Wissenschaftliche Revolutionen oder Anything Goes ?

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Wissenschaftliche Revolutionen oder Anything Goes ? Zur historischen Genese von (Teil-)Wissenschaft

Sir Karl Popper (1902-1994) und die Logik der Forschung Karl Popper hat in seiner Logik der Forschung (1935) ein Modell der Wissenschaftsentwicklung entworfen, das von einer ständigen Verbesserung unseres Wissens durch empirische Forschung ausgeht. Dabei werden aus Theorien Hypothesen abgeleitet; deren empirische Überprüfung führt zur Verbes-serung der Theorien, im negativen Fall zur Einschränkung ihres Geltungsbereiches oder gar zu ihrer Verwerfung. Wissenschaft führt auf diese Weise zu einer kontinu-ierlichen Optimierung unseres Wissens. Kumulatives Wissenschaftsverständnis

Thomas Kuhns Modell der Entwicklung von Wissenschaft(en) Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn veröffentlichte 1962 ein Modell der Wissenschaftsentwicklung, das davon ausgeht, dass es in den einzelnen Wissenschaften jeweils über einen längeren Zeitraum ein herrschendes Paradigma gibt, und das in unvorhersagbarer Weise in einer wissen-schaftlichen „Revolution“ durch ein neues herr-schendes Paradigma abgelöst wird. Er widersprach damit Poppers Idee einer kontinuier-lichen Weiterentwicklung der Wissenschaft durch Wissenszuwachs. Revolutionäres Wissenschaftsverständnis

THE SCIENTIFIC REVOLUTION

THE SCIENTIFIC REVOLUTION CREATION OF A NEW WORLDVIEW Questioning of old knowledge & assumptions Gradual replacement of religious & superstition presumptions Gradual rise of science & reason

THE SCIENTIFIC REVOLUTION NEW DIRECTIONS IN ASTRONOMY & PHYSICS PTOLEMY: Geocentricism NICOLAUS COPERNICUS (1473-1543): Heliocentrisim TYCHO BRAHE (1546-1601): More accurate position of planets JOHANNES KEPLER, (1571-1630): Elliptical planetary movement

THE SCIENTIFIC REVOLUTION NEW DIRECTIONS IN ASTRONOMY & PHYSICS GALILEO GALILEI (1564-1642) Constructed first telescope Described motion of bodies on earth

THE SCIENTIFIC REVOLUTION NEW DIRECTIONS IN ASTRONOMY & PHYSICS ISAAC NEWTON (1642-1727) Universal Gravitation: combined laws of planetary & earth motion Numerous practical applications

THE SCIENTIFIC REVOLUTION DISCOVERIES IN OTHER SCIENCES Botany: new medical applications Anatomy: better understand of how human body worked Microscope invented

THE SCIENTIFIC REVOLUTION PHILOSOPHICAL THOUGHT FRANCIS BACON (1561-1626) Inductive reasoning: working from particular to general conclusions Empiricism & scientific method

THE SCIENTIFIC REVOLUTION PHILOSOPHICAL THOUGHT RENÉ DESCARTES (1596-1650) Geometry: any algebraic formula could be plotted as curve in space Deductive Reasoning: starting with general assumptions & working downward Cartesian Dualism: division of reality into “thinking substance” & “extended substance”

THE SCIENTIFIC REVOLUTION POLITICAL THOUGHT THOMAS HOBBES (1588-1679) Negative, mechanistic view of human nature Strong sovereign necessary to control conflicting desires Hobbe’s Leviathan

THE SCIENTIFIC REVOLUTION POLITICAL THOUGHT JOHN LOCKE (1632-1704) TABULA RASA: humans born with blank slate Government & public enter contract

Biographisches: Thomas Kuhn (1922 – 1996) Geboren Cincinnati/Ohio, USA 1948 Master Education & History of Science in Harvard 1949 Doktor der Physik Harvard University 1956 University of California, Berkeley 1961 Professor History of Science, Berkeley 1979 Professor Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, MIT Boston Wesentlichste Arbeit „The Structure of Scientific Revolution“ 1962. Ca. eine Millionen verkaufte Exemplare. Derzeit immer noch wichtigste und einflussreichste Theorie der Wissenschaftsgeschichte wegen der Einführung der Begriffe Paradigma und Paradigmenwechsel.

