Die Präsentation wird geladen. Bitte warten

Die Präsentation wird geladen. Bitte warten

Grenzgänge - Bergsteigen als Philosophie

Ähnliche Präsentationen


Präsentation zum Thema: "Grenzgänge - Bergsteigen als Philosophie"—  Präsentation transkript:

1 Grenzgänge - Bergsteigen als Philosophie
Prof. Dr. Heimo Hofmeister

2 Materialien zur Vorlesung Diskussionsforum
Grenzgänge - Bergsteigen als Philosophie Materialien zur Vorlesung Diskussionsforum Prof. Dr. Heimo Hofmeister Lehrstuhl Religionsphilosophie - Philosophie

3 Vorlesungsthemen Einleitung
Wer suchet, der findet: Die Besteigung des Mont Ventoux als Suche nach dem Grund Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe Vom Nutzen und Nachteil der Berge Angst: Bergerlebnis und Sinnerfahrung Sind Berge männlich? Zur Rolle der Frau in den Bergen Der Bergtod Der Berg in der Sicht der Kunst

4 Grenzgänge - Bergsteigen als Philosophie
Prof. Dr. Heimo Hofmeister

5 Vorlesungsthemen Einleitung Der Berg und das Ich Historischer Rückblick
Wer suchet, der findet Die Besteigung des Mont Ventoux als Suche nach dem Grund Der Berg und der Gottsucher Die Entdeckung der Landschaft Die Freude am Berg: Geburtstunde des Alpinismus Touching the Void Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe Anstieg und Abstieg Der Gipfel Vom Nutzen und Nachteil der Berge Angst: Bergerlebnis und Sinnerfahrung Sind Berge männlich? Zur Rolle der Frau in den Bergen Der Bergtod Wahrnehmung des Berges in der Kunst

6 Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe
Höhle und Berg - Spiegelbilder des Lebens Anstieg und Abstieg Der Gipfel

7 Berge sind mehr als eine Anhäufung von Gestein und Erde
Berge sind mehr als eine Anhäufung von Gestein und Erde. Berge mit ihren Graten und Gipfeln grenzen ab durch Schluchten und Täler gegen andere Berge; jedes Gebirge erscheint wie „ein einziger Tumult der Übertreffung, des Gegensatzes und Widerspruchs“ und bildet so ein Spiegelbild des Lebens. Gerade weil „das, was sich hart ausgrenzt gegeneinander und selbstbehauptend aufgipfelt und in eine Mehrheit von Bergen auseinander tritt, die eine und selbe ‚Erde’“ ist, gleicht sie dem menschlichen Miteinander in seiner Verspannung von Kampf und Liebe und Tod. „Die Gebirge furchen ihr Antlitz, - aber sie [die Erde] unterläuft als der Grund, der alle ‚Erhebungen’ trägt, in ihrer Einheit die Vielheit der Unterschiede.“ ( Eugen Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt am Main 1974, S. 179)

8 So gliedert die Vielheit der Unterschiede den einheitlichen Lebensgrund des Menschseins, auch wenn dieses Menschsein kein natürlich gegebenes und in sich vollendetes ist. Ganz im Gegenteil: dem Menschen ist sein Sein unvollendet und als Aufgabe der Selbstbestimmung aufgegeben. Höhen und Tiefen müssen gelebt und in der Gegensätzlichkeit des Miteinander muß ein Weg gefunden werden, der das Zusammenleben trotz aller Unterschiedenheit und Verschiedenheit ermöglicht. Das Leben ist Kampf, denn dieser ist, einem Worte Heraklits gemäß, der Grund aller Dinge. Und doch ist das Ziel des Lebens Eintracht, wie der Bergsteiger, der sich zum Gipfel hochkämpft, als Lohn nicht die Überwindung des Berges, der Natur erhofft, sondern Selbstbehauptung ihr gegenüber. Der Gipfelsieg ist nicht Unterwerfung, weit eher Anerkennung und Selbstüberwindung.

