Wie aus der UN-Konvention (und einem Fachkonzept) unkonventionelles Handeln wird Prof. Dr. Gudrun Cyprian Ulm, 26.10.2017
Veränderungsprozesse in der Eingliederungshilfe I. Paradigmenwechsel zu Inklusion aufgrund der Behindertenrechtskonvention der UN
Ausgangslage I: die UN-Behindertenrechtskonvention Inklusion beinhaltet : unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Artikel 19) Arbeit und Beschäftigung (Artikel 27) Einen angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz (Art. 28) Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport (Art. 30).
Folgen der UNO-Behindertenrechtskonvention Das Recht auf Teilhabe von Menschen mit Behinderung ist ein zentrales Menschenrecht und nicht nur eine Frage des sozialen Wohlergehens Keine Behindertenpolitik der Fürsorge und des Ausgleichs gedachter Defizite mehr
Deshalb das Leitbild der Inklusion: allen Menschen ist von vornherein die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang zu ermöglichen.
Das Leitbild der Inklusion Alle gesellschaftlichen Bereiche müssen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten sein oder geöffnet werden. Es ist nicht Aufgabe des Menschen mit Behinderungen sich anzupassen, um seine Rechte wahrzunehmen
Ausgangslage II: Die Reform der Eingliederungshilfe nach der ASMK „Die Eingliederungshilfe wird von einer überwiegend einrichtungszentrierten zu einer personenzentrierten Hilfe. Es ist ein Verfahren zu etablieren, das den Menschen mit Behinderung in seiner Situation ganzheitlich erfasst, ihn aktiv einbezieht und sein Wunsch- und Wahlrecht beachtet.“ ASMK = Konferenz der Minister für Arbeit & Soziales der Länder
Eckpunkte der ASMK „Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und Neugestaltung von Übergängen“ und „Die Neuausrichtung der Eingliederungshilfe muss durch den Aus- und Aufbau sozialräumlicher Unterstützungsstrukturen begleitet werden“
Ausgangslage III: Der wachsende Unterstützungsbedarf in unserer Gesellschaft: In wenigen Jahren wird jeder zehnte Bürger behindert ein Viertel der Bevölkerung alt sein die Zahl der psychischen Erkrankungen deutlich zugenommen haben
Folge: Zukunftsvisionen Assistenzbedarf wird zum biografischen und gesellschaftlichen Normalfall
Soweit die Legitimation und wie werden nun daraus beruflich sinnvolle und wirkungsvolle Umsetzungen?
durch unkonventionelles Handeln auf der Basis des sozialwissenschaftlichen Konzepts der Sozialraumorientierung
Sozialraumorientierung als Rahmenkonzept für neue Wege Weil ein Stärkenblick verfolgt wird anstatt eines Defizitansatzes Weil Maßanzüge statt Standardlösungen gesucht werden Weil mit dem sozialen Umfeld des Klienten gearbeitet wird Weil Arbeit mit sozialem Kapital die entscheidende Rolle spielt Weil „fallunspezifische Arbeit“ = „Gelegenheiten nutzen“ neben die methodisch geplante fallspezifische Arbeit tritt
Das Beispiel: Integra mensch – Bamberg bewegt
Einzelne, auf Dauer angelegte externe, gemeindenahe Außenarbeitsplätze für Menschen mit geistigen Behinderungen, mit keinen oder nur geringen Chancen auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, z.Zt. 140 gemeindenahe Außenarbeitsplätze Träger: Lebenshilfe Bamberg
Konzeptioneller Ansatz von integra „Sozialraumorientierte Arbeit bedeutet Lebens- und Betriebsräume zu gestalten: Wir versuchen zu verstehen, wie unsere Mitarbeiter vor Ort eingebunden sind, wo Verwandte und Freunde arbeiten und welche Betriebe es in der Gemeinde gibt, in der sie leben. Gleichzeitig fragen wir uns, wie ein Arbeitsplatz aussehen sollte, damit die Fähigkeiten des jeweiligen Mitarbeiters zur Geltung kommen können.“
Konzentration auf die Ressourcen: Grundsätze Konzentration auf die Ressourcen: „Wir sind der Ansicht, dass es notwendig ist, den Ressourcenpotentialen der Mitarbeiter mehr Beachtung zu schenken. Jeder von uns hat Fähigkeiten, Stärken und Interessen. Dies bildet den Ausgangspunkt für die Suche und die Gestaltung eines Arbeitsplatzes.“
Grundsätze von integra Maßanzüge statt Standardlösungen „schneidern“ Die Interessen und den Willen der Menschen mit ihrem individuellen Unterstützerteam herausfinden, ihre Kompetenzen und Stärken benennen .
