« fraternité » im französischen Recht Vortrag – Jérôme Lagoutte Vichy, Donnerstag, 26. Juli
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Überblick 1 Eine kurze Geschichte der « fraternité » in Frankreich und ihre Folgen für das Recht 2 Der Begriff « fraternité » im geschriebenen Recht 3 Ein durch die französische Rechtssprechung erweiterter und bestärkter Begriff
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem 1 Eine kurze Geschichte der « fraternité » in Frankreich und ihre Folgen für das Recht
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Ein in der Geschichte der französischen Republik tief verwurzelter Begriff Willkommen in Frankreich! Wie viele von Ihnen vielleicht gesehen haben, sind drei Worte im öffentlichen Raum weithin sichtbar: « Liberté, Egalité, Fraternité », « Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ». Diese 3 Worte stellen das Motto der Republik Frankreich dar, wie Sie unten auf ihrem Logo sehen können: Offizielles Logo der Republik Frankreich Dieser Begriff « fraternité » scheint für die Franzosen und die öffentlichen Einrichtungen ziemlich wicchtig zu sein … aber warum? Werfen wir einen Blick auf die französische Geschichte! Das Motto der Republik an den Wänden von Schulen, Rathäusern , Gerichtshöfen.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Ein in der Geschichte der französischen Republik tief verwurzelter Begriff Wie es vorher war … der König! Frankreich war 1000 Jahre eine Monarchie gewesen. Es gab kein offiziellesMotto, aber eine sehr einfache Regel: « Ein König, ein Glaube, ein Gesetz! » Die französische Gesellschaft war in drei Stände geteilt: Klerus: betete für Frankreich und seine Bevölkerung. Adel: kämpfte für den König, durfte nicht arbeiten. Der Dritte Stand: die arbeitende Klasse, zahlte Steuern, gehorchte den zwei anderen Ständen. Und über allen war er … Der Platz der Religion in der Gesellschaft war wesentlich. Die katholische Kirche setzte die Regeln fest und besonders eine: Nächstenliebe. Von mächtigen und reichen Leuten erwartete man, den Ärmsten in der Gesellschaft zu helfen. Auf dem Gemälde oben sieht man König Ludwig IX., auch bekannt als « Ludwig de Heilige », einem armen Blinden die Füße waschen. « Nec Pluribus Impar » war das Motto von König Ludwig XIV. Zu dieser Zeit war der Begriff von Brüderlichkeit ganz anders. Franzosen waren « Brüder im Rahmen der katholischen Religion », aber sie waren ungleich in ihren Rechten. Die katholische Kirche bildete ein Gegengewicht gegen diese Ungleichheit durch die Verpflichtung der Reichen zur Nächstenliebe.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Ein in der Geschichte der französischen Republik tief verwurzelter Begriff Die Revolution von 1789: « Brüderlichkeit oder Tod! « Der Begriff der Brüderlichkeit erscheint mit der Revolution von 1789 im politischen Spektrum. “Fraternité” ist mit den zwei anderen revolutionären Werten fest verbunden: Freiheit und Gleichheit. Ohne Freiheit ist keine Brüderlichkeit möglich. Ohne gleiche Recchte ist Brüderlichkeit ein Un-Sinn. Der Begriff der Brüderlichkeit ist im Wesentlichen eine Revolution im Königtum Frankreich. Wie können Menschen in “Brüderlichkeit” leben mit einem König und zwei beherrschenden gesellschafltichen Ständen? Brüderlichkeit führt direkt zu einer tiefen Veränderung der französischen Gesellschaft und des politischen Systems. Der Begriff der “Brüderlichkeit” kann dem katholischen Prinzip der “Nächstenliebe” entgegengestellt werden. Nächstenliebe beinhaltet, dass reichere oder mächtige Menschen ärmeren Menschen helfen. Brüderlichkeit stürzt diese Beziehung der Herrschaft: Man erwartet, dass alle Menschen einander gleich sind und dass die Gesellschaft denselben Reichtum für jeden vorsieht. Erste Erwähnung von Brüderlichkeit in einem Gesetzesdokument Brüderlichkeit wird in der Verfassung von 1791 zum ersten Mal in einem Gesetzesdokument erwähnt: Titre premier: “Nationale Feste werden eingesetzt, um die Erinnerung an die Französische Revolution zu bewahren, die Brüderlichkeit der Bürger und die Bindung an die Verfassung, das Vaterland und die Gesetze lebendig zu erhalten.” Sogar nach dem Ende der Revolution wird Brüderlichkeit als ein Wert und ein Vermächtnis für die Republikaner bleiben.