Dr. Stefan Dinges Institut für Ethik und Recht in der Medizin Zwischen Selbstbestimmung und Institutionen. Ethische Reflexionen zu einem „verrückten“ Wunsch Tagung Tutzing: Hungern bis der Tod kommt? Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit als ethische Herausforderung Dr. Stefan Dinges Institut für Ethik und Recht in der Medizin
Nebenwirkungen
Begriffslandschaften Hungern bis zum Tod/hungern und dürsten nach dem Tod – Sterbefasten – Suizid Selbstbestimmung – Angewiesenheit – Autonomie in Bezogenheit – institutionalisiertes Lebensende Die überhörten Sterbewünsche – missachtete Patientenrechte – lebenssatt/lebensmüde Idyllisiertes Sterben – gutes Sterben/schönes Sterben – normiertes Sterben (Gronemeyer: qualitätsgesichert/MDK: BMI) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Sterbefasten? Was ist Ziel des Fastens? Recht/Pflicht zu Leben? Stellungnahme zum eigenen (schon begonnenen) Sterben Recht/Pflicht zu Leben? Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, Verzicht auf Nahrung, Verzicht auf Lebensmittel Essen und Trinken als Basisversorgung? Schlaganfall => nicht in jeden Fall indiziert Fortgeschrittene Demenz => nicht indiziert Altersschwäche? (ALS/MS im Endstadium, Anorexia nervosa ... ) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Suizid? „Der Suizid ist die bewusste, häufig geplante Vernichtung des eigenen Lebens durch aktive Anwendung oft gewaltsamer Mittel oder Unterlassung lebensnotwendiger Handlungen.“ „Der FVNF wird beschrieben als eine Handlung, die von einer zurechnungsfähigen Person ohne kognitive Einschränkungen freiwillig und bewusst gewählt, auf Essen und Trinken zu verzichten, um den Tod frühzeitig aufgrund unerträglichen anhaltenden Leidens herbeizuführen.“ (zit. n. Dorothea Bergmann /FHS St. Gallen 2013) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Verhungern? Zu essen geben – Essen hält Leib und Seele zusammen – das Leben bis zum Ende auskosten M. Kern, Nahrungsaufnahme im kulturellen und religiösen Kontext, Z Palliativmed 2015; 16, 56-59 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Praxisbeispiel 1 „Was den Buddhisten das Anreichen von Essen und Trinken im Sterbeprozess jedoch geradezu verbietet, ist die Vorschrift, den Sterbenden nicht (mehr) zu stören. Durch diese ungestörte Ruhe wird der Einstieg in die Transzendenz vorbereitet. Es geht darum, schon während des Sterbens aus der Gesellschaft auszusteigen und sich aus dem Kreislauf der Wiedergeburt zu befreien.“ ... In den Hindu Religionen dient Fasten dem Ausdruck des Selbstopfers. Allmähliche Reduktion der Nahrungszufuhr und damit des materiellen Austauschs mit der Welt bis zum Tod wird gelegentlich praktiziert und gilt nicht als Selbsttötung. (Kern, aaO) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Praxisbeispiel 2 Frau R. nimmt an vielen Angeboten der Einrichtung teil, ist gut im Kontakt mit den anderen Bewohnern, sofern diese noch ansprechbar sind und nicht offensichtlich an Demenz erkrankt sind. Nur zum Essen zieht sich Frau R. gerne in ihr Zimmer zurück - da möchte sie „ihre Ruhe haben“. Sie erzählt immer wieder: „Ich hatte ein wunderbares Leben, viele Erfahrungen, Schönes und Schwieriges, aber so gesamt betrachtet war es toll und … ich würde fast alles ganz genauso machen, wie ich in der Situation, in der ich damals war, gehandelt habe.“ Jetzt aber sei es Zeit, dass „ihr Leben nun endlich zu Ende gehen kann“, so sagt sie. Seit circa 14 Tagen beobachten die Pflegekräfte, dass Frau R. rapide abnimmt. Eine Abklärung beim Hausarzt oder sonstige Diagnostik lehnt Frau R. ab. Nach einigen Gesprächen mit Pflegekräften, die einen besonders guten Zugang zu Frau R. haben, gibt Frau R. zu, dass sie nur noch ganz wenig, meist gar nichts isst, „damit es mit dem Sterben etwas schneller geht“. Ein verrückter Wunsch? 