Maßanzüge statt Standardlösungen Suche nach geeigneten Arbeitgebern/Unternehmen im angestrebten Arbeitsfeld und in der gewünschten Region Organisation und Betreuung eines Praktikums im ausgewählten Betrieb Aufspüren von in Frage kommenden Arbeitsaufgaben Konstruktion eines neuen Arbeitsplatzes, der zum Adressaten passt
Neu geschaffene Arbeitsplätze
Rechtliche Form Abschluss eines Patenschaftsvertrages zwischen dem Betrieb und der WfMB Der Mensch mit Behinderungen bleibt rechtlich Mitarbeiter einer WfMB (zu seiner sozial-materiellen Absicherung) – nur ist diese Betriebsstätte eine „virtuelle“. Mit dem Betrieb wird kein Arbeitsvertrag, sondern ein Patenschaftsvertrag mit dem Träger der WfMB abgeschlossen. Die darin vereinbarten Regelungen sollen den Arbeitgeber entlasten.
Aufgaben der Integrationsbegleiter von integra Einsetzen eines Paten/einer Patin im direkten Arbeitsumfeld Klären von Bedingungen wie Weg zum Arbeitsplatz, Wohnung Fortlaufende Unterstützung durch den Integrationsbegleiter im notwendigen, flexiblen Ausmaß Weitere Maßnahmen zur Inklusion am Ort (z.B. in Vereine, Gruppen, Freizeiteinrichtungen, Weiterbildung )
Sozialraumorientierung auf der Organisationsebene von integra Sozialraumorientierung als Ziel der Leitung und Schlüsselbedeutung im Leitbild der Einrichtung Sozialräume, z.B. Stadtteile und kleinere Gemeinden im Landkreis als Strukturprinzip der Arbeitsteilung Der Sozialraum ist Ausgangspunkt jedes Such- und Entscheidungsprozesses
Sozialraumorientierung auf der Organisationsebene Die Integrationsbegleiter (z.Zt. 20 Stellen) Jeweils vier Integrationsbegleiter arbeiten in einem (geografischen) Team Die Arbeitszeit kann flexibel gestaltet und verwendet werden Die Integrationsbegleiter repräsentieren Integra nach außen und werden bei ihren Absprachen vor Ort und dem Arrangement von Netzwerken fachlich abgesichert (flache Hierarchie)
Sozialraumorientierung auf der Organisationsebene Dreifache Anbindung jedes Integrationsbegleiters: - ein bestimmter Sozialraum (Stadtteil, Landgemeinden) - Verantwortung für einen Mitarbeiter in den Patenbetrieben - Branchenverantwortung (für einzelne branchenspezifische Netzwerke)
Grundsätze für die Arbeit von integra Inklusion braucht das unmittelbare Engagement der Bevölkerung und aller Organisationen in den zentralen Lebensbereichen Die Verantwortung für Menschen mit Handicaps wird an das Gemeinwesen und seine Akteure zurückgegeben (z.B. Bürgermeister, Ämter, Unternehmer, alle Einrichtungen, Einwohner) Menschen mit Handicaps muten sich den anderen bewusst zu
Den Sozialraum nutzen An Stelle von Maßnahmen treten soziale Beziehungen
Das Beziehungsmodell von Integra mensch Intensive Arbeit mit dem sozialen Umfeld des einzelnen Adressaten (Heimspiele, Ressourcen-Check, Beziehungen des sozialen Umfelds zu möglichen Arbeitgebern, mit dem Adressaten lokale Erkundungsgänge im Wohnumfeld usw.) Bei der Suche nach passenden Arbeitgebern Einschalten von Bürgermeistern/Stadträten, vertrauten anderen lokalen Arbeitgebern usw. Evtl. Einschalten von Brückenpersonen aus dem Integra-Unterstützerkreis und aus dem lokalen Wirtschaftsmilieu
Den Sozialraum nutzen Das jeweilige soziale Umfeld wird als Brücke zu anderen Systemen genutzt
Das Beziehungsmodell von Integra mensch Professionelle Integrationsbegleiter (angestellt bei Integra) als Brücke zwischen Integra, dem Mitarbeiter mit Handicap, dem Betrieb, dem Betriebsleiter, den Kollegen des Mitarbeiters vor Ort Installieren eines „Paten“ aus dem Kollegenkreis am neuen Arbeitsplatz als Ansprechpartner und Unterstützer für den Mitarbeiter mit Handicap
Das Beziehungsmodell von Integra Aufbau einer Gruppe von „Patenschaftsbetrieben“, die auf das lokale Wirtschaftsmilieu Einfluss nimmt Sammeln von Unterstützern aus lokalen Entscheidern und Meinungsführern (z.B. für jede Gemeinde), gewonnen durch fallunspezifische Arbeit
Den Sozialraum nutzen An Stelle von Moral als „Währung“ tritt das commitment gegenüber einem gemeinsamen lokalen Projekt
Den Sozialraum nutzen Teilweise müssen solche sozialen Umwelten auch erst „konstruiert“ und zusammengeführt werden