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Ein in der Geschichte der französischen Republik tief verwurzelter Begriff Ein von jeder republikani- schen Regierung verwendeter Begriff Die Französiche Revolution von 1848 errichtet die 2. Republik. Das Ziel dieser Revolution ist eher ein soziales als ein ploitisches. Protestierende aus der mit der industriellen Revolution entstandenen neuen Arbeiterklasse kämpfen für eine bessere Lage. Als Konsequenz hat die 2. Republik den Begriff der Brüderlichkeit wiederbelebt. Die Verfassung des neuen Regimes stellt fest, dass “das Motto der Republik Frankreich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist”. Zum ersten Mal wird diese Motto in einer französischen Verfassung erwähnt. Abschaffung der Sklaverei 1848 Ein Dekret präzisiert: “Brüderlichkeit ist die Herrschaft der Liebe.” und stellt fest: “Abschaffung aller Privilegien, Verteilen der Einkommensteuern, ein proportionales und progressives Erbrecht, ... gleicher Militärdienst für alle, gleiche Bildung für alle, sichere Arbeit für alle.” Als unmittelbare Konsequenz entsc heidet die Republik einige Maßnahmen im Namen der Brüderlichkeit: Abschaffung der Sklaverei (Gesetz vom 27. April 1848) Einrichtung des allgemeinen direkten Wahlrechts
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Ein in der Geschichte der französischen Republik tief verwurzelter Begriff Ein von jeder republikanischen Regierung verwendeter Begriff Als das 2. Kaiserreich 1870 zusammenbricht, sagt Frankreich endgültig der Monarchie ab. Ab diesem Jahr, und abgesehen von der Zeit des Vichy-Regimes während der deutschen Besetzung im 2. Weltkrieg, ist das Land eine Republik geblieben und alle seine Verfassungen erwähnen Brüderlichkeit als Wert, Gesetzesgrundsatz und natürlich als Wort des republikanischen Mottos. Nach dem 2. Weltkrieg erwähnt die Verfassung von 1946 in ihrer Präambel eine große Anzahl von wirtschaftlichen Rechten, die direkt mit dem Begriff der Brüderlichkeit verbunden sind: Eine Frau muss dieselben politischen und gesellschaftlichen Rechte haben wie ein Mann. Jede/r Bürger/in hat das Recht zu arbeiten und eine anständige Arbeit zu haben. Jede/r Bürger/in hat freien Zugang zum System der sozialen Sicherheit. Jede/r hat das Recht auf Erholung, besonders Kinder, Mütter und ältere Arbeitnehmer. Diese Präambel ist noch immer in den französischen Gesetzen als eine Art Verfassungsregel wirksam. Verfassung von 1958 Nach der Errichtung einer neuen Republik 1958 unter der Präsidentschaft von General de Gaulle stellt die derzeit in Frankreich geltende Verfassung von 1958 in ihrem 2. Artikel fest: “Das Motto der Republik ist Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.” Ihre Präambel konzentriert sich unter für unsere Zeit notwendigen Prinzipien auf Bestimmungen, die inhaltlich als juristische Anwendungen und Übertragungen des Prinzips der Brüderlichkeit analysiert werden können, Gleichberechtigung der Frau, Asylrecht, Recht auf Arbeit, Versammlungsfreiheit, Recht auf Entwicklung der Person oder einer Familie, Recht auf sozialen Schutz, Erholung, in Pension zu gehen, Recht auf Bildung.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem 2 Der Begriff « fraternité » im geschriebenen Recht
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Kurze Einführung in das französische Recht Das französische Rechtssystem beruht auf dem geschriebenen Gesetz, vom Parlament in Kraft gesetzt. Jedes Recht, jede Regelung oder jeder Gesetzesbegriff wie z. B. Brüderlichkeit beruht auf einem Text, der die Verfassung, ein Gesetz, eine Verordnung oder ein Erlass (« circulaire ») sein kann. Das bedeutet einen Unterschied zu einigen europäischen Ländern wie z. B. Großbritannien, wo das Common law die Grundlage des Rechtssystems ist. Die Hierarchie der Normen bestimmt das ganze Rechtssystem. Es kann mit dieser Pyramide verglichen werden: Verfassungs- bestimmungen Internationale Normen Gesetze Verordnungen Rechtssprechung
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Brüderlichkeit in der Hierarchie der Normen Brüderlichkeit steht an der Spitze der Hierarchie der Normen. Verfassungs- bestimmungen Internationale Normen Gesetze Verordnungen Rechtssprechung Brüderlichkeit wird sowohl in der Verfassung als auch in der Präambel von 1946 erwähnt, was bedeutet, dass dieser Begriff an der Spitze des Rechtssystems steht. Eine internationale Norm kann den Begriff der Brüderlichkeit nicht verletzen. Z. B. weigert sich Frankreich, die Charta für regionale oder Minderheitensprachen des Europarates zu übernehmen, weil sie die Brüderlichkeit zwischen den Franzosen durch die Schaffung von Minderheiten zerbrechen könnte. Schaffen Rechte im Namen der Brüderlichkeit. Sichern, dass Brüderlichkeit geachtet und angewendet wird. Definiert, was Brüderlichkeit ist, schafft Rechte im Namen der Brüderlichkeit, verurteilt jeden Angriff auf die Brüderlichkeit.