Wann ist ein Fach ein Fach – und wofür ist das wichtig? „Tagung „Zwischen Baum und Borke“ Universität Mainz, 10. – 11. März 2016 Rudolf Stichweh, Forum.

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 Präsentation transkript:

Wann ist ein Fach ein Fach – und wofür ist das wichtig? „Tagung „Zwischen Baum und Borke“ Universität Mainz, 10. – 11. März 2016 Rudolf Stichweh, Forum Internationale Wissenschaft, Universität Bonn

Semantik von ‚Fach‘ Fach, Fachwerk = zunächst Abschnitt einer Wand, Mauer Fach, Fächer = Teile eines Schranks oder Regals, in denen man etwas ablegen kann und zwar geordnet ablegen kann Fachlichkeit = Vorrang von Sachorientierungen Fachmann, Fachstudium = Spezialisierte Orientierungen gegenüber allgemeinen generalistischen Orientierungen

Alternativ zu ‘Fach’: ‘Disziplin’ Historisch-semantischer Hintergrund Spätantike disciplina-discere doctrina-docere Kirchenväter Ermahnung, Korrektur, Bestrafung für Fehler Renaissance Kopplung von «System» und «Disziplin» – aber immer noch archivarische Funktion der Disziplin Michel Foucault «Disziplin» als ein Weg der Selbst- und Fremddisziplinierung – Wiederaufnahme des Polizeibegriffs der frühen Neuzeit

Die wissenschaftliche Disziplin als die primäre Einheit der Innendifferenzierung der Wissenschaft Drei Ebenen der Verwirklichung wissenschaftlicher Disziplinen Kognitive Ebene: Selbstreproduzierende Population von Begriffen, Theorien und Methoden Soziale Ebene: Gemeinschaft von Spezialisten (Eintritt und Austritt von Mitgliedern) Kommunikative Ebene: Population von Publikationen, die mittels Zitationen auf frühere Publikationen referieren (und derart Grenzen laufend neu definieren)

Die Entstehung der modernen wissenschaftlichen Disziplin (1750 – 1870) Genese der wissenschaftlichen Disziplin als reales Sozialsystem in der Wissenschaft, als System der Produktion von Wissenschaft und als System der Verbreitung von Wissenschaft Welches sind die Voraussetzungen? Spezialisierung vs. enzyklopädische Interessen Rollendifferenzierung in Erziehungsorganisationen Gemeinschaften von Spezialisten Neue Publikationsformen Gemeinschaften, die sich um Publikationsorgane bilden Suche nach Neuheit ‘Forschung’ als die Institutionalisierung der Suche nach Neuheit Disziplinäre Karrieren Professionalisierung wissenschaftlicher Disziplinen

Die Entstehung der modernen wissenschaftlichen Disziplin (1750 – 1870), II Transformation der Universität Aufstieg der philosophischen Fakultät Kollabieren der Unterscheidung von Geschichte und Philosophie Gesetz, Theorie, Hypothese, Experiment Aufstieg der wissenschaftlichen Disziplin Staatswiss., Kameralistik, Statistik, Polizeiwiss. Klassische Philologie Geschichte, alte Geschichte Kunstgeschichte, Kunst des Altertums Pädagogik Mathematik, reine Mathematik Philosophie Physik, Naturlehre, Experimentalnaturlehre Chemie, Pharmazie Mineralogie, Geologie Naturgeschichte > Biologie

Gesellschaftliche Funktion der wissenschaftlichen Disziplin Garant der inneren Diversität des Wissenschaftssystems. Beziehungen hinreichender interner Varietät der Wissenschaft in den Beziehungen zu den Umwelten des Systems Garant stabiler Adressen für Kommunikationsprozesse im Wissenschaftssystem und für externe Wissensnachfragen, die an die Wissenschaft gerichtet werden Systeme, die mit disziplinären Adressen arbeiten Wissenschaft Hochschulerziehung Primär- und Sekundarschulen Berufsrollen und professionelle Rollen Massenmedien und Öffentlichkeit Wissensnachfrage anderer Funktionssysteme der Gesellschaft

Modernes System der Disziplinarität und der Interdisziplinarität (1870 – 2016) 1.Innere Umwelt anderer wissenschaftlicher Disziplinen («milieu interne») 2.Expansive Strategie der einzelnen wissenschaftlichen Disziplin, die auf das Territorium anderer Disziplinen auszugreifen versucht (agonale Interdisziplinarität) 3.Unaufhörliche Proliferation neuer wissenschaftlicher Disziplinen / Subdisziplinen (> ) drei parallele Prozesse (in evolutionären Termini) Neuheiten – über interdisziplinäre Transfers Selektion – Adaptation Isolation, Separation, Schliessung – Speziation 4.Globalität der wissenschaftlichen Disziplin (weltweite ‘small worlds’) 5.Die Entstehung von Strukturen der Koautorschaft - als die strukturelle Form der Interdisziplinarität (kollaborative Interdisziplinarität) - Verwirklichung von Interdisziplinarität im einzelnen wissenschaftlichen Aufsatz 6.Globale Erwartungen von Qualität / Exzellenz als Antriebsform von Interdisziplinarität

The essential tension Kooperation / kollaborative Interdisziplinarität vs. Wettbewerb / Konflikt (agonale Interdisziplinarität) als vier Imperative, die die Dynamik des Wissenschaftssystems vorantreiben Arbeitsteilung Wettbewerb um Ressourcen Wettbewerb um Innovationen Egalität und Stratifikation: Kumulativer Vorteil, ‚hubs‘ und ‚structural holes‘ in ‚small world networks‘