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Praxisbeispiel 3 Mann, ca. 67 Jahre, sehr sportlich, Aufnahme wg. Erbrechen, weitfortgeschrittenes Magenkarzinom, inoperabel, Patient wünscht keine weitere Behandlung, insb. keine künstliche Ernährung. Er möchte nicht in ein Pflegeheim abgeschoben werden und nicht zuhause seiner Frau zur Last fallen. Das Behandlungsteam verspricht ihn, bis zu seinem Tod im Krankenhaus zu behalten. Das Sterben dauert acht Wochen, obwohl der Patient keine Nahrung mehr zu sich nimmt. Über das Flüssigkeitsmanagement gibt es retrospektiv keine genaueren Angaben, der Patient geht ab Woche 3 durch psychisch belastend-ambivalente Phasen und in den letzten drei Wochen durch delir-artige Zustände. Das Palliativteam wird nicht noch einmal hinzugezogen, die Entscheidungen werden nicht mehr hinterfragt. Im Vordergrund steht das gegebene Versprechen. Die Betreuung geht zu Lasten der Pflege ... 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Eine palliative Perspektive? „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit kann für einige Patienten eine mögliche Alternative sein. Auf diese Weise das Ende des eigenen Lebens herbeizuführen, dieses Vorhaben aber auch jederzeit unter- bzw. abbrechen zu können, ermöglicht diesen Patienten ein selbstbestimmtes Leben und Sterben.“ (Reflexion der DGP zum ärztlich assistierten Suizid DÄ, 17. Januar 2014) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Sterbefasten! Handlungsleitfaden Johannishospiz Münster Anlehnung an das Heilfasten Schrittweise Reduktion der Flüssigkeitsmengen Lindern der Symptome/Respiratorische Probleme Ausscheidungen Ein- und Durchschlafstörungen Psychische Belastungen/starke Ängste und Unruhe W. Krüskemper, U. Hofmeister, A. Stähli, Überlegungen und mögliche Angebote aus der Praxis: Wie kann die Betreuung des (Freiwilligen) Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit ((F)VNF) in der palliativen Praxis aussehen und auf was muss geachtet werden? Z Palliativmed 2016; 17, 284-287 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Form des Suizids – Suizidbeihilfe? Einfach nicht mehr essen und trinken – manche Menschen mit einer schweren, tödlichen Krankheit oder auch Hochbetagte wünschen sich, so aus dem Leben zu scheiden. Es ist ein Entschluss, der ärztliche Unterstützung nötig machen kann, etwa um Schmerzen des Patienten zu lindern. Einer aktuellen Studie zufolge ist jedoch die weit verbreitete Annahme, wonach das Sterbefasten als natürlicher Tod betrachtet wird, eine Fehleinschätzung. „Auch der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist eine Form des Suizids. Die medizinische Unterstützung des Sterbefastens entspricht in vielen Fällen der Suizidhilfe“, sagt Ralf Jox, Privatdozent am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU (idw 20.10.17) vgl. Ralf J. Jox, Isra Black, Gian Domenico Borasio and Johanna Anneser, Voluntary stopping of eating and drinking: is medical support ethically justified? BMC Medicine 2017 15:186 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Form des Suizids – Suizidbeihilfe? Viele Patienten (können) ihren Wunsch zu fasten, bis der Tod eintritt, ohne ärztliche Hilfe nicht realisieren. Die Autoren empfehlen daher, die ärztliche Unterstützung beim Sterbefasten und die ärztliche Suizidhilfe durch das Bereitstellen einer todbringenden Substanz rechtlich gemeinsam zu betrachten und zu regeln. (idw) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
2 ethische Typen nach Jox et al 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Wichtige Argumentationslinien Wichtige Beobachtung: ÄrztInnen empfehlen, versprechen, leisten Unterstützung, um fortzufahren Blick auf Intention und Aktion Gefahr: Organisation eines sozialverträglichen (Früh-)Ablebens mit dem Anreiz ausreichender medizinischer Versorgung und einem absehbaren Ende (Kommentar std!) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Befragung von HausärztInnen N. L. Hoekstra, M. Strack, A. Simon, Bewertung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit durch palliativmedizinisch und hausärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte, Z Palliativmed 2015; 16: 68–73 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Wie FVNF und die Begleitung hierbei ethisch zu bewerten? Die Ergebnisse der Befragung legen nahe, dass diese Frage nicht pauschal zu beantworten ist, sondern differenziert und abhängig von den konkreten Umständen des jeweiligen Falls betrachtet werden muss. So stieß die Begleitung beim FVNF im Falle des onkologischen Patienten bei der Mehrheit aller Befragten auf hohe Zustimmung, während die Begleitung beim FVNF im Falle des alten, lebensmüden Patienten häufiger als ärztliche Hilfe zur Selbsttötung angesehen wurde und dementsprechend eher bei den Ärzten, die diese Form der ärztlichen Sterbehilfe ablehnen, auf niedrigere Zustimmung stieß. In der Ärzteschaft lassen sich, entsprechend der wissenschaftlichen Debatte, verschiedene Positionen wiederfinden: ein (kleinerer) Teil der Befragten steht FVNF und einer ärztlichen Begleitung von Patienten in diesem Kontext ablehnend gegenüber. Ein weiterer Teil befürwortet FVNF und die Begleitung von Patienten während diesem, da diese Gruppe von Ärzten grundsätzlich auch ärztliche Hilfe zur Selbsttötung befürworten und zwischen beidem nicht differenzieren. Ein dritter und größerer Teil spricht sich für eine Begleitung von Patienten beim FVNF aus, da sie ihre Betreuung des Patienten explizit nicht als Hilfe zur Selbsttötung, sondern als gebotene palliativmedizinische Begleitung bewerten. (Hoekstra/Simon) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Vorsorgen ?! Sollte ich mein Leiden als unerträglich empfinden, werde ich ab einem vor mir bestimmten Tag Essen und Trinken einstellen. Ich bin darüber informiert, dass dies nach acht bis zehn Tagen zum Tode führen wird. Wenn möglich, werde ich mich zu diesem Zeitpunkt in einem Hospiz aufhalten. Wenn ich bewusstlos werde, wünsche ich keine künstliche Ernährung oder Flüssigkeits- zufuhr. Mir ist die Möglichkeit der Änderung und des Widerrufs der Patientenverfügung bekannt. Sollte ich den Wunsch haben, den Verzicht zu unterbrechen, und noch im Stande sein, dies kundzutun, bitte ich um entsprechende Beachtung und Unterstützung durch meine behandelnden Ärzte, Schwestern und Pfleger. Sollten Wahnvorstellungen auftreten, die für mich unangenehm oder bedrohlich sind, wünsche ich eine lindernde Behandlung. Ich erwarte eine fachgerechte Schmerz- und Symptombehandlung. Ich bestimme meine Ehefrau zur Bevollmächtigten. In Situationen, die in dieser Pati- entenverfügung nicht konkret geregelt sind, ist mein mutmaßlicher Wille möglichst im Konsens aller Beteiligten zu ermitteln. Ich habe diese Patientenverfügung in eigener Verantwortung und ohne Druck von außen erstellt. (Ort, Datum, Unterschrift“ Im Anschluss findet sich eine hausärztliche Bestätigung der Entscheidungs- und Einwilligungsfähigkeit. FVNF Ethik Med (2015) 27:233–234) 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Resümee Gesellschaftlich ungelöste moralische Konflikte werden individualisiert (PatientIn/Ärztin); letztlich wirkt die Empfehlung zum Verzicht gefährlich – auch angesichts historischer Hypotheken. Es bleibt letztlich eine Gewissensentscheidung des/der Einzelnen – das Unbehagen der Organisationen bleibt. Hinter der Freiwilligkeit ist ein Fragezeichen zu setzen im Hinblick auf Sterbeorte/Institutionalisierung und Medikalisierung des Lebensendes. Auch wenn es in dieser Entscheidung suizidale Tendenzen mitenthalten sein können, gibt es in schwerer Krankheit und Hochaltrigkeit gewichtige Argumente, die im Hinblick auf Todeszeitpunkt und Tatherrschaft die Prinzipien Unverfügbarkeit des Lebens und Selbstbestimmung balancieren – und die sich vom Suizid unterscheiden. 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges
Resümee Nicht erst mit der Entscheidung zum Verzicht verändern sich soziale Beziehungen und Bezüge; als freie selbstbestimmte Entscheidung ist über einen Zeitraum die Umkehrbarkeit der Entscheidung gegeben. Sie ist auf Unterstützung angewiesen und kann als eine Form des Abschieds verstanden bzw. genutzt werden. Die intrinsische Entscheidung zum Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit verschiebt Normalität des Lebens in Richtung Aktualität des Sterbens – aus der ethischen Perspektive verbieten sich hier Empfehlungen von außen. Insbesondere in Organisation bzw. im Hinblick auf mögliche und notwendige Absicherung empfiehlt sich eine aktualisierte Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht. 06.09.2018 Dr. Stefan Dinges