Aufbau eines offiziellen Unterstützerkreises („Beirat“) für integra aus den Spitzen von Politik (Stadt und Landkreis), Kirche, Finanzbranche, Medien, Sport, Universität usw. Funktionen: Vorschläge zur Weiterentwicklung von integra, Einsatz und Mobilisierung von Ressourcen, auch Unterstützung vor Ort im Einzelfall Aufbau eines offiziellen Unterstützerkreises („Beirat“) für integra
Den Sozialraum nutzen Integra organisiert die Prozesse und überlässt die „Vorderbühne“ den lokalen Akteuren
Inklusion und die Profis Inklusion wird zwar von Professionellen angeschoben und gesteuert, aber inkludieren kann nie die Sondereinrichtung, sondern können allein die „normalen“ Bürger, Netzwerke, Organisationen und Systeme, deshalb: Möglichst viele Schritte von Nicht-Profis machen lassen
Im Sozialraum steckt soziales Kapital Soziales Kapital zeigt sich als Vertrauen, als soziale Kreditbeziehung, die gegenseitige Verpflichtungen schafft Lässt sich in ökonomisches Kapital tauschen
Soziales Kapital aufbauen und pflegen
„Bridging“ : Das neue Aufgabenprofil der Mitarbeiter Die Handlungsmaximen: Kontakte zu Bürgern und Organisationen sind zentrale Aufgabe der Fachkraft Unbekannte Menschen ansprechen als fachliche Methode Unsicherheit aushalten, Potenziale statt Sicherheiten schaffen Mut haben zu Alternativen Erfindungsreichtum und Nichtwissen als Produktivkraft nutzen
Umdenken bei der Größenordnung des Sozialraums: einerseits kleinräumig vorgehen Der kleinräumigere Sozialraum weckt mehr Pflichtgefühl und Verantwortung ist technisch einfacher zu organisieren handelt selbstbestimmter und erlaubt dem Menschen mit Behinderung mehr Einfluss
Netzwerke von Integra MENSCH Austauschbeziehungen mit zahlreichen Einrichtungen und Organisationen vor Ort (z.B. Berufsschule, Jugendtreffs, Vereinen, Sportclubs, Gymnasien, Jugendorganisationen, Volkshochschulen, Fahrschulen, Feuerwehr…)
Gleichzeitig eine gemeinsame lokale Bewegung von Stadt, Landkreis, Erzbistum
Die lokale Bewegung Der doppelte Bezug im Namen „integra mensch - Bamberg bewegt“ Der große persönliche Einsatz von OB, Landrat, Bürgermeistern der Gemeinden, des Erzbischofs, der Unternehmer, Handwerksmeister, der IHK usw. für inklusive Arbeitsplätze in ihren Bereichen
Der Rathauslotse im Rathaus Geyerswörth mit seiner Patin
Kliniklotse im Bamberger Klinikum
„Bamberg bewegt“ z.B. mit einer Plakatkampagne zum „Seitenwechsel“ mit Bamberger Prominenten unter dem Schlagwort „Inklusion ist Chefsache“
Plakataktion in Bamberg: Seitenwechsel
Bamberg bewegt, z.B. mit gesponserten „Image-Filmen“ und „Rap-Videos“ zu integra, die dann bei Großveranstaltungen als inhaltlich und formal passende Pausenfüller auf Leinwänden gezeigt werden
Bamberg bewegt
Bamberg bewegt Mit einer neuen Plakataktion mit den „Brose Baskets“ Thema: Inklusion ist Teamarbeit
Bamberg bewegt: Entwicklung von Zertifizierungslehrgängen Ein neues Ziel von integra: Eine berufliche Qualifizierung der INTEGRA-Beschäftigten mit dem Zertifikat der Industrie- und Handwerkskammer Bisher: Assistent im Gastgewerbe (IHK) Assistent im Seniorenheim Assistent für Fahrzeuginnenreinigung (IHK)
Zertifizierungslehrgänge In Vorbereitung: Gehilfe im Baugewerbe (HWK) Assistent in Kindertageseinrichtungen (Partner: Fachakademie für Sozialpädagogik) Diese Ausbildung entspricht dem Deutschen Qualifizierungsrahmen Stufe 2, fußt auf Ausbildungsrahmenplänen der IHK, ist theoriereduziert und in einfache Sprache übersetzt, entstehen in intensiver Koproduktion mit der IHK Oberfranken. Die AbsolventInnen legen vor einem IHK-Gremium eine Prüfung ab und erhalten ein Abschlusszertifikat. Es sollen rund 25 Lehrgänge für sämtliche INTEGRA-Berufsfelder entstehen.
Die Freisprechungsfeier in Bamberg, mit MitarbeiterInnen von integra
Haltegriffe für die professionellen Mitarbeiter Was hilft auf der Reise in eine neue Ausrichtung? Handlungsprinzipien und Methoden sind verfügbar Die eigenen Ressourcen der professionellen Mitarbeiter können genutzt werden, das stiftet Zufriedenheit Gegengewichte im Arbeitsalltag (Job enrichment) Team als Scharnier und als wechselseitige Unterstützung Eine optimistische Philosophie gegenüber dem Gemeinwesen Bestätigung durch die Adressaten
Danke für Ihre Geduld!