt mit, was man wurde C  Prägekraft ‚der Evolution‘ t1: noch ist alles möglich! „kein Weg führt mehr von A nach D, und doch ....!“ t3: Pfade A und B trennen sich t2: Pfade A und B trennen sich von C und D kontingente Abzweigungen D nicht vorhersehbare Ergebnisse nur im Nachhinein, bei der historischen Analyse, klar erkennbare Entwicklungen TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Teleologie und Teleonomie Unterschied zu verstehen analog zu dem zwischen Astrologie und Astronomie Teleologie: ein System trägt sein Ziel in sich d.h.: es hat eine notwendige Entwicklungsrichtung und Geschichte Teleonomie: ein System hat eine bestimmte Struktur und Funktionslogik die Freiheitsgrade seiner Weiterentwicklung sind darum eingeschränkt, d.h.: es kann nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt alles werden anders formuliert: seine Entwicklung ist nicht notwendig, sondern kontingent, und dabei pfadabhängig TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Historizismus (Irr-)Lehre, daß die Geschichte einen objektiv notwendigen Verlauf nimmt Folgerungen aus dieser (Irr-)Lehre: Man kann den notwendigen Verlauf der Geschichte objektiv erkennen. Das Ziel von Geschichts- und Sozialwissenschaft besteht darin, den notwendigen Gang der Geschichte objektiv zu erkennen. Politik soll solche Erkenntnis beherzigen und – auf der Grundlage einer derartigen ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ – das geschichtlich objektiv Notwendige herbeiführen ( Gemeinwohl a priori) NB: Nicht zu verwechseln mit ‚Historismus‘, d.h. einer geschichtswissenschaftlichen Schule und Epoche, welche ihren Gegenstand möglichst genau beschreiben und aus sich selbst heraus, am besten entlang seines Selbstverständnisses, verstehen wollte. TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Revolution tiefgreifende Umgestaltung eines politischen Systems samt Austausch der obersten Schichten politischer Eliten zu unterscheiden von ‚Staatsstreich‘, ‚Putsch‘ oder ‚Palastrevolution‘, bei denen nur die oberste politische Führungsgruppe ausgetauscht, in der Regel aber nicht das System verändert wird Ausgangspunkt ist in der Regel eine – mitunter recht zufällig eingetretene – Systemkrise ob friedlich oder gewaltsam vollzogen, hängt ganz von den je besonderen Umständen ab TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Transformation = jener Prozeß, in dem nach einem revolutionären Regimewechsel in einem sehr raschen evolutionären Prozeß die gesamte politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Struktur einer Gesellschaft insgesamt oder in wesentlichen Teilen umgeformt wird ... umfangreiche Theoriebildung zur Transformationsforschung; etwa: P. Merkel TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Wichtige Formen von Systemwechseln Verfall eines freiheitlichen Verfassungsstaates; Ersetzung durch autoritäre Diktatur Aufbau und Abklingen von Totalitarismus Wandel von autoritären Diktaturen zu freiheitlichen Verfassungsstaaten Transformation ferner: ‚Scheitern‘ von Staaten TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Historische Tatsachen I ‚Staatlichkeit‘ ist eine Ausnahmeform politischer Ordnung Beispiele: Ägypten, Hethitisches Reich, mesopotamische Reiche, Persien, griechische Poleis, Karthago, Rom/Byzanz; europäische ‚Staaten‘ seit dem Frankenreich, Rußland; China, Japan; mittelamerikanische Staaten (Maya, Azteken), Inka; Äthiopien, Timbuktu, Benin …; arabische Reiche, osmanisches Reich … viel häufiger: ausgedehnte herrschaftslose Räume mit instabilen und oft eher clanartigen als fest institutionalisierten machtausübenden Gruppen Beispiele: große Teile des Mittelmeerraums bis zur phönizischen und später griechischen Kolonisation; Nordeuropa bis zum (Früh-) Mittelalter, Sibirien bis zum russischen Imperialismus; große Teile von Afrika, Amerika und Australien bis zum Kolonialismus/Imperialismus nicht selten auch: ‚Übergangszustände‘ zwischen ‚autonomen Stammesstrukturen‘ und ‚loser Oberherrschaft einer Hegemonialgewalt‘ Beispiele: Peripherie der antiken Großreiche, große Teile West- und Mitteleuropas zwischen Völkerwanderung und Frühmittelalter, große Teile Afrikas in den ersten gut zwei Jahrhunderten des Kolonialismus TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Historische Tatsachen II Faustformel: „Staatlichkeit ist ein europäischer Exportartikel, dessen Import oft mehr Probleme schuf als löste!