9 Höhle und Berg - Spiegelbilder des Lebens
Platon, Politeia, 515c-516a Philosophisch denken S. 52

10 Höhle und Berg - Spiegelbilder des Lebens
Welches ist die Grundsituation des Menschen, aus der heraus der Bergsteiger aufbricht, hinauf zur Höhe? Fragen wir nicht ihn selbst, denn im Normalfall ist er weder Psychologe noch Philosoph oder Theologe. Fragen wir einen Denker, der schon vor Urzeiten gelebt hat und das menschliche Selbstverständnis in einer Weise prägte, wie es in unserer abendländischen Geschichte seit fast eineinhalbtausend Jahren lebendig ist. Platon (427 v. Chr. bis 347 v. Chr.) beschrieb in seinem Höhlengleichnis im Buch Politeia die Grundsituation des Menschen als eine des Gefangenseins des Lebens in einem Kerker.

11 In einer Höhle wohnen wir, meist ohne uns unserer Gefangenschaft bewußt zu sein. Wir gehen unseren Geschäften nach, wissen uns zu vergnügen und merken nicht im Geringsten, wie wesenlos und nichtig unser Tun ist. Gelegentlich mögen wir dies ahnen. In besonderen Augenblicken des Lebens erfüllt uns eine rätselhafte Sehnsucht und es steigt in uns die Frage auf: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet?“ oder anders formuliert: „Was ist das Seiende?“ Wenn uns das, was wir mit größter Selbstverständlichkeit als das Wirkliche kennen, seine Nichtigkeit zeigt, fühlen wir die tiefe Beunruhigung, von der Wahrheit und einem Sinn unseres Lebens ausgeschlossen zu sein.

12 Das Höhlengleichnis im 7
Das Höhlengleichnis im 7. Buch in Platons Politeia konfrontiert uns mit der Vorstellung von Menschen, die in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnstätte (der ganzen Länge nach zum Licht hin offen) seit jeher hausen. In diese Höhle fest gebannt, gefesselt, bleiben sie von Kindheit an immer an derselben Stelle und können nur gerade vor sich hinsehen. Von oben aber, aus der Ferne, leuchtet hinter ihnen das Licht eines Feuers. Da sich zwischen diesem und den Höhlenbewohnern Gestalten bewegen, die ihrerseits Gegenstände (Artefakte) tragen, kommt es zu einer Schattenbildung. Die Gefesselten nun halten diese Schattenbilder für das Wahre und Wirkliche:

13 „Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten ... Nun betrachte auch ... die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, ... zu gehen und gegen das Licht zu sehen ... Zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge ... und dann erst sie selbst.“ (Platon, Politeia, 515c-516a Phd S. 52)

14 Derjenige, dem der Aufstieg zur Quelle des Lichtes gelingt, wird letztendlich die Schatten als Schatten durchschauen. Ist es diese Sehnsucht, die den Bergsteiger treibt und ihn hinauf und immer höher steigen läßt? Weiß dies der Bergsteiger oder ist es mehr eine flüchtige Stimmung als ein Wissen um die Schattenhaftigkeit des Lebens, und ist er gleich einem jener Höhlenmenschen Platons, der den Aufstieg zur Sonne sucht?

15 Die Höhlenbewohner werden uns geschildert wie Gefangene, angeschmiedet und bewegungslos starr vor sich hin blickend. Wenn sie sich auch selbst nicht bewegen, so heißt dies nicht, daß es für sie keine Bewegung gibt. Auf der Wand, auf die sie blicken, die sie anstarren, wechseln die Schattenbilder der hinter den Gefangenen vorbeigetragenen Gegenstände. Die Gefangenen sind nicht nur gebannt vom Vergänglichen, so, wie wenn wir durch das Fenster der Waschmaschine fasziniert der Bewegung der Wäsche in der Trommel zusehen. Die Besten kennen sich aus im Wechselhaften der Zeit. Unter ihnen gibt es sogar einen Wettstreit, wer die wechselnden Bewegungen am besten erkenne und vorhersagen könne.

16 Dieses Ergriffen- und Fasziniertsein durch ständige Veränderung läßt nach Platon die Menschen gerade zu Gefangenen werden. Nicht weil sie in Ketten liegen, sehen sie nur den Wechsel der Schatten, sondern angeschmiedet sind sie durch ihr Starren auf das sich ununterbrochen Ändernde und Verändernde. Hin und her gerissen sieht uns Platon zwischen Pflichten und Verlockungen. Eingefangen durch das Bewegte, das sich bald so, bald so zeigt, sind wir selbst nicht bewegend, sondern unfrei. Die Benommenheit vom Bewegten und die Unfreiheit gehören zusammen.

