Alkoholabhängigkeit im Kontext von Arbeitslosigkeit Zur Bedeutung der Arbeitslosigkeit in suchtepidemiologischer Hinsicht und in der Suchtbehandlung Prof.

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 Präsentation transkript:

Alkoholabhängigkeit im Kontext von Arbeitslosigkeit Zur Bedeutung der Arbeitslosigkeit in suchtepidemiologischer Hinsicht und in der Suchtbehandlung Prof. Dr. Dieter Henkel Institut für Suchtforschung (ISFF) der Fachhochschule Frankfurt am Main / University of Applied Sciences email: prof.dieter.henkel@t-online.de Berlin 26.6.2012

Epidemiologische und therapiebezogene Forschung Seit über 20 Jahren, national und international, mit zunehmender Intensität und methodischer Qualität (Review Henkel 2011) Daraus 7 zentrale Befunde

Epidemiologie 1. Befund Unter Arbeitslosen sind Alkohol- und andere Suchtprobleme häufiger verbreitet als unter Erwerbstätigen

Prävalenzraten (Häufigkeitsraten) % aus bevölkerungsweiten epidemiologischen Erhebungen in Deutschland Datenquelle Alter Merkmal Männer Frauen A% E% Jacobi et al. 2004 25-59 Alkohol- oder Drogenabhängigkeit (DSM IV) M+F 6.3 4.7 Rose, Jacobi 2006 Alkoholmissrauch oder Alkoholabhängigkeit (DSM IV) M F 8.9 1.8 6.7 1.5 Orth & Töppich 2012, BZgA 2010 18-25 Riskanter Alkoholkonsum täglich + mindestens 1-mal Binge Drinking (Rauschtrinken) in den letzten 30 Tagen 22.4 1.4 15.4 Freyer-Adam et al. 2011 18-64 Riskanter Alkoholkonsum täglich 32.1 16.5 - BZgA 2010 12-25 Regelmäßiger Cannabiskonsum 2.1 Henkel 2000 Regelmäßiger Konsum psychoaktiver Medikamente (>2-mal/Woche) 10.9 4.8 10.3 BZgA 2009 16-65 Pathologisches Glücksspielen (SOGS) 2.4 0.9 BZgA 2008 Tabakrauchen 60.0 37.0

erhöhte Prävalenz der Arbeitslosen Hauptgründe für erhöhte Suchtprävalenzen der Arbeitslosen Selektive Effekte a) Suchtprobleme erhöhen das Risiko, arbeitslos zu werden b) Arbeitslose stammen häufiger als Erwerbstätige aus den unteren Bildungs- und Qualifikationsschichten, die (schon unabhängig von Arbeitslosigkeit) erhöhte Suchtprävalenzen aufweisen Kausale Effekte Arbeitslosigkeit begünstigt die Entwicklung von Suchtproblemen Beide Haupteffekte nachgewiesen Forschungsreview Henkel 2011 selektive Effekte erhöhte Prävalenz der Arbeitslosen kausale Effekte

Epidemiologische Daten machen klar Für Arbeitslose besteht ein in Relation zu den Erwerbstätigen erhöhter Bedarf an suchtspezifischer Prävention und Behandlung aber sehr pauschale Aussage, es gibt nicht „die“ Arbeitslosen als homogene Gruppe, sind heterogen nach Geschlecht, Alter, Qualifikation, Dauer der Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund, regionalem Arbeitsmarkt usw. Zudem Zweiteilung „Arbeitslose vs. Erwerbstätige“ ist antiquiert, aus Sicht von Arbeitszeit und Arbeitslohn bestehen heutzutage von den Arbeitslosen hin zu den Erwerbstätigen fast fließende Übergänge: Vollzeit-, Teilzeit-, geringfügig Beschäftigte bis hin zu den working poor („Hartz IV-Aufstocker“) Diese Differenziertheit muss die Forschung wesentlich stärker als bisher berücksichtigen