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Brüderlichkeit: ein weiter Begriff in den Händen der französischen Gesetzgeber Brüderlichkeit steht an der Spitze der Hierarchie der Normen. Als Konsequenz können die französischen Gesetzgeber diesen Begriff dazu verwenden, einen großen Umfang von politischen Maßnahmen zu rechtfertigen und umzusetzen: Das Gesetz vom 9. und 14. Oktober 1945 schafft das System der sozialen Sicherheit in Frankreich. Das Finanzgesetz 1989 schafft die Verpflichtung zur Reichensteuer: Über einer bestimmten Einkommenshöhe müssen Bürger eine Steuer zum Wohl der Sozialpolitik zahlen. Das Gesetz vom 1. Dezember 1988 führt das RMI (Mindesteinkommen, Mindestsicherung) ein. Brüderlichkeit ist eine Gesetzesquelle für Sozialpolitik.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem 3 Ein durch die französische Rechtssprechung erweiterter und bestärkter Begriff
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Brüderlichkeit: ein weiter Begriff in den Händen der französischen Gesetzgeber Brüderlichkeit ist nicht nur ein philosophischer oder politischer Begriff, sondern auch eine Rechtsquelle für die französischen Gesetzgeber. Die französische Justiz hat diesen Begriff im französischen Recht auch erweitert und näher bestimmt. Auch wenn Franreich ein Land des geschriebenen Gesetzes ist, hat die Justiz noch immer die Macht, eine Rechtsbegriff zu erweitern und näher zu bestimmen. Der “Verfassungsrat”, einer der drei obersten französischen Gerichtshöfe, neben dem Staatsrat (für die Regierung und die Verwaltung) und dem Kassationsgericht (für das Zivilrecht) hat den Begriff der Brüderlichkeit seit den 1970er-Jahren neu definiert. Die 3 französischen obersten Gerichtshöfe Conseil constitutionnel Verfassungsrat Die höchste Verfassungsautorität in Frankreich Seine Haupttätigkeit, ist zu entscheiden, ob vorgeschlagene Gesetze der Verfassung entsprechen, nachdem sie vom Parlament beschlossen sind und bevor sie durch die Unterschrift des Präsidenten Gesetz werden (a priori Prüfung). Seit März 2010 können auch einzelne Bürger, die in einem Prozess Partei sind, den Rat anrufen, zu prüfen, ob das im Prozess angewendete Gesetz verfassungskonform ist. Conseil d’Etat Staatsrat Cour de cassation Kassationsgericht Handelt sowohl als Rechtsberater der ausführenden Gewalt und als oberster Gerichtshof für Verwaltungsrecht. Frankreichs letzte Instanz, die Jurisdiktion über alle Angelegenheiten hat, die im Justizverfahren behandelt werden können, zuständig für die Sicherung von Fragen des Rechts und der Berufung durch Entscheidungen über Fehler der Justiz.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Brüderlichkeit = Solidarität und Menschenwürde Brüderlichkeit = Solidarität Der Verfassungsrat hat den Begriff der Brüderlichkeit mit dem Gedanken der Solidarität verbunden. Einige Urteile in Verfahren zum französischen Sozialsystem haben Brüderlichkeit als Rechtsquelle verstärkt. Durch die Entscheidung vom 16. Jänner 1986 hat der Verfassungsrat entschieden, dass im Verfahren der sozialen Sicherheit die französischen Gesetzgeber Solidarität zwischen den Beschäftigten, den Arbeitslosen und den Pensionisten herstellen müssen. Gleichzeitig muss der Staat die ausreichende finanzielle Dotierung des Systems der sozialen Sicherheit sicherstellen. Brüderlichkeit = Menschenwürde Der Verfassungsrat definiert Brüderlichkeit auch als Achtung der Menschenwürde und konsequenterweise als das Recht, ein normales Familienleben zu führen oder das Recht für Fremde, Zugang zum System der sozialen Sicherheit zu haben, auch wenn sie nicht registrierte Einwanderer (ohne Papiere) sind. 1995 hat der Verfassungsrat auch entschieden, dass das Recht auf eine anständige Unterkunft ein Verfassungsrecht ist.
Der Begriff « fraternité » im französischen Rechtssystem Brüderlichkeit = eine Einschränkung im französischen Rechtssystem Brüderlichkeit = Einschränkung 1991 hat der Verfassungsrat entschieden, dass es strikt verboten sei, in der Verfassung “die Leute/das Volk von Korsika als Teil des Volkes von Frankreich” zu erwähnen. Der Verfassungsrat erinnerte daran, dass gemäß der Verfassung und dem Begriff der Brüderlichkeit zwischen französischen Bürgern es nur ein einziges und vereinigtes Volk von Frankreich gibt, ohne jede Unterscheidung hinsichtlich Herkunft, Rasse oder Religion. 1999 hat der Verfassungsrat der Regierung geraten, die Charta für regionale und Minderheitensprachen des Europarats nicht zu billigen, die das Prinzip der Einheit brechen könnte, indem sie Menschen, die eine regionale Sprache sprechen, besondere Rechte gibt. Nach derselben Definition von Brüderlichkeit sind Quoten, die auf Geschlecht oder rassischer Herkunft beruhen, zur Förderung einer “positiven Diskriminierungspolitik”, in Frankreich strikt verboten.