Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Metaanlysen klinischer Studien Rainer Schalnus
Advertisements

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Identifizierung und Ausbildung von Führungskräften
Medizinische Dokumentation
Hightech-Medizin in Urologie und Urologischer Onkologie
Evaluation der bewegungstherapeutischen Behandlung mit Hilfe des Dortmunder Fragebogens zur Bewegungstherapie DFBT Stuttgart Daniela Croissant.
Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien) Rottweil Unser Vorgehen NIMBUS Notenverteilung im Mathematikabitur - Bestandsaufnahme.
Controlling, Analyse und Verbesserung (Teil 2)
Modelle und Methoden der Linearen und Nichtlinearen Optimierung (Ausgewählte Methoden und Fallstudien) U N I V E R S I T Ä T H A M B U R G November 2011.
„Netzwerk Medizin und Geschlecht“ an der Medizinischen Hochschule Hannover Projektleitung: Dr. phil. Bärbel Miemietz Projektkoordination: Larissa Burruano,
Trächtigkeit - Pferd.
Internet facts 2006-I Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. September 2006.
Internet facts 2008-II Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. September 2008.
Internet facts 2006-II Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. November 2006.
Definitionen von Leistungen an der Schnittstelle ambulant- stationär: Ergebnisse einer Umfrage in Hessen Dr. med. Martin Künneke Universitätsklinik der.
Antibiotika – Einnahme
XIV. Ulmer Fortbildung Ulm, Florian Schneider, ulmkolleg.
Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch
PSI Code Neue Leistung im BEMA ab 2004
Ralf KüstersDagstuhl 2008/11/30 2 Ralf KüstersDagstuhl 2008/11/30 3.
MedPilot Virtuelle Fachbibliothek Medizin
Hypertone Kochsalzlösung
Information und Beratung Selbstmedikation Stand:
Marga Lang-Welzenbach
Sonographie bei portaler Hypertonie
20:00.
2. Methoden 3.1 Behavioral 1. Hintergrund 3. Ergebnisse Die Ergebnisse der behavioralen und psychophysiologischen Daten weisen in unterschiedliche Richtungen.
Herztransplantation und Molekularbiologie: Der Patient profitiert von der Forschung und gibt ihr Impulse Ao. Univ. Prof. DDr. Seyedhossein Aharinejad.
Persönliche Erfahrung mit Firazyr
Herzstillstand und Arrhythmie
Lehrerausbildung in Estland
Spital Riggisberg EbM.
Ergebnisse der totalen Aponeurektomie bei 61 Patienten mit Morbus Dupuytren: eine retrospektive klinische Studie. Astrid Högemann 1; Ulrich Wolfhard 2;
Was ist das Besondere am chronischen Schmerz?
Möglichkeiten und Grenzen der orthopädischen Begutachtung
...ich seh´es kommen !.
Where Europe does business Lück, JDZB | Seite © GfW NRW 252 a.
Auslegung eines Vorschubantriebes
Ethische Überlegungen
Kathrin Grummich1, Katrin Jensen2 Christoph M Seiler1 Markus K Diener1
Grippeimpfung im Alter Gibt es valide Daten?
Klinische Studien Einleitung.
PROCAM Score Alter (Jahre)
zu Cinacalcet und CKD-MBD
zur Pharmakovigilanz und Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS)
Vergleichsarbeiten in der Grundschule
Neu München
Rahmenbedingungen der Behandlung
Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen als Chance für die ganze Familie Bundesverband e.V, Mai 2007 Anna Hoffmann-Krupatz An der stationären Vorsorge-
ACTIMARIS ORL-Studie
Wir verlangsamen die Zeit: Traum oder Wirklichkeit?
Ein Überblick über verschiedene Verfahren
Medizinische Fort- und Weiterbildung - Neue Herausforderungen
Analyseprodukte numerischer Modelle
Projekt: Schüler verbessern ihren Unterricht
Basisdokumentation Erhebungszeitraum Rehabilitationsträger Zuweiser
Schutzvermerk nach DIN 34 beachten 20/05/14 Seite 1 Grundlagen XSoft Lösung :Logische Grundschaltung IEC-Grundlagen und logische Verknüpfungen.
Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt
Tropininverlauf und Kreatininclearance Deutsches Herzzentrum München
Der Erotik Kalender 2005.
Neuropsychologische Diagnostik beim NPH: Ab wann kann nach einer Entlastungspunktion von diagnoserelevanter Verbesserung der Leistung gesprochen werden?
Geschäftsplanpräsentation
Medizinische Ethik und Unternehmensethik
1 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest KIM-Studie 2014 Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) Landeszentrale für Medien und Kommunikation.
Lymphtherapie im Sport
HEURISTIKEN.
wissenschaftlicher Publikationen
Was ist Pharmakovigilanz?
Europäische Patientenakademie zu Therapeutischen Innovationen Verblindung in klinischen Studien.
Die klassischen Methoden der historisch-vergleichenden Forschung Universität Zürich Soziologisches Institut Seminar: Methoden des internationalen Vergleichs.
 Präsentation transkript:

Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität Klinische Toxikologie II Evidence Based Medicine SETAC Halle, 15.07.2009 Herbert Desel Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität

Wissenschaftliche Grundlagen der Klinischen Toxikologie Klinische Toxikologie ist sowohl ein Teilgebiet der Toxikologie als auch ein Teilgebiet der klinischen Medizin. Sie orientiert sich an Regeln, die für die gesamte klinische Medizin gelten bei der Auswahl geeigneter Diagnose- und Therapieverfahren.

Beispiel: Giftentfernung vor Resorption nach oraler Exposition (Primäre Giftentfernung)

17 g Clomipramin oral GIZ-Nord-Fallbericht (1996): 30j. Patientin mit depressiver Erkrankung Aufnahme in Klinik 14 Std. nach Einnahme leichte Bewusstseinstrübung Empfehlung GIZ-Nord: keine Giftentfernung Herz-Kreislauf-Überwachung, NaHCO3 dennoch Magenspülung ca. 2 Std. später Oberarzt-Anweisung ca. 10 g Tabletten, z. T. kaum verändert komplikationsloser Verlauf

GIZ-Nord-Fallbericht 1 (1996): 17 g Clomipramin oral Bewertung: verzögerte Resorption durch stoffspezifische (antimuskarinerge) Wirkung Die Giftentfernungsmaßnahme war: wirksam ! erfolgreich riskant ? einzelner Patient  alle Patienten ? - Wer heilt hat recht!

Primäre Giftentfernung nach oraler Gift-Aufnahme Magenentleerung Standardtherapie über 10 Jahrhunderte an Beinen aufhängen (n. Lewin 1920) Auslösen von Erbrechen mechanisch pharmakologisch Magenspülung Gabe von Aktivkohle in wässriger Suspension

Primäre Giftentfernung ist sehr oft wirksam optische Kontrolle möglich wurde als immer sinnvoll erachtet, solange noch Gift im Magen vermutet werden kann im Zweifel immer „rechtliche Indikation“ „pädagogische Indikation“ war Routinetherapie bei > 90 % aller oralen Ingestionsfälle

GIZ-Nord-Fallbericht 2: Acetylsalicylsäure-Vergiftung Pat. 61 J. männlich: Einlieferung in Klinik 10 Std. nach Aufnahme von 100 g Acetylsalicylsäure deutliche Bewusstseinseinschränkung, Schwitzen, Hyperventilation Labor: Zeichen einer schweren metabolischen Azidose (pH 7,20, normal: 7,35-7,45, BE -16) Empfehlung GIZ-Nord: Herz-Kreislauf-Überwachung, NaHCO3-Gabe, keine Magenentleerung, Salicylat-Bestimmung im Serum