2. Befund: Arbeitslosigkeit ist ein Risikofaktor für die Herausbildung bzw. Verschlimmerung von Alkohol- und anderen Suchtproblemen

34 Längsschnittstudien, 20 davon erfüllen methodisch notwendige Standards, weisen alle kausale Effekte der Arbeitslosigkeit nach: Zunahmen von riskantem Konsum bis hin zu Symptomen der Abhängigkeit Autoren Land Effekte nachgewiesen bei Alter Dooley et al. 1992 USA Alkohol Jugendliche Catalano et al. 1993 Janlert, Hammarström 1992 Schweden Dooley et al. 1997, 2004 Fergusson et al. 1997 New Zealand Alkohol, Tabak, Drogen Montgomery et al. 1998 Alkohol, Tabak Gallo et al. 2001 Fergusson et al. 2001 Alkohol, Drogen Eliason & Storrie 2009 Mossakowski et al. 2008 Bolton & Rodriguez 2009 Deb et al. 2010 Hospitalisierung wg. Alkohol Hammer 1992 Norwegen Cannabis Green et al. 2010 Drogen Hammarström & Janlert 1994 Tabak Merline et al. 2004 Tabak, Drogen. Medikamente Falba et al. 2005 Kuhn et al. 2009 Österreich Psych. Medikamente Marcus 2012 Deutschland

Plausibel werden die kausalen Effekte vor dem Hintergrund der gut dokumentierten psychosozialen Folgen von länger anhaltender Arbeitslosigkeit Minderung des Selbstwertgefühls Depressivität reduzierte soziale Wertschätzung Verlust sozialer Kontakte und Unterstützung Verlust der Lebensperspektive, Zukunftsängste Abnahme der Lebenszufriedenheit Zunahme familiärer Konflikte finanzieller Stress Zerfall von Zeitstrukturen, Monotoniestress erschwerte Bewältigung jugendtypischer Entwicklungsaufgaben infolge der verlängerten Abhängigkeit von den Eltern, z.B. Erwachsenwerden, Gewinnung von Autonomie und Festigung der Identität

Aber: weit überwiegend Konstanz im Konsumverhalten Die allermeisten Arbeitslosen verändern ihren Alkoholkonsum (und auch ihren Tabakkonsum) nicht, jedenfalls nicht wesentlich, auch nicht im Zuge länger anhaltender Arbeitslosigkeit

Bislang zeichnen sich lediglich 3 grobe Risikogruppen ab: • männliche in Relation zu weiblichen Jugendlichen und Erwachsenen • Langzeitarbeitslose in Relation zu Kurzzeitarbeitslosen und • Kinder und Jugendliche arbeitsloser Eltern Konstellation: „Opfer durch Nähe“, wenn sich negative Effekte der Arbeitslosigkeit im engeren sozialen Umfeld (Familie, Partnerschaft) auf Personen übertragen, die selbst nicht von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Forschung zeigt deutlich, dass Kinder und Jugendliche aus Arbeitslosenfamilien u.a. ein geringeres Selbstwertgefühl haben, häufiger unter depressiven Verstimmungen leiden, schlechtere Schulleistungen zeigen und stressanfälliger sind (Kieselbach, Beelmann 2006). Solche Probleme können zum Konsum psychoaktiver Substanzen motivieren.

3. Befund zum epidemiologischen Zusammenhang zwischen nationaler Arbeitslosenquote und Alkoholkonsum in Bevölkerung Wenn die Arbeitslosigkeit ein Risikofaktor für die Entwicklung von Alkoholproblemen ist, hat sich dann der Alkoholkonsum in der Bevölkerung im Zuge der gestiegenen Massenarbeitslosigkeit seit 1975 erhöht?