17 Den Gefangenen, das sind wir, gelten die sich wechselnden Schatten als das Wirkliche und Wahre. Sie wissen nicht, daß die Schatten bloße Schatten von etwas sind. Platon läßt sich nicht eigens darüber aus, wieso der Mensch eigentlich in den Bann dieser fesselnden Macht geraten ist, er beschreibt aber die Lösung und Heilung dieser Menschen von ihren Banden und ihrem Unverstand und wie schwierig diese ist. Jemand, der sein Leben lang saß, wie soll der aufstehen und gehen können, den Kopf herumdrehen und gegen das Licht sehen? Wenn er das tut, erleidet er Schmerzen und ist auch wegen des flimmernden Glanzes des Lichtes nicht recht im Stande, jene Dinge zu erkennen, von denen er vorher die Schatten sah.

18 Würde er nicht, wenn man ihn gar in das Licht zu sehen nötigt, fliehen und zurückkehren wollen, um nur das anzuschauen, wozu er im Stande ist und wovon er fest überzeugt ist, daß es gewisser ist als das, was er jetzt bei Licht gesehen hat? Der Hirte, der Petrarca bei der Besteigung des Mont Ventoux begegnete, konnte, obwohl der selbst schon auf dem Gipfel des Berges war, die beiden Brüder nur warnen und ihrem Unternehmen keinen Sinn abgewinnen. Nur Leidvolles weiß er von seiner Besteigung zu berichten. Seine Erfahrung ist eine negative, wie einer jener Gefangenen, der zum ersten Mal ins Licht gesehen hat, eben gleichsam nichts sieht und aus der Erfahrung des Nichts in das vordem Gültige, zu den Schattenbildern, zurückstrebt.

19 Aufzustehen und sich auf den Weg zu machen, seine bequeme sitzende Stellung des Betrachtens zu verlassen, ist nicht nur eine Kraftanstrengung, sie bedeutet auch Leid. Schmerzen verursacht der Blick ins Licht dem Höhlenbewohner wie dem Bergsteiger. Er muß sich schützen vor dem Licht, es schmerzt, er kann seine Strahlen nicht ertragen. Mit zunehmender Höhe werden die Strahlen stärker, ebenso die Schmerzen. Das Gewinnen an Höhe ist in beiden Fällen kein Vergnügen. Schweiß und Angst begleiten den über holprige Wege nach oben Steigenden und so manche Enttäuschung erlebt er, wenn er wahrnimmt, daß die Höhe, die er erklomm, noch längst nicht sein wahres Ziel ist.

20 Ebenso der Höhlenbewohner: er wird hinauf getrieben, ja geschleppt, über den steilen Aufgang zum Höhleneingang und muß immer wieder resignierend feststellen, von der Wahrheit unendlich weit entfernt zu sein, bis er endlich aus dem geschlossenen Raum der Höhle zu ihrem offenen Ein- und Ausgang in das grenzenlos Offene des Sonnenlichts und des Tages gebracht ist. Auf seinem Aufstieg hat er eine doppelte Umwendung erlebt, von den Schatten zu den wirklichen Gegenständen und von diesen zum Höhlenfeuer. Am Ausgang der Höhle angekommen bilden diese Ereignisse gleichsam nur das Vorspiel für eine neuerliche Umwendung. Die Höhle insgesamt verhält sich zur Offenheit des Tages wie Schatten zum Licht:

21 „Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.“ (Politeia, 515e f.)

22 Sicher bedarf es längerer Zeit, sich an das Ungewohnte der Helligkeit zu gewöhnen und in ihr etwas zu erkennen. Gewöhnung wird nötig sein, schreibt Platon, um das Obere zu sehen: „Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser und dann erst sie selbst. Und ebenso, was am Himmel ist, und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tag in die Sonne und in ihr Licht.“ (Politeia, 516 f.)