“ Historische Tatsachen II ‚Moderne Staatlichkeit‘ entstand in Europa seit den Religions- und Bürgerkriegen des 16./17. Jahrhunderts. Kulturelle Voraussetzungen u.a.: sehr konkretes Nachwirken von römischer Reichsidee und römischem Recht, Institutionenmodell und Regierungspraxis der römischen Kirche. Mit der außergewöhnlichen technischen Entwicklung Europas und dem so möglich gewordenen Kolonialismus / Imperialismus werden die Leitideen und institutionellen Formen europäischer Staatlichkeit über einen Großteil der Erde verbreitet. Achtung: zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren außer v.a. China, Japan, Thailand und Äthiopien nur sehr wenige Gebiete der Erde nicht unter die (indirekte) Regierungsgewalt europäischer Staaten geraten! In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffen Entkolonisierung und kommunistische Revolutionen in den allermeisten Ländern der Erde politische Strukturen, die der europäischen Staatlichkeit nachgebildet sind. Wichtiger Stabilisierungsfaktor: weltweit prägender Ost/West-Konflikt samt ‚Kaltem Krieg‘. In genau dieser Zeit wird das System der modernen internationalen Beziehungen immer komplexer, dessen Rechtsgrundlagen auf der Annahme beruhen, alle bewohnten Gebiete der Erde gehörten zu für sie verantwortlichen souveränen Staaten. Seit dem Ende des Ost/West-Konflikts beobachten wir den Wegfall von dessen Stabilisierungsleistung sowie Prozesse, in denen Staatlichkeit zusammenbricht (etwa: Somalia), mühsam von außen stabilisiert wird (z.B. multinationale Protektorate wie auf dem Balkan) oder sich nach Zerstörung von außen kaum mehr wieder errichten läßt (z.B. Afghanistan, Irak). TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Warum brechen Staaten zusammen? Achtung: Keine einfachen Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und dem Zusammenbruch von Staatlichkeit! Aufpfropfen der europäischen Form von Staatlichkeit auf Gesellschaften, die dafür weder eine Notwendigkeit noch die Voraussetzungen haben und denen auch noch die Idee einer festen Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt fremd ist (= mangelnde ‚governmentality‘) trifft auf fast ganz Afrika und auf Teile Asiens zu Zusammenbruch der dortigen ‚Quasi-Staatlichkeit‘ bei Einschränkung von materieller und militärischer Unterstützung der jeweils regierenden Eliten zu kurze Zeiten einer ‚geschützten‘ Entwicklung, bei der die einmal implementierten ‚europäischen‘ Institutionen ihrerseits ein sich ihnen anpassendes gesellschaftliches und kulturelles Umfeld hätten schaffen können in Europa: 350jähriger Staatswerdungsprozeß zwischen Hochmittelalter und Neuzeit! Weltweites Problem hingegen:Befreiungskriege, sozialistische Revolutionsversuche, Invasionen von Nachbarstaaten, Bevölkerungsdruck, Zerstörung des traditionellen Sozialgefüges durch neue industrielle und urbane Siedlungen, Zerstörung des regionalen Wirtschaftsgefüges durch dichten Anschluß an den Weltmarkt und seine Dynamik ungünstiges Verhältnis zwischen dem Nutzen und den Kosten von Staatlichkeit gerade während solcher – so die Hoffnung – ‚Übergangsperioden‘ Wegfall von innerem Stabilisierungsdruck, wie ihn eine Diktatur ermöglicht etwa: Sowjetunion, Jugoslawien, Afghanistan, Irak … TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Nachfolgeprobleme des einstigen Siegeszugs ‚europäischer Staatlichkeit‘ Zerstörung der Tradition alternativer politischer Ordnungsformen seit dem imperialistischen Institutionentransfer und den kommunistischen Revolutionen auf allen vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus betroffenen Kontinenten ‚problemlos‘ nur dort, wo lange Zeit auch eine neu und vor allem aus Europa zugewanderte Bevölkerung dominierte: USA, Kanada, Australien; mit Einschränkungen: Südamerika Verbindung ‚europäischer‘ Institutionenruinen mit regionalen Traditionen zu wenig lebensfähigen politischen Systemen, v.a. in Afrika Fehladaptation des internationalen Staatensystems auf die sehr brüchige Voraussetzung gesicherter Staatlichkeit in weiten Teilen der Erde Umsetzung des Glaubens an den Wert europäischer Staatlichkeit (mit u.a. Gewaltenteilung, weltanschaulichem Pluralismus und Demokratie) in abenteuerliche Programme der Staatenbildung und Demokratisierung, die … ihrerseits den ‚clash of civilizations‘ auslösen (können): arabische Welt, China mangels gegebener oder willentlich schaffbarer Voraussetzungen scheitern: Afghanistan, Irak, viele afrikanische Staaten Das heißt: ‚scheiternde Staaten‘ sind (auch) Opfer des Scheiterns der europäischen Staatsidee unter Bedingungen, für die sie wenig geeignet ist ! TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Einige Einsichten Staatlichkeit entsteht aus dem Zusammentreffen sehr spezieller und keineswegs allenthalben verfügbarer Vorbedingungen. Staatlichkeit ist darum keine universell anwendbare politische Ordnungsform, sondern hat – vielleicht! – lebensfähige Alternativen. Problem: Wir kennen bislang nur die traditionelle Formen von ‚Staatlichkeit‘ oder ‚Reichsbildung‘ und wissen nicht, was von ihnen auch künftig akzeptabel oder wirksam ist (etwa wegen der Verfügbarkeit von ABC-Waffen und optimalen Bedingungen für international agierenden Terrorismus) ‚Scheitern von Staaten‘ ist darum vielfach keine Abweichung von einem Normalfall, sondern das Ende einer geschichtlichen Ausnahmesituation. Stimmt das, so … sind bereits die normativen Grundlagen unserer internationalen Ordnung brüchig kehren als ‚geschichtlich überwunden‘ geglaubte Formen zwischenstaatlicher Politik wieder als aktuelle Herausforderungen zurück: Bildung einesteils von Protektoraten, andernteils von Reichen langfristige Zusammenarbeit von freiheitlichen Staaten mit Diktaturen ohne Versuche, dort auf Systemwechsel hinzuwirken Versuche einer Abschottung gegen die nicht beseitigbaren ‚Slums der Weltpolitik‘ TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Obendrein ist unklar, wohin, wie weit und wie gut die Reise mit ‚poststaatlichen Strukturen‘ gehen wird! Ende des westlichen Traums einer ‚demokratischen Staatenwelt‘; freilich: kein schönes Erwachen! Folgerungen Die vorrangige Aufgabe ist es wohl weniger, gescheiterte Staatlichkeit ‚wiederherzustellen‘, als vielmehr Möglichkeiten zu finden, mit Weltgegenden zurechtzukommen, in denen … es keine Staatlichkeit gibt Staatlichkeit so schlecht funktioniert, daß die zentralen Staatsfunktionen eben nicht erfüllt werden (v.a.: Durchsetzung von Recht und Ordnung im Inneren). Es ist einzusehen, daß dieses Problem kleiner ist, als es zunächst erscheint: ‚Staatlichkeit‘ ist kein Entweder/Oder, sondern es gibt immer schon Übergangsstufen. Also ist ein eher traditionelles Problem zu lösen, für das wir viele geschichtliche Erfahrungswerte besitzen. ‚Entstaatlichung‘ muß nicht zu sozialer Unordnung führen. Im Gegenteil scheint erst die Einführung des Staates in Gesellschaften ohne staatliche Tradition viele Formen sozialer Unordnung erzeugt zu haben. Also kann vermutet werden, daß sich jenseits von Staatlichkeit aufs neue stabile Ordnungsformen einspielen werden. Viele wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse brauchen gar keinen staatlichen Ordnungsrahmen ‚vor Ort‘: etwa benötigen Technik, Währung und Gerichtsbarkeit nur irgendwelche funktionierenden Staaten zur ihrer Nutzbarkeit, nicht aber notwendigerweise den Staat, in dem man sich gerade aufhält. Bei Bedarf läßt sich seitens von NGOs oder von Staaten mit oder ohne UN-Mandat zur Behebung dringender Probleme zweckbezogen und begrenzt in staatsfreien Regionen intervenieren. TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Schlußfolgerungen insgesamt Ein demokratischer Verfassungsstaat ist eine überaus voraussetzungsreiche und darum seltene Form eines politischen Systems; ein zwar leistungsstarker, doch auch leicht zerstörbarer Systemtyp; der Typ eines politischen Systems, der freien, selbstbewußten und kritikfähigen Menschen am besten angepaßt ist. Einmal zerstört, ist es unwahrscheinlich, daß er sich bald wieder aufrichten läßt. Darum ist es vernünftig, einen Systemwandel weg von demokratischer Verfassungsstaatlichkeit zu unterbinden. TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Damit sollte klar sein, warum es sowohl zum Wandel als auch zum Scheitern politischer Systeme kommt welche Systemtypen und politischen Handlungsstrategien angesichts von Wandlungsdruck am konstruktivsten sind wie insbesondere Prozesse der Evolution und Revolution verlaufen mit welchen Pendelschlägen zwischen Verfassungsstaatlichkeit und Diktatur zu rechnen ist wie man mit dem Problem ‚scheiternder Staatlichkeit‘ wohl umgehen sollte weiter mit: ‚Repräsentation und Parlamentarismus‘ TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Basismodul ‚Politische Systeme‘ Noch Fragen? - Bitte! TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt