Pflichtvorlesung im Öffentlichen Recht

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
„Rom II“ als Beispiel für Fragestellungen im Verhältnis IP/IPR/IZPR
Advertisements

Europäische Union, Europarecht:
Gesetzgebung.
Prof. Dr. Justus Meyer, Juristenfakultät
Einführung in das Öffentliche Recht für Nichtjuristen
Verhältnis von Mitgliedstaaten, Regionen und EU
Wettbewerbspolitik in der EU
Beihilfeverfahren.
Referent: Prof. Dr. Martin Häublein Universität Innsbruck
Grenzausgleich bei Ressourcensteuern: Europarechtliche Aspekte
Friedrich-Schiller-Universität Jena SS 2010
Friedrich-Schiller-Universität Jena SS 2010
Das Subsidiaritätsprinzip Grundlage der Kommunalen Selbstbestimmung & der gesetzlichen Vorrangstellung der freien Wohlfahrtspflege Erstellt von der.
Der Vertrag von Lissabon
Primärrechtliche Grundlagen
#Selbstregulierung Dr. Carlo Piltz, 2013.
und die soziale Sicherheit
ao. Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer
Der Staat als Unternehmer (3) Öffentliche Unternehmen und EG- Wettbewerbsrecht SS 2009 Kurt Reindl Kurt Reindl, Der Staat als Unternehmer, SS 2009,
Warum haben Kinder Rechte?
Betriebsbeschränkungs-Richtlinie
Wirtschaftsverwaltungsrecht
Pflichtübung aus Europarecht 9. Mai 2013
Haftung eines MS für die Verletzung von Unionsrecht
Beihilfen I. Rechtsgrundlage II. Inhalt III. Verfahren und Überwachung
Europarecht Materielles Recht
„IST DIE GAP-REFORM RECHTSKONFORM?“
Falsch stehender Grenzstein
Neue Gestaltung der ungarischen Verwaltungsgerichtsbarkeit oder Neuregelung des ungarischen Verwaltungsgerichtsverfahrens? Dr. Péter Darák Oberstes Gericht,
Gerichtliche Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen Verordung (EG) Nr. 1206/2001 vom 28. Mai 2001 und Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 vom 13.November.
RA Dr. Andreas Weitbrecht, LL. M
RA Dr. Andreas Weitbrecht - Deutsches und Europäisches Kartellrecht - Universität Trier, SS Sanktionen und Verfahren Sanktionen Verwaltungsrecht.
Dr. Günter Tews Ehescheidung mit Bezug zur Europäischen Union.

UE Vorbereitung auf die FÜM I - Europarechtlicher Teil
Pflichtübung aus Europarecht 16. April 2014
Pflichtübung aus Europarecht 26. März 2014
Pflichtübung aus Europarecht 2. April 2014 Dr. Marie-Therese Richter, BA LL.M.
2. FALL Mag. Marie-Therese Richter. 2 Sachverhalt EU 200 Mio Euro.
Mag. Marie-Therese Richter
SEVESO-II-RL und Störfall-Verordnung
2. Teil: Europäisches Kartellrecht C Kartellverfahrensrecht § 11 Wesentliche Regelungen des Kartellverfahrensrechts der VO 1/2003 im Überblick I. Die Zuständigkeit.
Grundlegende Vorschriften des AEUV mit Wettbewerbsbezug
Völker- und europarechtliche Wirkungen der UN- Behindertenkonvention – am Beispiel des Behindertenbegriffs Univ.-Prof. Dr. Werner Schroeder, LL.M.
Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht
Rechtsordnung und Rechtsschutz
§ 10 VO 1/2003 als Grundlage des EU-Kartellverfahrensrechts 2. Teil: Europäisches Kartellrecht C Kartellverfahrensrecht I. Die VO 1/2003 als neues Kartellverfahrensrecht.
Art. 81 und 82 EG: Sanktionen, Verfahren, Rechtsmittel - Überblick -
4.Fusionskontrolle - Überblick RA Dr. Andreas Weitbrecht - Deutsches und Europäisches Kartellrecht - Universität Trier, SS Rechtsquellen EU-Recht.
RA Dr. Andreas Weitbrecht, LL.M. - Kartellrecht - Universität Trier, WS 2009/ _1.ppt 5. Sanktionen und Verfahren SanktionenVerwaltungsrecht Ordnungswidrigkeitenrecht.
Grobschema zur Rechtmäßigkeit des VA
Deutsches Kartellrecht
Pflichtübung aus Europarecht 3. Einheit Dienstleistungsfreiheit
Pflichtübung aus Europarecht 17. Dezember 2014 Dr. Marie-Therese Richter, BA LL.M.
1 Prof. Dr. Justus Meyer, Juristenfakultät Wettbewerbsrecht Recht gegen unlauteren Wettbewerb III. Die wichtigsten Vorgaben des EU-Rechts.
Die Grundrechtecharta in der Rechtsprechung des EuGH Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze Seit : Charta der Grundrechte der Europäischen.
Dr. Marie-Therese Richter, BA, LL.M.
2. Teil: Europäisches Kartellrecht
Pflichtübung aus Europarecht 13. Mai 2015
Ρ. ri x ecker.recht Ein eigenwilliges Künstlerhaus Was ist die genaue Fragestellung? (1.) Ist die Versagung der Baugenehmigung (Wofür?: Antrag des K auf.
Wirksamkeitsprinzip Gesetzgeber bei Umsetzung von Richtlinien und Ergänzung von Verordnungen Umsetzungsmethodik Einräumung subjektiver Rechte Verfahren.
Gerichtshof der Europäischen Union
Genehmigungswettbewerb Eine aktuelle Analyse
Europarecht und IPR Teil Europarecht
Boos Hummel & Wegerich Rechtsanwälte Zimmerstraße Berlin Tel.: Fax: Stromkonzession Expertenanhörung.
Statusplanung Vít Dovalil, Ph.D.. Statusplanung In welchen Funktionen wird welche Sprache (Varietät) in welcher Sprachgemeinschaft verwendet? – Bindung.
Das Arbeits- und Sozialrecht der Europäischen Union.
Fortfall der Vertragsbindung Teil II. Vorlesungsgliederung I. Begriff des Vertrages II. Abschluss und Inkrafttreten von Verträgen III. Auslegung von Verträgen.
C Kartellverfahrensrecht
C Kartellverfahrensrecht
 Präsentation transkript:

