Was ist und was will qualitative Sozialforschung? Seminar „Forschungsmethoden I“ Prof. Dr. Marion Klein FHCHP FTS 2017
Qualitative und quantitative Sozialforschung Am Beispiel zweier Studien über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas Besucherevaluation (quantitativ): Fünf Befragungswellen im Zeitraum 2009-2012 Rekonstruktive Forschung (qualitativ): Gruppendiskussionen mit Schüler_innen im Zeitraum 2006 bis 2007 (Abschluss 2010)
Denkmal für die ermordeten Juden Europas Denkmal liegt südlich des Brandenburger Tors in Berlin 2.711 Betonstelen; Stelen sind unterschiedlich hoch und stehen auf einem gewellten Boden (24 h zugänglich) Einweihung am 10. Mai 2005 nach 17 Jahre andauernder Kontroverse
Der Ort der Information 0. Auftakt: nationalsozialistische Terrorpolitik von 1933 bis 1945; sechs großformatige Gesichter Raum der Dimensionen: Tagebucheinträge, Briefe, Notizen und umlaufendes Band (Opferzahlen und Länder) Raum der Familien: 15 jüdische Familienschicksale (unterschiedliche soziale, nationale, kulturelle und religiöse Lebenswelten) Raum der Namen: Verlesen von Kurzbiografien ermordeter bzw. verschollener Juden; zu jedem Menschen wird dessen Name, Geburts- und Sterbejahr jeweils auf die vier Wände zeitgleich projiziert Raum der Orte: historisches Film- und Fotomaterial zu insgesamt 220 exemplarischen Orten der Verfolgung und Vernichtung der Juden und anderer Opfer des NS-Terrors (Massenerschießungen, Vernichtungs- und Konzentrationslager, Ghettos und »Euthanasiestätten«, Deportationswege und Todesmärsche) Gedenkstättenportal, Yad-Vashem-Portal, Videoarchiv
Forschungsfrage(n) „You get, what you see“ - Was „sieht“ bzw. welche Erfahrungen macht eine bestimmte Besuchergruppe, das heißt die Gruppe der Schülerinnen und Schüler, an, mit und in diesem Denkmal für die ermordeten Juden Europas? Wie nehmen die Schüler(innen) das Stelenfeld, wie die Ausstellung im Ort der Information wahr? Sehen sie das Denkmal als kulturelle Repräsentation des Holocaust? Wenn ja, unter welchen Aspekten hat eine solche für die Jugendlichen Bedeutung? Wie stellen sie für sich die Verbindung zur Thematik des Holocaust her?
Forschungskontext Schüler(innen) am Übergang zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, Zunahme der Bedeutung „kultureller Formung“ (Jan Assmann) Erinnerung findet statt in einer „multikulturellen Gesellschaft“ „Die zentrale Holocaust-Gedenkstätte Deutschlands“ (Webauftritt der Stiftung Denkmal) „Mahnmal als Erfahrung“ (Eisenman) und Ort der Information als neue Form einer kommunikativen Repräsentation des Holocaust
Neues Verständnis des Schreibens von Architektur, Dekonstruktion Stelenfeld: „Erste Manifestation eines poststrukturalistischen Mahnmals“ (Eisenman) Neues Verständnis des Schreibens von Architektur, Dekonstruktion „Gefühle und Reaktionen dürfen nicht programmiert werden“ (Eisenman), Affekt statt Effekt Ort der Information: „Personalisierung und Individualisierung des mit der Ermordung der europäischen Juden verbundenen Schreckens“ (Arbeitsgruppe Ort der Information)
Forschungsdesign Durchführung von Gruppendiskussionen mit Realgruppen im Anschluss an eine schulische Exkursion (ohne Teilnahme an Bildungsangebot) 24 Gruppendiskussionen; Kontraste in Bezug auf Sozial-, Geschlechter-, ,Ost/West‘-, Bildungs-, Alters- und Migrationsmilieus Eingangsfrage: „Ihr wart ja grade beim Holocaust-Denkmal. Ich würde euch bitten, mir einfach etwas darüber zu erzählen, wie ihr den Besuch dort erlebt habt, wie ging´s euch, was habt ihr gesehen, was habt ihr gemacht, als ich durchgelaufen seid?“
Forschungsmethode Rekonstruktive Sozialforschung: Implizites Wissen soll explizit gemacht werden. Dokumentarische Methode der Interpretation: Es wird nicht die Frage nach der Wahrheit oder normativen Richtigkeit der zu interpretierenden Darstellungen gestellt, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und ihre Orientierungen dokumentiert. Beobachtung zweiter Ordnung (Luhmann)
Qualitative und quantitative Sozialforschung Vergleiche die Vorgehensweise, die Ziele, die Methoden, die Ideen, die den beiden Forschungsdesigns zu Grunde liegen (siehe Handout). Welche Unterschiede zwischen der qualitativ-rekonstruktiven Studie und der quantitativen Evaluationsstudie kannst du erkennen? Welche Herangehensweise findest du wann sinnvoll?