Was verstehen wir unter einem „Paradigma“? (I) Generell verstehen wir unter einem Paradigma ein Bündel von theoretischen Leitsätzen, Fragestellungen Methoden zu ihrer Beantwortung, das das Vorgehen der Wissenschaftler in einer je bestimmten historischen Periode der Wissenschaftsentwicklung charakterisiert

Beispiel: Newtons Mechanik Kuhn - Paradigma Allgemeine Merkmale Beispiel: Newtons Mechanik Jedes Paradigma beinhaltet bestimmte theoretische Annahmen, Einen Bestand an methodischen Regeln, paradigmatische Anwendungen und „quasi-metaphysische“ Überzeugun-gen (S. 55) Newtons drei Axiome und das Gravitationsgesetz z. B. „Newtons Prinzip“: Physikalische Vorgänge sind durch Differentialgleichungen zu beschreiben Fallbeschleunigung (Galileis Gesetze) und die Planetenbahnen im Sonnensystem (Keplers Gesetze) Der „absolute Raum“ und die „absolute Zeit“ Quelle: Lauth: III. Teil: Wissenschaftlicher Fortschritt und der Wandel des wissenschaftlichen Weltbilds, http://www.philosophie.lmu.de/mitarbeiter/lauth/Teil3.pdf

Was verstehen wir unter einem „Paradigma“? (II) Nach Kuhn kann man ein Paradigma kennzeichnen 􀂄 durch das, was beobachtet und überprüft wird, 􀂄 durch die Art der Fragen, welche in Bezug auf ein Thema gestellt werden und die geprüft werden sollen, 􀂄 danach, wie diese Fragen gestellt werden sollen, 􀂄 dadurch, wie die Ergebnisse der wissenschaft-lichen Untersuchung interpretiert werden sollen. Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962

Merkmale von Paradigmen Wissenschaftliche Paradigmen sind gekennzeichnet durch: 􀂄ein bestimmtes Menschenbild, 􀂄 eine bestimmte Auffassung vom Forschungsgegenstand, 􀂄 daraus resultierende spezifische methodische Präferenzen, 􀂄 ein bestimmtes Begriffsvokabular und 􀂄 (in manchen Fällen) eine Traditionsbildung über Lehrer-Schüler-Verhältnisse.

Literaturtipp Zur ersten Übersicht: F. Mühlhölzer: Thomas S. Kuhn, in: J. Nida-Rümelin (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldar-stellungen von Adorno bis v.Wright. 2.Aufl. Stuttgart: Kröner 1999, S. 383 ff Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegen-wartsphilosophie. 8. Aufl. Stuttgart: Kröner 1987, Kap. III Paul Hoyningen-Huene: Die Wissenschafts-philosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme. Braunschweig: Vieweg 1989

und wissenschaftliche Paradigmen Normale Wissenschaft und wissenschaftliche Paradigmen Die „normale Wissenschaft“ ist nach Kuhn durch die Bindung an ein Paradigma gekennzeichnet: „Die Physik des Aristoteles, der Almagest des Ptolemäus, Newtons Principia und Opticks, Franklins Electricity, Lavoisiers Chimie, Lyells Geology – diese und viele andere Werke dienten indirekt eine Zeitlang dazu, für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebiets zu bestimmen. Sie vermochten dies, da sie zwei wesentliche Eigenschaften gemeinsam hatten. Ihre Leistung war neuartig genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten, und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen. Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von nun an als „Paradigmata“ bezeichnen, ein Ausdruck, der eng mit dem der „normalen Wissenschaft“ zusammenhängt.“