Wahrscheinliche differentielle Effekte der Massenarbeitslosigkeit Zunahmen/Abnahmen des Alkoholkonsums Arbeitslose Zunahmen durch negative psychosoziale Folgen der Arbeitslosigkeit Abnahmen infolge der Einkommensminderungen Abnahmen durch Wegfall des arbeitsstress-bedingten Alkoholkonsums Abnahmen durch Rückgänge geselliger Trinkanlässe infolge von arbeitslosigkeitsbedingtem Rückzug in die Privatsphäre Erwerbstätige Zunahmen infolge der Angst vor Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Probleme (Stress, Schlafstörungen u.a.m.) Abnahmen aus Angst vor Arbeitslosigkeit: konsumdisziplinierende Wirkung der Entlassungsangst Abnahmen aufgrund von Reallohn-Rückgängen in Zeiten ökon. Krisen und steigender Arbeitslosigkeit Welcher Per-Saldo-Effekt resultiert daraus?

Rein deskriptiv betrachtet hat der Alkoholkonsum in Deutschland im Zuge der Massenarbeitslosigkeit nicht zu- sondern abgenommen, seit 1980

Alkohol-Pro-Kopf-Konsum (APK) und Arbeitslosenquote (AQ) in Deutschland 1950 bis 2010 BA-Arbeitsmarktstatistik; Jahrbuch Sucht 2012

Rückgang des Pro-Kopf-Konsums seit 1980 = Effekt der Arbeitslosigkeit? lassen die Daten offen, denn der Grund kann auch liegen in Alterung der Bevölkerung Zunahme der Migration nach Deutschland (Alkoholkonsum bei Migranten/innen deutlich geringer als bei Deutschen) gestiegenes Gesundheitsbewusstsein in Teilen der Bevölkerung (Fitnesswelle) Verdrängung des Alkohols durch Mineralwasser und Fruchtsäfte (erheblicher Konsumanstieg seit 1980)

Forschung aus anderen Ländern (USA, Kanada, Schweden, Finland) weist nach Alkoholkonsum in der Bevölkerung variiert systematisch mit der nationalen Arbeitslosenquote und zwar prozyklisch, d.h. nach wirtschaftlicher Rezession und steigender Arbeitslosigkeit nimmt der Alkoholkonsum signifikant ab (und umgekehrt) Prozyklische Variation auch beim Tabakrauchen Ausschlaggebend für prozyklische Variation in Gesamtbevölkerung ist die Konsumvariation in der Gruppe der Erwerbstätigen Fazit: In ökonomisch schlechten Zeiten (ansteigende Arbeitslosigkeit, abnehmende Reallöhne) ist -gesamtgesellschaftlich- nicht mit einer Konsumzunahme zu rechnen, sondern vielmehr mit einer Abnahme des Alkoholkonsums, auch des starken Alkoholkonsums (heavy drinking) und der damit verbundenen Probleme: Alkoholkrankheiten, alkoholbedingte Sterblichkeit, Fahren unter Alkoholeinfluss usw.

Suchttherapie 4. Befund Der Anteil der Arbeitslosen unter den Alkoholabhängigen in Behandlung hat im Zuge der Massenarbeitslosigkeit seit 1975 überproportional stark zugenommen

Arbeitslosenquote (%) der Alkoholabhängigen in stationärer Suchtrehabilitation (DRV) und allgemeine Arbeitslosenquote (%) 1975 bis 2010 Henkel 2008; Jahrbuch Sucht 2011

Die Arbeitslosengeld II-Beziehenden (SGB II Langzeitarbeitslose) sind heute die mit Abstand größte Gruppe unter den Arbeitslosen Arbeitslosenquoten (%) und Fallzahlen der Alkoholpatienten/innen im ambulanten und stationären Bereich der Suchtberatung/Suchtbehandlung nach ALG I und II Deutsche Suchthilfestatistik 2010 Bereich ALG I ALG II ALG I + II Ambulante Einrichtungen % 6.7% 34.5% 41.2% Fallzahl 5.145 26.323 31.468 Stationäre Einrichtungen 11.3% 36.9% 48.2% 2.855 9.317 12.172 gesamt 8.000 35.640 43.640