Pflichtvorlesung im Öffentlichen Recht Europarecht I Prof. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice Humboldt-Universität zu Berlin Pflichtvorlesung im Öffentlichen Recht 3. Studiensemester Wintersemester 2010/11

§ 6 Vollzug des europäischen Rechts

Allgemeine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Loyalitätspflichten nach Art. 4 III EUV Umsetzung der EU-Richtlinien: Art. 4 III EUV, Art. 288 III, 291 AEUV Verwaltungsvollzug: Grundsatz mitgliedstaatlicher Zuständigkeit Pflicht der Mst. zum Vollzug vgl. Art. 291 I, 197 I und III 1 AEUV. Art. 298 AEUV: offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung. Verwaltungszusammenarbeit: Pflichten (Art. 291 AEUV) und gemeinsame Grundsätze (Art. 197 AEUV), Zollwesen: Art. 33 AEUV, RFSR: Art. 74, 70 und 89 AEUV Achtung des Grundrechts auf gute Verwaltung (Art. 41 GRCh) Der europäische Verwaltungsverbund, zB. Wettbewerbsnetzwerk, Regulierungsverbund - näher dazu zuletzt. Die Verwaltung, Beih. 10 (2010)

in der Europäischen Gemeinschaft Verwaltungsvollzug in der Europäischen Gemeinschaft Direkter Vollzug durch Gemeinschaftsorgane (= Ausnahme) Verfahrensrecht: Europarecht einschl. allg. Rechtsgrundsätze Interner Vollzug Gegenüber Organen und Bediensteten Bsp.: Haushalt, EU-Beamte Externer Vollzug gegenüber Mitgliedstaaten und Individuen Bsp.: Wettbewerb Indirekter Vollzug durch Behörden der Mitgliedstaaten (= Regelfall) Verbandskompetenzen in Deutschland: Art. 83 ff. GG Unmittelbar Anwendung unmittelbar geltenden EuR Verfahren: EuR, subsidiär VwVfG Mittelbar Vollzug von nationalen Umsetzungsakten Verfahren: VwVfG (Grenze: EuR)

Hintergrund: Einheitliche Geltung des Europarechts versus Autonomieschonung Artikel 4 Abs.2 S.1 EUV: Die Identitätsklausel Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Art. 5 Abs. 3 u. 4 EUV: Subsidiarität und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Nationale Verfahrensautonomie: Grundsatz EuGH, Rs. 33/76, Slg Nationale Verfahrensautonomie: Grundsatz EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet sind deshalb die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen freilich diese Bedingungen nicht ungünstiger gestaltet werden als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen... Anders wäre es nur, wenn diese Verfahrensregeln und Fristen die Verfolgung von Rechten, die die innerstaatlichen Gerichte zu schützen verpflichtet sind, praktisch unmöglich machten.