Qualitative vs. quantitative Sozialforschung Qualitative Methoden Prinzip der Offenheit Forscher/in hält eigenes Vorverständnis möglichst weit und lange zurück offene Fragen, die Antworten sind Texte kleine Stichproben Quantitative Methoden Prinzip der Standardisierung Verwendung festgelegter Beschreibungs-kategorien standardisierte, geschlossene Fragen, die Antworten bilden Datensätze große Stichproben
Qualitative vs. quantitative Sozialforschung Qualitative Methoden Theorieentdeckende Forschungslogik „Theorie der Praxis“ – Generierung von Hypothesen bzw. Theorie „auf der Grundlage einer Rekonstruktion der Alltagspraxis der Erforschten“ (hypothesengenerierendes Verfahren) Quantitative Methoden Theorieüberprüfende Forschungslogik Testen vorab formulierter Hypothesen/Theorien (hypothesenprüfendes Verfahren)
Qualitative vs. quantitative Sozialforschung Qualitative Methoden Verstehen sozialer Sachverhalte [nicht-kausales Erklären] Verstehen heißt: Sinn rekonstruieren / nachvollziehen (implizites Wissen und explizites Wissen) Quantitative Methoden Erklären sozialer Sachverhalte [Ursache-Wirkungs-Zusammenhang] Erklären heißt: auf kausale Bedingungen (Ursachen) zurückführen (z.B. Zshg. zwischen Schulerfolg und sozialer Schicht)
Qualitative vs. quantitative Sozialforschung Qualitative Methoden Fallorientierte und holistische Vorgehensweise Unbekannte Subkultur Plan plus relative Offenheit gegenüber Daten bzw. aus dem Feld „emergierenden“ Hypothesen Quantitative Methoden Erfassung von Variablen, spezifischen Merkmalen Eigenarten einer Grundgesamtheit sind bekannt Genauer Erhebungs- und Auswertungsplan
Qualitative vs. quantitative Sozialforschung Qualitative Methoden Theoretical Sampling Rekonstruktion von Deutungs- und Handlungsmustern Deduktion, Induktion und Abduktion als Schließlogiken Quantitative Methoden Zufallsstichprobe Wahrscheinlichkeits-aussagen zwischen Variablen bzw. Merkmalen einer Grundgesamtheit Deduktive Schließlogik
Qualitative vs. quantitative Sozialforschung Qualitative Methoden Auswertung: primär durch Einzelfallanalysen, komparative Analyse und Typenbildung (gemeinsame Muster bzw. Strukturmerkmale von Fällen) Die Strukturmerkmale lassen sich generalisieren (nicht die Häufigkeitsverteilung) Analytische Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse Quantitative Methoden Auswertung: durch Verfahren deskriptiver und schließender Statistik: Häufigkeitsverteilungen Korrelationen, Signifikanztests Generalisierung der Ergebnisse auf die Grundgesamtheit (falls Repräsentativität) Statistische Verallgemeinerung
Aufgabe Dich interessiert das Thema Jugend(liche) und Sucht / Abhängigkeit. Wie könnte eine Forschung im Bereich der qualitativen Methoden angelegt sein? Erkenntnisinteresse, Forschungsfrage, Forschungsdesign