Gilt für beide Hauptzielbereiche: Mit dem Anstieg der Arbeitslosenquote hat die Effektivität der Suchtbehandlung/Suchtrehabilitation nicht Schritt halten können Gilt für beide Hauptzielbereiche: Risiko mindern im Substanzgebrauch bis hin zur Überwindung der Suchtproblematik i.S. von dauerhafter Abstinenz und Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben von der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit bis hin zur Integration in erwerbstätige Beschäftigung

5. Befund In Relation zur Erwerbstätigkeit reduziert die Arbeitslosigkeit deutlich die Chancen, Alkoholprobleme wieder zu überwinden

Alkoholabhängige: Rückfallquoten (%) der Arbeitslosen und Erwerbstätigen 6 Monate nach stationärer Suchtrehabilitation (ARA-Projekt N=927) Henkel et al. 2004

6. Befund Die Integration in erwerbstätige Beschäftigung möglichst noch während, zumindest aber unmittelbar nach Beendigung der Behandlung (Nahtlosigkeitsprinzip) ist ein starker rückfallprotektiver Faktor, gelingt aber nur bei wenigen

Reintegrationsquote (%) der bei Aufnahme arbeitslosen Suchtkranken am Ende der Behandlung im ambulanten und stationären Bereich nach Arbeitslosengeld I und II und Geschlecht Deutsche Suchthilfestatistik 2010 mittlere Betreuungsdauer ambulant rd. 8 Monate stationär rd. 3 Monate Arbeitslosengruppe/Bereich Reintegrationsquote Männer Frauen ALG I / ambulanter Bereich 17.9 14.9 ALG I / stationärer Bereich 3.4 2.9 ALG II / ambulanter Bereich 5.6 4.2 ALG II / stationärer Bereich 1.5 0.4

Gründe für die niedrige Reintegrationsquote allgemeine Arbeitsmarktlage und häufig gravierende Arbeitsmarkthandicaps der alkoholabhängigen Arbeitslosen: Altersmittel 50 Jahre 70% kein Hauptschulabschluss lange Arbeitslosigkeitszeiten, Brüche in Erwerbsbiografie häufige gesundheitliche Einschränkungen Verschuldung/Überschuldung Demoralisierung („Arbeitssuche aussichtslos“) und häufige, schwere und frühe Rückfälle der Arbeitslosen, die die Reintegrationschancen weiter erheblich reduzieren

7. Befund Hinzu kommen strukturelle/konzeptionelle Defizite in der Kooperation zwischen den Einrichtungen der Suchtberatung/Suchtbehandlung und den Institutionen der Arbeitsintegration nach SGB II und III: Arbeitsagenturen, ARGE/Jobcenter Bedeutsames Problem Denn nach allem, was wir aus Forschung und Praxis wissen: Arbeitslose Suchtkranke benötigen eine zwischen den Institutionen der Suchthilfe und der Arbeitsintegration systematisch vernetzte integrationsorientierte Betreuung als Rückfallprävention und zur Förderung ihrer Teilhabe am Arbeitsleben

Im Grundsatz ermöglicht dies im SGB II der § 16a in Kombination mit § 17 Sinngemäß § 16a: Bei Vorliegen eines Suchtproblems als Vermittlungshemmnis kann eine Suchtberatung als eine weitere soziale Leistung zur Eingliederung ins Erwerbsleben durchgeführt werden, wenn dies zur Erreichung des letztendlichen Ziels des SGB II, die Integration in Existenz sichernde Arbeit, erforderlich ist § 17: Dabei sollen die SGB II-Stellen (ARGE, Jobcenter) mit der lokalen/regionalen Suchthilfe kooperieren Aber wie sieht die Realität aus?