23 Zuletzt sieht Platon seinen Höhlenbewohner die Sonne erkennen, nicht bloß Bilder von ihr im Wasser, sondern sie selbst an der ihr eigenen Stelle, und er lernt begreifen, wie alles, was ist, sich ihrem Licht verdankt. Sie bringt hervor, läßt wachsen, ordnet die Jahreszeiten, das Blühen und Gedeihen und ist selbst die Urheberin jenes Feuers, das in der unterirdischen Höhle leuchtete und das bewegte Spiel der Schatten ermöglichte. In diesem Begreifen vollendet sich der Aufstieg der Befreiung. Der Befreite hat die Erfahrung gemacht, daß sich in seinem Weg nach oben alles umgekehrt hat, nicht nur das, was er zuerst für das Wahre und Wirkliche hielt, sondern auch sein Erleiden und seine Angst vor dem Aufstieg:

24 „Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist.“ (Politeia, 516b f.)

25 Der Befreite wird sich glücklich preisen, wenn er seiner ursprünglichen Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit. Diese wird ihm nunmehr als Schattenweisheit und Unverstand erscheinen und deren Kundige bemitleidenswert, denn sie wissen sich nur im zeithaften Verstehen der bewegten Schattenbilder zurechtzufinden. Sie sehen nur das Bewegte und letztlich nicht das Bewegende. In der Erfahrung dieser Glückseligkeit kommt es jedoch zu einer abermaligen Wende. Es bleibt nicht bei der einseitigen Befreiung, bei dieser Trennung und Entgegensetzung zwischen Licht und Dunkel, zwischen Tag und Nacht, zwischen Höhle und der Offenheit der Welt. Platon stellt die Frage, wie es denn einem solchen erginge, der wieder hinunter stiege, um sich auf den selben Schemel zu setzen wie ehedem. Wären ihm nicht die Augen ganz voll von Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne kommt?

26 „Und wenn er wieder in Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichte, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?“ (Politeia, 517a).

27 Groß Venediger

28 Anstieg und Abstieg „Früh aufstehen. Sich auf den Weg machen. Man weiß, wie viele Stunden es dauert, bis man das Alpenquantum hinter sich gebracht haben wird. Jemanden, der sich im Gebirge zu wenig vornimmt, könnte ich nicht verstehen. Für jemanden, der sich im Gebirge nicht bis an den Rand seiner Kräfte anstrengen will, habe ich nur ein Kopfschütteln übrig. Jemand, der im Gebirge nicht mehr aus sich herausholen will als das letzte Mal, sollte vielleicht gleich im Kino sitzen bleiben. Jemand, der sein Pensum nicht so bemessen hat, daß er, während er es absolviert, oft und oft in Versuchung ist, aufzugeben, hat sich zu wenig vorgenommen. Wer während des Ableistens nicht über seine Selbstüberforderung in Verzweiflung gerät, hat sich einen lächerlich langweiligen Tag gemacht. Und so weiter. Das ist die Freiheit, die ich meine. Von sich selber mehr verlangen, als man gerne geben will. Sich überanstrengen. Mehr, viel mehr wollen, als man kann. Und das Zuviel steigern.

29 Das Jetzt-geht‘s-nicht-mehr hinaufsetzen
Das Jetzt-geht‘s-nicht-mehr hinaufsetzen. Die Überforderung zur Gewohnheit machen. Es ist das äußerste Gegenteil der Lebensweise drunten, wo andere uns überfordern, überanstrengen, uns die Aufgaben verpassen. Das sehe ich, das glaube ich zu sehen, in den schwitzenden Gesichtern hoch überpackter Bergwanderer, völlig knochenlos heimtaumelnder Pistenraser. Das kommt mir vor wie Freiheit. Natürlich könnte sich einer auch auferlegen, bis zum Umfallen um den Münchener Hauptbahnhof herumzurennen. Aber man darf doch, ohne hochmütig zu erscheinen, sagen, der wäre schön dumm. Ich schließe diese Erbauung mit der Mitteilung, im Gebirge sei noch etwas, was um einen Großstadtbahnhof nicht im gleichen Maße sei, und dieses Etwas sei der Erzeugung eines Freiheitserlebnisses günstiger als das, was der Hauptbahnhof um sich hat.“ (Martin Walser, Ansichten, Einsichten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1997, S )

30 Ob nun der Gipfel das Ziel ist, eine Anhöhe, das Durchklettern einer Wand, oder der Weg selbst, der Bergsteiger jedenfalls will hoch hinaus. Was er zu erreichen sucht, meint er nicht im Tal und in der Tiefe zu finden. Aufstieg und Abstieg sind zwar Teil seines Suchens, doch was er erstrebt, verspricht in erster Linie der Aufstieg: Höhe. In Hohem, ja Höchstem vermutet sein Suchen seinen Grund. Vom Gipfel muß abgestiegen werden, doch der Abstieg ist nicht der Grund des Aufstieges. Er gehört zur gelungenen Bergbesteigung, wenngleich niemand einem George Leigh Mallory einen Sieg über den Mount Everest, so er ihn erreichte, streitig machen würde, nur weil ihm eine Rückkehr von diesem Berg nicht beschieden war.