GIZ-Nord-Fallbericht 2: 100 g Acetylsalicylsäure Salicylatspiegel i.S. 12 h p.i.: 487 mg/l (therapeutischer Bereich bis 50 mg/l 300 mg/l) Salicylatspiegel i.S. 15 h p.i.: 800 mg/l Salicylatspiegel i.S. 18 h p.i.: 1061 mg/l zur Vorbereitung einer Magenspülung wurde Pat. intubiert Herzstillstand Reanimation erfolglos: †

GIZ-Nord-Studie zu Kindervergiftungen Unter 100.000 Expositionsfällen bei Kindern in 7 Jahren (1996-2002) 42 lebensbedrohliche Vergiftungen darunter: 3 Fälle von Aspirationspneumonie, verursacht durch Giftentfernungsmaßnahmen

Aspirationspneumonien im Kindesalter Erbrechen nach Kohlegabe wegen Verschluckens einer Clenbuterol-Inhalationslösung (zuvor symptomlos, therapeutische Dosis) Erbrechen nach Kohlegabe wegen Verschluckens unbekannter Dosis Carbamazepin (zuvor zunehmend eintrübend)

Aspirationspneumonie im Kindesalter durch Giftentfernung induziertes Erbrechen nach intramuskulärer Verabreichung von Apomorphin wegen Verschluckens von paraffinischem Lampenöl (zuvor symptomlos)

PGE (insb. Magenentleerung) ist sehr oft wirksam optische Kontrolle möglich wurde als immer sinnvoll erachtet, solange noch Gift im Magen vermutet werden kann im Zweifel immer „rechtliche Indikation“ „pädagogische Indikation“ verursacht schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen

kausal ist besser als symptomorientiert ... Zurück zu den wissenschaftlichen Grundlagen Klinischer Medizin: Klassische Methoden klinischer Entscheidungsfindung bewährte Methoden, mit denen viel Erfahrung besteht, sind geeigneter als neue Methoden besser, mit denen keine Erfahrung vorliegt (... das haben wir schon immer so gemacht ...) Therapie-“Schulen“ (deutsches „Chefarzt-System“) „Wer heilt hat recht“ Im Zweifelsfall ist etwas tun besser als nichts tun (... kein Risiko unterlassener Hilfeleistung) kausal ist besser als symptomorientiert ...

Klassische Methoden klinischer Entscheidungsfindung „Kausal ist besser als symptomorientiert“: Es gibt ein plausibles theoretisches Konzept (Beeinflussung einer Fehlfunktion auf physiologischer, zellulärer oder molekularer Ebene) Es gibt direkte klinische Hinweise auf Wirksamkeit große historische Bedeutung für wissenschaftliche Medizin! Paradebeispiel Erbrechen Auslösen nach oraler Exposition

Wissenschafts-basierte Methode klinischer Entscheidungsfindung (Quantitative) Nutzen-Risiko-Abwägung: Wann nutzt eine Behandlung der Gesamtheit der Patienten mehr als sie schadet? gemessen durch wissenschaftliche klinische Studien (Studien an Patienten) hoher Qualität ...

Qualität Klinischer Studien I „Endpunkte“ (Messparameter): Messung von Letalität und Morbidität (valide E., Studien hoher Qualität) Surrogatparametern (z.B. entfernten Tablettenzahlen, Studien niedriger Qualität)

und Behandlungsgruppe „Goldstandard“ des Klinischen Studiendesigns: Randomisierte kontrollierte Studie (RCT, randomized controlled trial): Kontrollgruppe (unbehandelt, Placebo-Behandlung oder Standardbehandlung) und Behandlungsgruppe streng zufällige Zuteilung von Patienten / Probanden Arzneimittelstudien: oft Verblindung (Arzt & Patient)