Mittelbarer indirekter Vollzug – Merksätze: 1. Mitgliedstaatliche Behörden vollziehen europäisches Recht und wenden dabei innerstaatliches Verfahrensrecht (materielle Regelungen, Verwaltungsverfahren, Prozessordnung) an, vgl.Milchkontor-Grundsatz (s.u.) 2. Grenzen der nationalen Verfahrensautonomie ergeben sich aus Art. 4 III EUV und dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Zu beachten sind insbesondere das: Effizienzgebot (effet utile) und der Grundsatz der Gleichwertigkeit (Äquivalenzgebot). 3. Zu beachten ist ferner die Charta der Grundrechte der EU, vgl. Art. 6 I EUV sowie Art. 51 I GRCh

Anwendung: Rückforderung rechtswidriger Beihilfen – Grundsatz EuGH, verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633 – Milchkontor. 19 Wie der Gerichtshof im Einklang mit diesen Grundsätzen wiederholt ausgesprochen hat (...), müssen die nationalen Gerichte Rechtsstreitigkeiten über die Wiedereinziehung zu Unrecht aufgrund des Gemeinschaftsrechts geleisteter Zahlungen in Ermangelung gemeinschaftlicher Vorschriften nach ihrem nationalen Recht entscheiden, jedoch vorbehaltlich der durch das Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen, wonach die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten nicht darauf hinauslaufen dürfen, dass die Verwirklichung der Gemeinschaftsregelung praktisch unmöglich wird, und das nationale Recht im Vergleich zu den Verfahren, in denen über gleichartige, rein nationale Streitigkeiten entschieden wird, ohne Diskriminierung anzuwenden ist. Keine grds. Bedenken gegen eine Anwendung von § 48 VwVfG.

Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht Zollkodex (VO 2913/92 für die einheitliche Anwendung des europäischen Zollrechts durch die 27 Mitgliedstaaten an ihren Grenzen, insbes. Art. 5 ff.) Kartellverordnung 1/2003 für die Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrags durch die Kommission und die Behörden/Gerichte der Mitgliedstaaten Verordnung 659/1999 EG über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags

Art. 108 III AEUV. Die Kommission wird von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Artikel 107 mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat. Zur Durchführung die oben genannte Verordnung 659/1999, die die Rechtsprechung des EuGH kodifiziert und ergänzt.

Rückforderung rechtswidriger Beihilfen i. L. v. Art Rückforderung rechtswidriger Beihilfen i.L.v. Art. 108 III AEUV EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997 I-1591 – Alcan. 24. Die Rückforderung der Beihilfe findet grundsätzlich nach Maßgabe des einschlägigen nationalen Rechts statt; jedoch darf dessen Anwendung die gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung nicht praktisch unmöglich machen... 25. Insoweit widerspricht es zwar nicht der Rechtsordnung der Gemeinschaft, wenn das nationale Recht im Rahmen der Rückforderung das berechtigte Vertrauen und die Rechtssicherheit schützt; da die Überwachung der staatlichen Beihilfen durch die Kommission in Art. (88 Abs.3 EG n.F.) zwingend vorgeschrieben ist, darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe jedoch grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Einhaltung des darin vorgesehenen Verfahrens gewährt wurde. Einem sorgfältigen Gewerbetreibenden ist es regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, dass dieses Verfahren eingehalten wurde. => Modifizierte Anwendung von § 48 VwVfG im Lichte des EuR wegen der Einschaltung der Kommission nach Art. 88 Abs.3 EG (vgl. BVerwGE 106, 328).

Grenzen der Bestandskraft I: Sonderfall EuGH, Rs. C-453/00, Slg Grenzen der Bestandskraft I: Sonderfall EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004 I-837 – Kühne & Heiz. 26. Nach den Akten liegen folgende Umstände vor. Erstens hat die Verwaltungsbehörde nach nationalem Recht die Befugnis, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen. Zweitens erlangte die Verwaltungsentscheidung ihre Bestandskraft erst infolge eines Urteils eines nationalen Gerichts, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar sind. Drittens beruhte dieses Urteil auf einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die, wie ein später ergangenes Urteil des Gerichtshofes zeigt, unrichtig war und die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof angerufen wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs.3 EG erfüllt war. Viertens wandte sich die Klägerin, unmittelbar nachdem sie Kenntnis von diesem Urteil des Gerichtshofes erlangt hatte, an die Verwaltungsbehörde. 27. Unter solchen Umständen ist die Verwaltungsbehörde nach dem in Artikel 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet, ihre Entscheidung zu überprüfen...

Grenzen der Bestandskraft II: Regelfall EuGH, Rs. C-2/06, Slg Grenzen der Bestandskraft II: Regelfall EuGH, Rs. C-2/06, Slg. 2008 I-411 – Kempter. 37 Wie jedoch der Gerichtshof in Erinnerung gerufen hat, ist diese Rechtsprechung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu lesen, der zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört. Insoweit ist festzustellen, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen... (sc. eintritt), zur Rechtssicherheit beiträgt und das Gemeinschaftsrecht daher nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. 39 Wie das vorlegende Gericht in Erinnerung ruft, geht aus den Rn. 26 und 28 des Urteils Kühne & Heitz hervor, dass der EuGH als eine der Voraussetzungen, die eine solche Überprüfungspflicht begründen können, insbesondere den Umstand berücksichtigt hat, dass das Urteil des letztinstanzlichen Gerichts, das zur Bestandskraft der angefochtenen Verwaltungsentscheidung führte, in Anbetracht einer nach seinem Erlass ergangenen Entscheidung des EuGH auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhte, die erfolgte, ohne dass der Gerichtshof angerufen wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war.