SGB II- bzw. ALG II-Beziehende: Integration in Arbeit eine Integration in Existenz sichernde Beschäftigung gelingt nur in Ausnahmefällen So die Erfahrung von nahezu 90% der Jobcenter Ergebnis einer im Auftrag des BMG durchgeführten Erhebung zur „Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben im Rahmen des SGB II“, an der sich 323 von insgesamt 429 ARGE/Jobcenter beteiligten (Henke, Henkel, Nägele, Pagels Wagner 2009, 2010) Verwundert nicht angesichts des Umsetzungsstands „guter Praxis“

Umsetzungsstand „guter Praxis“ in den SGB II-Stellen/ARGEn/Jobcenter (Auszüge) Henke, Henkel, Nägele et al. 2009, 2010 92% bzw. 89% hatten eine ungünstige Personalrelation im Bereich Betreuung/Vermittlung: Relation lag über dem Richtwert der Bundesagentur für Arbeit von 1:75 bei den U25 bzw. 1:150 bei den Ü25 84% hatten ihre Fachkräfte noch gar nicht oder noch nicht ausreichend suchtspezifisch geschult 45% unterhielten keine geregelte Kooperation mit Einrichtung(en) der Suchthilfe

Vermittlung in und Kooperation mit der Suchtberatung wird viel zu wenig angewendet 8.750 von ARGE/Jobcenter an eine ambulante Suchtberatungsstelle Vermittelte im Jahr 2010 (Deutsche Suchthilfestatistik 2010) Das sind geschätzt höchstens 5% aller suchtbehandlungsbedürftigen SGB II- bzw. ALG II-Beziehenden die allermeisten Suchtkranken bleiben somit unerkannt und erhalten folglich keine suchtspezifische Hilfe durch ihr Jobcenter gemäß § 16/17 SGB II

Abnahme der Vermittlungsquote IFT 2005-2010: Ambulante Beratungs- und Behandlungseinrichtungen, Klienten/innen mit Hauptdiagnose F10-F19, F50, F63 (ohne Einmalkontakte) Jahr SGB II- Klienten (nach Erwerbssituation vor Betreuungsbeginn) durch Jobcenter/ARGE vermittelt % Datenbasis N Einrichtungen 2005 keine Daten 2006 2007 27.410 4.359 15.9 419 2008 41.993 6.415 15.3 616 2009 47.424 6.294 13.3 627 2010 50.372 5.951 11.8 643

Erkennen von Suchtproblemen sehr selektiv und demzufolge auch die Vermittlung in die Suchtberatung Praxis ist stark alkohollastig, demzufolge auch männerlastig In Relation zu Alkoholproblemen werden u.a. Spielsucht und Probleme mit psychoaktiven Medikamenten viel zu selten bis gar nicht erkannt (Henke et al. 2009, 2010), s. auch Suchthilfestatistik 2010: 75% der Vermittelten hatten Alkoholdiagnose, 2.4% Spielsuchtdiagnose Diese Ungleichbehandlung ist auf Dauer nicht akzeptabel Kann reduziert werden durch bessere suchtspezifische Schulung (begrenzt) und Einsatz von (freiwilligen) Screening-Tests (Kurzdiagnostik-Tests z.B. BASIC, CAGE, LAST), bislang kaum angewendet

Vermittlungen in Suchtberatung Nicht nur viel zu wenig, sogar rückläufig und sehr selektiv Zudem mündet die Vermittlung nur bei etwa 50% der Grundsicherungsstellen (ARGEn/Jobcenter) in eine kooperative, mit der Suchtberatungsstelle abgestimmte Fallbearbeitung (Henke et al. 2009, 2010), so dass Synergieeffekte, die die Suchtberatungs-/Suchtbehandlungseffekte und die Integrationschancen erhöhen könnten, in der Hälfte aller Fälle unausgeschöpft bleiben

Kriterien „guter Praxis“ zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben Hoher Konsens in Forschung und Praxis Bekräftigt durch den nationalen Drogen- und Suchtrat im November 2011 in einer guten und differenzierten Stellungnahme Bleibt zu hoffen, dass die Aktuere in diesem Bereich auch entsprechend handeln und die Politik diese Bemühungen hinreichend unterstützt