Qualität Klinischer Studien II (Cochrane Collaboration) Stufe 1: Systematische Überblicksarbeit (Meta-Analysen) über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien Stufe 2: randomisierte, kontrollierte Studie Stufe 3: methodisch gut konzipierte Studie, ohne randomisierte Gruppenzuweisung Stufe 4a: klinischer Bericht (Kasuistik) Stufe 4b: Meinung von respektierten Experten, basierend auf klinischen Erfahrungswerten, oder Berichte von Experten-Komitees

Konzept der beweis-gestützen Medizin Evidence Based Medicine (EBM) Bewertung aller Studienergebnisse unter Berücksichtigung der Studienqualität als Grundlagen zur die Erarbeitung von Behandlungsrichtlinien

Randomisierte Studie zur Magenspülung überraschend hohe Rate pulmonaler Komplikationen nach Magenspülungen

Ergebnisse von 3 Studien (ca. 1000 Pat., um 1990) Ein klinischer Vorteil von aktiven Magenentleerungsmaßnahmen für den Patienten war in keiner der Studien zu sichern Magenspülung führte in bedeutsamer Häufigkeit zu vorwiegend pulmonalen Komplikationen

Bewertung der Studien durch Klinisch-Toxikologische Fachgesellschaften EAPCCT und AACT Verabschiedung und Publikation von "Position Papers" zu den wichtigsten Verfahren der primären und sekundären Giftentfernung Verbreitung (und Umsetzung) der Bewertungen vorwiegend durch Giftinformationszentren

EAPCCT/AACT Allgemeine Einschätzung Die wissenschaftliche Datenlage ist für keine Giftentfernungsmaßnahme ausreichend, um deren Wert anhand verlässlicher Kriterien (kontrollierte klinische Studien) sicher beurteilen zu können. Alle Maßnahmen dürfen daher keine Routinemaßnahme (mehr) darstellen, sondern Vorteil und Risiko müssen in jedem Einzelfall bewertet werden. bei Zweifel/Unkenntnis: keine Giftentfernung!

Empfehlungen im Detail Erbrechen nur bei toxischer Dosis innerhalb von 60 min nach Ingestion Magenspülung nur bei lebensbedrohlicher Dosis innerhalb von 60 min nach Ingestion Aktivkohle bei toxischer Dosis innerhalb von 60 min nach Ingestion unter Beachtung der vielfältigen Kontraindikationen

Spezifische Probleme der Klinischen Toxikologie Klinische Studien sind nur methodisch sehr aufwändig durchzuführen fast immer Notfallbehandlungen Kriterien zur Erzielung aussagekräftiger Befunde müssen streng gestellt werden nur eine oder wenige Noxen nur bestimmte Dosisbereiche u. a. weitere methodische Probleme (Einwilligung, oft viele Zentren nötig)

Qualität Klinischer Studien II Stufe 1: Systematische Überblicksarbeiten (Meta-Analysen) über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien. Stufe 2: randomisierte, kontrollierte Studie Stufe 3: methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte Gruppenzuweisung. Stufe 4a: klinische Berichte (Kasuistiken). Stufe 4b: Meinung respektierter Experten, basierend auf klinischen Erfahrungswerten, oder Berichte von Experten-Komitees.

Kasuistiken durch Nachverfolgung von Einzelfällen durch GIZ Sammlung von Fallbeschreibungen bei ausgewählten Beratungsfällen Mono-Intoxikationen mit klar bekannter Dosis besonders bei neuen Substanzen per Rückruf (oft mehrfach) per schriftlichem Behandlungsbericht führt zum Überblick über spezifische Vergiftungen (qualitativ: was passiert? quantitativ: bei welcher Dosis)

Zusammenfassung Die moderne klinische Medizin orientiert sich bei der Entscheidung für eine Therapieoption an Ergebnissen hochwertiger klinischer Studien (Evidence Based Medicine) Nutzen und Risiken müssen abgewogen werden Giftentfernungsmaßnahmen werden heute nur noch sehr selten angewandt