Anomalien und die Krise der normalen Wissenschaft Durch gehäuftes Auftreten von „Anomalien“ entsteht eine Krise der normalen Wissenschaft: Definition: Anomalien sind „Phänomen[e] ..., auf welche[...] das Paradigma den Forscher nicht vorbereitet hatte“ (70). Die Veränderung des wissenschaftlichen Weltbilds beginnt mit der Einsicht, „daß die Natur in irgendeiner Weise die von einem Paradigma erzeugten, die normale Wissenschaft beherrschenden Erwartungen nicht erfüllt hat“ (66). Mit anderen Worten: Anomalien stehen in Widerspruch zu den Vorhersagen der Theorie, sind also mit Mitteln des Paradigmas nicht erklärbar. Anomalien als Auslöser von Krisen: „Da das Auftauchen neuer Theorien eine umfassende Paradigmazerstörung und größere Verschiebungen in den Problemen und Verfahren der normalen Wissenschaft erfordert, geht ihm im allgemeinen eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit voraus. Wie zu erwarten, wird diese Unsicherheit durch das dauernde Unvermögen erzeugt, für die Rätsel der normalen Wissenschaft die erwartete Auflösung zu finden. Das Versagen der vorhandenen Regeln leitet die Suche nach neuen ein.“(80)

Anomalien versus Falsifikationen • Anomalien führen nicht zwangsläufig zur Verwerfung der zugrunde liegenden Theorie. • Anomalien können normalerweise im Rahmen des Paradigmas erklärt oder aufgelöst werden; Anomalien sind „normal“. • Erst eine Häufung von „hartnäckigen“ Anomalien führt zur Krise der normalen Wissenschaft und damit möglicherweise zu einer wissenschaftlichen Revolution. Wie reagieren Wissenschaftler auf das Auftreten von Anomalien? „Einen ebenso offenkundigen wie wichtigen Teil der Antwort können wir finden, indem wie erst einmal festhalten, was Wissenschaftler niemals tun, wenn sie mit Anomalien konfrontiert werden, und seien diese noch so schwerwiegend und lang andauernd. Wenn sie auch beginnen mögen, den Glauben zu verlieren und an Alternativen zu denken, so verwerfen sie doch nicht das Paradigma, das sie in eine Krise hineingeführt hat. Das heißt also, sie behandeln die Anomalien nicht als Gegenbeispiele, obwohl Anomalien im Vokabular der Wissenschaftstheorie genau das sind.“ (90)

Wissenschaftliche Revolutionen (1) Definition: Wissenschaftliche Revolutionen sind Vorgänge, die zu einer mehr oder weniger radikalen Korrektur des wissenschaftlichen Weltbilds führen. Beispiele: • die kopernikanische Revolution (Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild) • Darwins Evolutionslehre • Einsteins Theorie von Raum und Zeit • die Entstehung der Quantenphysik (Indeterminismus und Unschärferelation)

Wissenschaftliche Revolutionen (2) • Bei einer wissenschaftlichen Revolution wird ein etabliertes Paradigma durch eine neue Theorie ersetzt. • Verschiedene Paradigmen sind nach Kuhn „inkommensurabel“, d.h. es gibt keine objektiven Kriterien, die eine Entscheidung für das eine oder andere Paradigma begründen könnten. Begründung: Vertreter unterschiedlicher Paradigmen sprechen verschiedene Sprachen, gehen von unterschiedlichen theoretischen Annahmen und methodologischen Regeln aus: „Wenn Paradigmata in eine Diskussion über die Wahl von Paradigmata eingehen – und sie müssen es ja -, dann ist ihre Rolle notwendigerweise zirkulär. Jede Gruppe verwendet ihr eigenes Paradigma zur Verteidigung eben dieses Paradigmas“ (106). Die zentrale Konsequenz aus dieser Feststellung ist, daß Konflikte zwischen konkurrierenden Theorien „niemals durch Logik und Experiment allein eindeutig entschieden werden“ können (107).

Struktur der Wissenschaftlichen Revolution Vorparadigmatische Phase: Nebeneinanderstehende, lose definierte, miteinander kon-kurrierende Ansätze ohne Dominanz eines einzelnen Paradigmas Paradigmatische Phase: Durchsetzung eines Ansatzes, Ausgrenzung konkurrierender Ansätze, herrschendes Paradigma wird Bezugsrahmen für Forschung eines Fachs, normgebend, Phase kumulativer normalwissenschaftlicher Forschung Kritische Phase: Erschöpfung des dominierenden Paradigmas, Häufung von Fehl-schlägen und Anomalien lassen Zweifel an Erklärungskraft des Paradigma entstehen Revolutionäre Phase: Breiter Aufstand gegen herrschendes Paradigma, Suchen neuer Wege, Widerstand der Vertreter des alten Paradigmas Neue Paradigmatische Phase: Weder Verifikation noch Falsifikation sondern Dimensionssprung Wettstreit der Paradigmata wird nicht durch Beweise entschieden sondern mittels Durchsetzungskraft.

Kuhn – Wissenschaftliche Revolutionen KRISE DER NORMALEN WISSENSCHAFT HÄUFUNG VON ANOMALIEN „NORMALE WISSENSCHAFT“ ENTSTEHUNG EINES NEUEN PARADIGMAS VORPARADIGMATISCHE PHASE Quelle: Lauth/Sareiter: Wissenschaftliche Erkenntnis, Paderborn 2002, S. 123

Probleme von Kuhns Modell Bei der Beurteilung von Kuhns Theorien ist zu unterscheiden zwischen wissenschaftshistorischen Fakten und wissenschaftstheoretischen Schlussfolgerungen. Das Hauptproblem: • Der Wandel des wissenschaftlichen Weltbilds ist nach Kuhn nicht durch rationale Gründe zu erklären. Es gibt keinen Erkenntnis-fortschritt, nur eine neue Sicht der Dinge. • Die Wissenschaftstheorie (Poppers Logik der Forschung) müsste nach Kuhn durch wissenschaftshistorische und –soziologische Betrachtungen ersetzt werden. • Kuhns Theorie läßt wichtige Fragen offen (siehe nächste Folie)

Offene Fragen „Insbesondere liefert Kuhn keine plausible oder befriedigende Erklärung für die Verdrängung eines etablierten Paradigmas und den „Sieg“ des neuen Paradigmas über seinen Vorgänger. Nach Kuhns Auffassung ist der Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Paradigmen „niemals durch Logik und Experiment alleine“ zu entscheiden. Das würde jedoch bedeuten, daß der Theorienwandel in der Wissenschaft nicht durch rationale Gründe zu erklären ist, sondern nur durch Rekurs auf wissenschaftshistorische oder -soziologische Phänomene. Aber was könnten dann die Ursachen dafür sein, daß ein einmal etabliertes Paradigma durch eine neue Theorie vollständig verdrängt und ersetzt werden kann? Kuhns Hinweis darauf, daß die Vertreter des alten Paradigmas im Lauf der Zeit einfach „aussterben“, ist sicherlich zu einfach: Warum gelingt es den Anhängern des alten Paradigmas nicht, neue Anhänger unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs zu rekrutieren? Warum sollte nicht die Entstehung von neuen Theorien im Lauf der Zeit zu einer Pluralität von konkurrierenden Paradigmen oder Theorien führen, von denen jede eine gewisse Anzahl von „Anhängern“ um sich scharen kann? Warum sind heute praktisch alle Physiker davon überzeugt, daß Einsteins Relativitäts-theorie eine bessere Beschreibung und Erklärung der physikalischen Phänomene liefert als die Newtonsche Mechanik? Warum glaubt heute niemand mehr an das geozentrische Weltbild eines Aristoteles oder Kopernikus? Warum hat Darwins Evolutionstheorie alle biologischen Theorien, die von einer Konstanz der Arten ausgehen, erfolgreich verdrängen können ...?“ (B. Lauth / J. Sareiter: Wissenschaftliche Erkenntnis, S. 135)

Literaturtipp Bernhard Lauth, J. Sareiter: Wissenschaft-liche Erkenntnis. Eine ideengeschichtliche Einführung in die Wissenschaftstheorie. Paderborn: Mentis-Verlag 2002