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Literatur Henkel D (2011) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Literatur Henkel D (2011). Unemployment and substance use: a review of the literature (1990-2010). Current Drug Abuse Reviews, 4, 1: 4-27. Henke J, Henkel D, Nägele B, Pagels, N, Wagner A (2009). Erhebung von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben im Rahmen des SGB II. Forschungsbericht, Bundesministerium für Gesundheit (Kurzfassung in Suchttherapie, 11, 1: 42-50, 2010. Henkel D, Zemlin U (Hrsg).(2008). Arbeitslosigkeit und Sucht. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Frankfurt a.M.: Verlag für angewandte Wissenschaft.

Überproportional hohe Inanspruchnahme auch von Krankenhausleistungen durch Arbeitslose Grobe & Schwatz 2003 (Daten der Gmünder Ersatzkasse) ICD-10 Diagnose F 10 Störungen durch Alkohol Krankenhaustage der Arbeitslosen je 1.000 Versicherte Krankenhaustage der Erwerbstätigen je 1.000 Versicherte Männer 324.6 32.4 Frauen 54.8 10.2

Auch unter den arbeitslosen Patienten/innen der niedergelassenen Ärzte/Ärztinnen sind Suchtprobleme häufig Ergebnisse einer Umfrage bei 250 Haus- und Primärärzten/innen Kruse & Schmidt 2001 Als Hauptproblem der Arbeitslosen sahen x Prozent der befragten Ärzte/innen Krankheit/Störung 47.6% Psychosomatische Erkrankungen 38.4% Depression, Angststörungen 29.2% Substanzabusus (vor allem Alkohol) 17.6% Schlaflosigkeit 10.4% Kardiovaskuläre Erkrankungen 9.6% Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats

Gründe für den Anstieg der Arbeitslosenquote in der Suchtrehabilitation Alkoholabhängige werden überproportional häufig arbeitslos suchtverstärkende Effekte der Langzeitarbeitslosigkeit, die ab 1985 stark zugenommen hat Arbeitslosenquoten sind in jenen Gruppen stark gestiegen, aus denen sich die arbeitslosen Alkoholabhängigen in der Suchtbehandlung häufig rekrutieren: Ältere, gering Qualifizierte, gesundheitlich Eingeschränkte Arbeitslose unterliegen einem stärkeren familiären bzw. Partnerschaftsdruck als Erwerbstätige, in Behandlung zu gehen, aufgrund ihrer Zurückgezogenheit in die Privatsphäre, wodurch familiäre suchtverursachte Konflikte leichter und heftiger eskalieren Kumulationseffekte durch häufige Behandlungswiederholung in der Gruppe der Arbeitslosen (Arbeitslose: 42% Behandlungswiederholer, Erwerbstätige 22% (Henkel et al. 2004), nur bezogen auf Erstbehandelte läge die Arbeitslosenquote in der Suchtrehabilitation etwa um ein Drittel niedriger

Beispiel einer Längsschnittstudie zum Nachweis kausaler Effekte der Arbeitslosigkeit Catalano et al. 1993 (USA) Basis war eine repräsentative Stichprobe von Erwerbstätigen (N=3.987), die keine alkoholbezogenen Störungen (DSM-III) zu Beginn der Untersuchung hatten (1. Messzeitpunkt) 12 Monate später (2. Messzeitpunkt) war die Inzidenz alkoholbezogener Störungen bei den arbeitslos Gewordenen um das 6-Fache höher als bei den erwerbstätig Gebliebenen. Diese Differenz zeigte sich nach Kontrolle von zahlreichen Unterschieden zwischen den Vergleichsgruppen im Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Status, Familienstand usw., so dass ein relativ eigenständiger Effekt der Arbeitslosigkeit auf die Entwicklung der Suchtprobleme nachgewiesen werden konnte.