31

32 Nach einem anstrengenden Aufstieg gilt uns das Absteigen oft als Erleichterung, es bedeutet einen Wechsel von Kräften, andere Muskel werden belastet. Erfordert der Aufstieg eine stete Überwindung der Schwerkraft, die unser Vorwärtskommen bremst, so sind beim Abstieg wir es, die bremsen und bremsen müssen, um nicht hinunter in die Tiefe, oft dem Abgrund entgegen, gezogen zu werden. Ist das Aufsteigen bis hin zum Gipfel ein Aufbruch zu Neuem, so ist der Abstieg eine Rückkehr zum Ausgangspunkt und zu Bekanntem. Wo während des Aufstieges abgestiegen werden muß, ist abwärts zu gehen ein Umweg. Die momentane Entlastung ist mit einem zusätzlichen Aufstieg erkauft. Das Unten ist nicht minder zweideutig wie das Oben. Was finden wir oben? Freiheit, ein Gefühl des Glücks, es geschafft zu haben, eine Erweiterung des Blickes, Nähe zum Himmel, aber auch Unwirtlichkeit und das Wissen, wieder von da weg zu müssen.

33

34 Wenn am Gipfel auch Himmel und Erde in einander überzugehen scheinen, hat die Bergfahrt nach oben doch ihr Ende. Ein höher hinaus als bis zum Gipfel gibt es nicht, über ihm ist die Leere, jedenfalls kein Aufenthalt für den Menschen. Umgekehrt sieht es nicht viel anders aus. Halten wir uns an Alighieri Dantes Divina Comedia, so verheißt der Abstieg wenig Gutes. Je weiter nach unten, vorbei an wilden gefährlichen Felsabstürzen, wir kommen, desto näher nicht nur der Erde, sondern ebenso der Hölle befinden wir uns. Das „Inferno“ ist unten und im Inneren eines Berges.

35 Eine Schweizer Forschergruppe untersuchte die Tiefen-Mächtigkeit der Alpen. Schallwellen, die von Gesteinsschichten im Untergrund reflektiert wurden, konnten an der Erdoberfläche wieder aufgefangen werden. Für die 4.634m hohe Dufourspitze im Wallis ergaben die Messungen, daß sie nicht weniger als 60 km Kilometer tief in das Erdinnere reiche. Der tiefste Ort und Erdmittelpunkt gilt nicht nur Dante als der Aufenthalt des Teufels. Was die Höhe des Berges zeigt, ist gleichsam nur die Spitze eines Eisberges. Helga Peskoller fordert daher, nach der Geschichte der Höhe eine Geschichte der Tiefe zu schreiben. (Helga Peskoller, BergDenken, Eine Kulturgeschichte der Höhe, Wien 1998, Anm. 204, S. 329)

36 Hillary Stepp Hillary Step

37 „Der Weg hinauf und hinab“ mag nach Heraklit, „ein und derselbe“ sein, aber gerade weil er derselbe ist, ist er auch verschieden (Heraklit, Fragmente, B60; die Zitierung erfolgt unter Angabe der Fragmentnummer, entsprechend der Zählung von Hermann Diels, Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Walther Kranz, Zürich 1989). Der Abstieg gehört ähnlich dem Weg des platonischen Höhlenbewohners, der in seiner Suche des höchsten Grundes von Wahrheit aufwärts zum Licht, zur Sonne strebt und doch wieder zurück in das Dunkel der Höhle muß, nicht nur beiläufig zu dem Abenteuer Berg. In beiden Fällen ist die Rückkehr Heimkehr. Heimkehr bedeutet, daß die Rückkehr zum Ausgangspunkt den Anfang nicht mehr den selben sein läßt. Der ins Tal Absteigende bringt die Erfahrung der Höhe mit und sieht den Ausgangspunkt nicht mehr so, wie er ihn sah, als er von ihm aus wegging.