Methodische Folgerungen: Kuhn versus Popper „Wenn eine wissenschaftliche Theorie einmal den Status eines Paradigmas erlangt hat, wird sie nur dann für ungültig erklärt, wenn ein anderer Kandidat vorhanden ist, der ihren Platz einnehmen kann. Kein bisher durch das Studium der wissenschaftlichen Entwicklung aufgedeckter Prozeß hat irgendeine Ähnlichkeit mit der methodologischen Schablone der Falsifikation durch unmittelbaren Vergleich mit der Natur.“ (90) „Zweifellos ist die der Falsifikation zugesprochene Rolle derjenigen sehr ähnlich, welche dieser Essay den anomalen Erfahrungen beimißt, also jenen Erfahrungen, die eine Krise hervorrufen und dadurch den Weg für eine neue Theorie bereiten. Trotzdem dürfen anomale Erfahrungen nicht mit falsifizierenden gleichgestellt werden. Ich glaube sogar, daß es letztere überhaupt nicht gibt.“ (157) Eine Gegenposition hat Imre Lakatos vertreten. In seinem Essay über die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme zeigt Lakatos, dass die von Kuhn diagnostizierten Phänomene auch im Rahmen der falsifikationistischen Methodik erklärbar sind;

Kritik am Popper‘schen und am Kuhn‘schen Modell: Imre Lakatos Imre Lakatos (1922-1974) kritisierte einmal das Poppersche Falsifizierungspostulat: Wissen-schaftler neigen eher dazu, ihre Theorien zu verteidigen als sie zu widerlegen. Lakatos hielt aber auch Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen für irreal und verstand Wissenschaft als ein Nebeneinander konkurrierender Forschungsprogramme

Ein alternatives Modell des wissenschaftlichen Fortschritts ? In „Kritik und Erkenntnisfortschritt“ entwickelt Imre Lakatos ein Alternativmodell des wissenschaftlichen Fortschritts. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen „Theoriekern“ und „Zusatzhypothesen“: • Die meisten wissenschaftlichen Theorien führen erst in Verbindung mit geeigneten Zusatzhypothesen zu empirisch nachprüfbaren Vorhersagen. • Widersprüche zwischen Theorie und Experiment führen daher nicht zwangsläufig zur Verwerfung der Theorie, sondern können auch durch Korrektur der Zusatzhyothesen aufgelöst werden.

Ein modifiziertes Modell der empirischen Überprüfung von wissenschaftlichen Theorien: Wissenschaftliche Theorien („Paradigmen“) Zusatzhypothesen plus Empirisch nachprüfbare Vorhersagen Vergleich mit Beobachtung, Messung, Experiment Keine signifikanten Abweichungen Signifikante Abweichungen („Anomalien“) Vorläufige Bestätigung der Theorie Revision der Theorie Revision der Zusatzhypothesen Quelle: Lauth: III. Teil: Wissenschaftlicher Fortschritt und der Wandel des wissenschaftlichen Weltbilds, http://www.philosophie.lmu.de/mitarbeiter/lauth/Teil3.pdf Wissenschaftliche Revolution

Erkenntnisfortschritt Eine neue Theorie T´, die ein etabliertes Paradigma T verdrängen soll, muss nach Lakatos zwei Bedingungen erfüllen: • Die neue Theorie muss die Erfolge des alten Paradigmas erklären, d.h: Dort, wo die alte Theorie zu korrekten Vorhersagen führt, muss T´ dieselben Vorhersagen machen. • Die neue Theorie muss die Misserfolge des alten Paradigmas erklären, d.h: Dort, wo die neue Theorie zu abweichenden Vorhersagen führt, bestätigen Beobachtungen und Messungen die abweichenden Vorhersagen.

Literaturtipp Zur ersten Übersicht: V.Steenblock: Imre Lakatos, in: J.Nida-Rümelin (Hrsg.): Philosophie der Gegenwartin Einzeldarstellungen… 2.Aufl.Stuttgart: Kröner 1999, S. 400ff Auch zu Kuhn, Feyerabend usw.: Werner Diederich (Hrsg.): Theorien der Wissenschafts-geschichte. Beiträge zur diachronen Wissenschafts- theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974

Literaturtipp

Thanx for your attention….