Möglichkeiten und Grenzen integrativer For-schungsansätze aus humangeographischer Sicht Peter Weichhart Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien 55. Deutscher Geographentag Trier, Sonderveranstaltung „Möglichkeiten und Grenzen von Forschungen im Schnittfeld von Physischer Geographie und Humangeographie“ P227MGiFTrier01
Sehen als … … oder: „Wir können … (eine Illustration) … einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten“ (L. WITTGENSTEIN, 1984, Philosophische Unter- suchungen. Werkausgabe Bd. 1, S. 519). Der „H-E-Kopf“ … oder: (Quelle: Joseph JASTROW, 1900, Fact and Fable in Psychology. – Boston. P227MGiFTrier02
Der „Aspektbezug“ der Kognition Wir können die Graphik entweder als Hasen- oder als Entenkopf se- hen, niemals aber gleichzeitig als beides! Der H-E-Kopf lässt sich als Metapher für ein Grund- problem „integrativer Projekte“ ansehen: P227MGiFTrier03
Das Verhältnis von Sinn und Materie Wissenschaftliche Zugänge zur Darstellung und Erklärung der Realität weisen ebenfalls einen derartigen Aspektbezug auf. Wir sehen die Welt entweder als rekursive kommuni- kative (Sinn-)Struktur oder als physisch-materielle Struktur. Naturalistisch-materialistische versus kulturalistisch-konstruktivistische Deutung der (sozialen) Welt P227MGiFTrier04
Das eigentliche Problem: In Wahrheit besteht die (soziale) Welt aber gleich- zeitig immer aus beidem: Materie und Sinn(zu- schreibung) – so wie der H-E-Kopf in Wahrheit gleichzeitig und gleichermaßen immer beides ist: die graphische Abstraktion der Form eines Hasen- und eines Entenkopfes. Das Problem liegt in der Struktur unseres Erkenntnisapparates, nicht in der „Realität“. Die Problemlösung: Eine „Kopenhagener Deutung“? P227MGiFTrier05
Komplementarität Ein Erfolg versprechender Kandidat Gesucht wäre ein konzeptioneller Ansatz, welcher der Komplementarität von Sinn und Materie in der sozialen Welt gerecht wird und geeignet erscheint, Theorien der Mensch/Gesellschaft-Umwelt-Inter- aktion zu entwickeln. Ein Erfolg versprechender Kandidat für ein derartiges „Framing“ dürfte das handlungstheoretische Paradigma sein P227MGiFTrier06
Eine zentrale Leistung der Handlungstheorie: Der Begriff des „Handelns“ erbringt genau jene Leistung, die in der klassischen Geographie im Landschaftsbegriff und im Raumbegriff aufgeho- ben war: die Verknüpfung von physisch-materiellen Gegebenheiten, Bewusstseinszuständen und der sozialen Welt. Die Handlungstheorie bietet die Möglichkeit, naturalistisch- materialistische (intendierte und nichtintendierte Handlungs- folgen) und kulturalistisch-konstruktivistische (Genese und diskursive Begründung von Intentionalität) Deutungen der Welt im Kontext eines kohärenten Denkmodells zu verbinden. P227MGiFTrier07
Entwicklungserfordernisse Um die Handlungstheorie als Basiskonzeption einer geo- graphischen Mensch-Umwelt-Forschung aber tatsächlich nutzbar machen zu können, wäre noch einiges an Entwicklungsarbeit erforderlich: Agency von sozialen Aggregaten und Organisationen (nichtdeterministische) Rückwirkungen (Agency?) physisch-materieller Strukturen auf Subjekte und soziale Gegebenheiten handlungstheoretische Interpretation von Diskursen („ökologische Doktrin“ als Teilelement „ökologischer Regimes“ (W. ZIERHOFER)) handlungstheoretische Interpretation von Konzepten wie Vulnerabilität, Risiko oder Resiliance P227MGiFTrier08
Das Beispiel der „sozialökologischen Interaktionsmodelle“ „Kultur“, Sinn- konstitution, rekursive symbolische Kommuni- kation „Natur“, Öko-systeme Population GESELLSCHAFT Kolonisierung: Artefakte, Settings Aneignung, Arbeit Physisch-materielle Welt „Hybride Systeme“ „Gesellschaft“ im Verständnis der Soziologie Metabo- lismus ? ? Ökologische Doktrin Nach M. FISCHER-KOWALSKI u. H. WEISZ, 1999; verändert P227MGiFTrier09
Der aktuelle Stand des fachpolitischen und theoretischen Diskurses Einheitsrhetorik und Mythos Zwar ist viel von der Einheit des Faches und der Be- deutung integrativer Projekte die Rede, in der For- schungspraxis existiert die Einheit aber nicht (zwei Fächer) und wirklich integrative Projekte sind äußerst selten. Halbherzigkeit Wenn die fachpolitische und inhaltliche Bedeutung des Problems tatsächlich so groß ist, wie in Festreden und programmatischen Texten unterstellt wird, warum werden keine wirklich ernsthaften Anstrengungen unternommen, es zu lösen? P227MGiFTrier10
Der aktuelle Stand des fachpolitischen und theoretischen Diskurses Zurück in die Zukunft Viele Ansätze und Überlegungen zur Einheit und zu inte- grativen Projekten beziehen sich explizit oder implizit auf die klassische Geographie (Landschaftskunde, Länder- kunde). Das sei jedermann unbenommen, kann aber eher nicht als besonders innovativ angesehen werden. Hintergrundtheorie Integrative Forschungsansätze lassen sich nur verwirk- lichen, wenn sie theoretisch begründet sind. Die Notwen- digkeit derartiger Hintergrundtheorien wird häufig nicht eingesehen. (Area 2004.) P227MGiFTrier11
Lösungsansätze und Therapievorschläge Null-Lösung Man könnte das Faktum, dass die beiden Geographien praktisch kaum mehr etwas miteinander zu tun haben, zur Kenntnis nehmen und einfach zur Tagesordnung über- gehen (N. THRIFT). weg von der Halbherzigkeit Wenn wir eine Problemlösung ernsthaft anstreben, müssten wir Nägel mit Köpfen machen (Institutionalisie- rung, gut dotierte Förderprogramme, SFB, Dissertanten- kollegs, langfristige Projekte, Arbeitsgruppen, …). P227MGiFTrier12
Lösungsansätze und Therapievorschläge „slow science“ statt „Exzellenz-Stalinismus“ Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen einer drittmittelorientierten kompetitiven Forschung haben Pro- jekte mit einer starken Betonung theoretisch-konzeptio- neller Aspekte keine guten Karten. Ein Blick über den Tellerrand Es erscheint lohnend, den Blick über den Tellerrand zu wagen und zu prüfen, wie man Probleme integrativer Projekte in anderen Disziplinen zu lösen versucht. P227MGiFTrier13
Ein Blick über den Tellerrand Umweltsoziologie Umweltpsychologie Techniksoziologie Science Studies Es ist viel zu tun – packen wir es an. Aber ordentlich, und mit Kraft! Quelle: Raum 37/00, S. 23 P227MGiFTrier14