38 Im Falle des Höhlengleichnisses Platons ist die Heimkehr getragen von der Einsicht, daß die Wahrheit nicht losgelöst von den irdischen Bindungen des Sterblichen gefunden werden kann, für den Bergsteiger ist sie bestimmt durch die Erfahrung, daß es über den Gipfel hinaus nur den Tod gibt. Beides sind Wahrheiten, die ihre Geltung schon für den Aufstieg besaßen, aber als solche noch nicht bewußt waren. Der Abstieg, selbst wenn er nur im Schatten des Aufstieges erfolgt, ist nicht weniger gefährlich als dieser. Auch für den platonischen Höhlenbewohner gilt, daß ihm, gestärkt durch eine neue Sicht der Dinge, die Rückkehr in die Höhle weniger gefährlich ist als sein Aufstieg zum Licht. Höhlenbewohner wie Bergsteiger kehren dorthin zurück, wo sie hergekommen sind, in das Leben, das sie, mühsamst sich von Stufe zu Stufe hocharbeitend, verlassen haben. Hatten sie beim Anstieg das Licht, den Gipfel des Berges vor sich, so sitzt dieser ihnen jetzt im Rücken und übt ungesehen seine Wirkung aus.

39 Der Abstieg, die Heimkehr, ist eine Umkehr und erfordert, sich wieder zu verbinden mit dem, wovon man sich gelöst und was man zurückgelassen hatte. Das Ausbleiben des Abstiegs ist nicht nur des Bergsteigers persönliches Schicksal, es ist eine Tragik, denn „auf dem Gipfel ist kein Platz für Euphorie“, wie das einmal Messner ausdrückte, denn oben zu bleiben heißt sterben zu müssen. Die höchsten Gipfel unserer Berge sind so wenig wohnlich wie der dauernde Aufenthalt im Lichte der Sonne dem die Höhle verlassenden und die Wahrheit suchenden Menschen Platons zuträglich ist. Diesen Höhlenbewohnern und den dem Gipfeln zustrebenden Bergsteigern scheint Eines gemeinsam zu sein: die Sehnsucht nach Wahrheit, ob sie es nun wissen oder nicht, beide streben dem Licht, der Sonne zu, der Offenheit des Blicks. Diese Sehnsucht nach Offenheit begleitet ebenso den Abstieg.

40 Die Wahrheit des Abstieges ist es, eine Unumgänglichkeit des Lebens zu sein, und erinnert uns daran, daß nicht oben in der Einsamkeit der Höhe, sondern unten der Ort unseres Lebens ist, so oft wir diesem Ort auch entfliehen mögen. Was suchten sie und was suchen sie noch immer, die, die zur Höhe streben? Die Wahrheit? Die Wahrheit worüber? Was ist Wahrheit?, fragte Pilatus und gab vor, seine Hände in Unschuld waschen. Sicher ist nur eines: wo Wahrheit ist, ist auch Unwahrheit. Doch auch dies ist vorerst eine unbewiesene Behauptung.

41 Mont Blanc

42 Der Gipfel Das Erreichen des Gipfels stellt den Höhepunkt einer Bergtour dar; ein Höhepunkt, der ein Umkehrpunkt oder Übergang, jedenfalls ein Grenzpunkt ist. Doch nicht jede Bergtour sucht, einen Gipfel zu erreichen. Beim Klettern ist das Ende der Wand oft das Ziel, und von ihr her zum Gipfel aufzubrechen keine Herausforderung mehr. Man seilt sich vorher ab oder wählt den Normalweg zurück ins Tal. Sportklettern ist gipfellos, denn der Gipfel ist Ende des Berges, ist Höhe, und im Sportklettern geht es nicht um Gewinnen von Höhe. Es ist Freude an der Geomorphologie des Felsens. Ihr Faszinosum ist nicht die Höhe, sondern die Schwerkraft. Steinbrüche und Schottergruben sind die Orte, an denen sich Sportkletterer mit Vorliebe aufhalten. Sie sind bestens trainiert und die spielerische Beherrschung ihres Leibes ist ihre Tugend. Anders als in den Alpenwänden und in den großen Gebirgen bedeutet das Versagen des Körpers keine Lebensgefahr, im Gegenteil, man lacht darüber, denn daß er aussetzt, was immer wieder vorkommt, hat beim Sportklettern normalerweise keine bösen Folgen. (Bouldering)

43 Mont Blanc

44 Für den Expeditionsbergsteiger, aber auch für den alltäglichen Touristen, ist das Gewinnen von Höhe, das Erreichen des Gipfels weiterhin das Ziel. Etymologisch ist das Wort „Gipfel“ eine Bezeichnung aus der neuhochdeutschen Schriftsprache. Andere Bezeichnungen des höchsten Bergpunktes nennen diesen oft gemäß seiner Form Kogel, Kopf, Wart, Höhe, Spitz, Joch, Riegel, Brückenstein und Horn (vgl. Otto Stolz, Anschauung und Kenntnis der Hochgebirge Tirols, 1. Teil. München 1928, Sonderabdruck 1929, S. 12; Tesk 325, 333, 296). Der Gipfel ist weder ein Ort des Lebens noch des Sterbens. Er ist ein Zustand des Zwischen, zwischen Auf- und Abstieg, nicht das eine und nicht das andere, jedenfalls ist er ein extremer Ort und eine Stelle der Umkehr. Denn extreme Orte sind Orte der Umkehr.

45 Zugspitze

46 Dante ist seines Seelenheiles wegen zuerst nach unten gestiegen, zum untersten Punkt. Petrarca hat den umgekehrten Weg genommen und den obersten Punkt gesucht. Für beide waren diese extremen Orte Stellen der Umkehr. Sie kehrten zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Der Gipfel zeigt die Grenze des Berges und die Begrenztheit des Menschen. Er ist kein Ort der Ruhe und des Ausruhens. Auf ihm ist die Erde nicht fest und auch das Element Luft kann dem Menschen zur Gefahr werden, vom Licht und Feuer in der Form von Blitzen ganz zu schweigen. Der Gipfel ist jener Ort, auf den seit alters her nur Gott ein Recht auf Besitz hat, auf ihm weilend und sich einrichtend bleibt der Mensch in ständiger Bedrohung durch ihn.

47 Aufsteigen ist ein Entfernen von sich selbst, von der gewohnten Lebensweise. Der Abstieg ist die Rückkehr ins Gewohnte. Der Gipfel ist Grenze. Es gibt kein Über-ihn-Hinaus, über dem Gipfel ist der Himmel oder das Nichts. Beide sind dasselbe. Unten im Tal gibt es manche Ungewißheit, manche Zweifel. Wir fühlen uns erinnert an Platons Höhlenbewohner, als sie den Ausgang der Höhle erreichten und in der Sonne standen. Unter den Gefangenen gab es solche, die sich mit dem Zeitlichen besser zurechtfanden, die sich im Wirrwarr der Bewegungen besser auskannten und Künftiges vorhersagen konnten. Man stritt über Details des wahrgenommenen Seienden, aber nicht darüber, was denn dieses Seiende eigentlich sei. Die Frage nach dem Grund alles Seienden war noch nicht aufgebrochen. Sie wird erst zum Problem der Höhlenbewohner als sie am Ausgang der Höhle die Sonne erblicken.

48 Für den Bergsteiger, der am Gipfel steht und ins Tal hinunter schaut, ist dieses Tal weit weg und das, was er wahrnimmt, die Häuser und Menschen, klein, so klein, daß er dieses und jenes nur identifizieren kann, weil er es denkt. Alltäglich Seiendes in seiner Kleinheit relativiert sich auch für ihn, irgendwie haftet ihm die Bedeutungslosigkeit an. In der Helle des Himmels meint auch er, den Grund alles Seienden zu sehen, und die enorme Unterschiedenheit zwischen allem Seienden und dem Grund, aus dem heraus es existiert, wird ihm klar. Das Sein als der Grund des Seienden ist nicht wie dieses aussagbar, es ist nur in Metaphern und einer analogen Redeweise ansprechbar.

49 Zugspitze


Herunterladen ppt "Grenzgänge - Bergsteigen als Philosophie"

Ähnliche Präsentationen


Google-Anzeigen