Der (Um)bruch Von der Sozialgeschichte zur Alltagsgeschichte und Historischen Anthropologie.

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 Präsentation transkript:

Der (Um)bruch Von der Sozialgeschichte zur Alltagsgeschichte und Historischen Anthropologie

I. Historische Sozialforschung -- Gesellschaftsgeschichte Strukturgeschichte Modernisierungstheorie   II. Vorläufer und Begleiter -- New History -- Annales Mentalitätsgeschichte III. Alltagsgeschichte - „Geschichte von unten“ -- Geschichtswerkstätten -- Alltagsgeschichte Mikrogeschichte – Makrogeschichte -- Historische Anthropologie

IV. Sozial- und Alltagsgeschichte in der Praxis Braudel, Civilisation matérielle 1967 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1987 Le Roy Ladurie, Montaillou 1975 Ginzburg, Der Käse und die Würmer 1976

Chronologie   [1952 Past & Present]  1957 Werner Conze Heidelberger „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“  1972 Sozialgeschichte an 23 von 38 Universitäten verankert  1974 Conze „Sozialgeschichte in Erweiterung“  1975 Geschichte und Gesellschaft  Ende 1970er Geschichtswerkstättenbewegung  1979 „Microstoria“ Carlo Ginzburg, Carlo Poni  1984 Podiumsdiskussion Historikertag Berlin zw. Vertretern der SG und der AG  1984 Tagungsband H. Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie  1992 Podiumsdiskussion Historikertag Hannover „Was kommt nach der Alltagsgeschichte?“

Sozialgeschichte:   Historische Perspektive, die ihren Fokus, flankiert von politischer Verfassungsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, auf die Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen und des gesellschaftlichen Wandels setzt. Sie „beschäftigt sich [...] mit der Geschichte sozialer Strukturen, Prozesse und Handlungen, mit der Entwicklung der Klassen, Schichten und Gruppen, ihrer Bewegungen, Konflikte und Kooperationen. Es geht ihr um so diverse Probleme wie Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung, Unternehmens- und Arbeitsverhältnisse, Professionalisierungstendenzen und Berufsstruktur, Familie und Sozialisation, Bevölkerungsbewegungen und generatives Verhalten, Vereinswesen und Interessensgruppen, Freizeitverhalten und Generationsproblematik, um kollektive Mentalitäten, Mobilität, Frauenemanzipation und vieles andere mehr.“ (Kocka)

1. Sozialgeschichte als Teil von Geschichte 2. Als gesamtgeschichtlicher Zugriff

1. Sozialgeschichte als Teil von Geschichte „Die Vielzahl der Themen und Interessen im Bereich der Sozialgeschichte läßt sich kaum noch aufzählen und schwer nur ordnen: Jugend und Alter, Krankheit und Tod, Ernährungsgewohnheiten und der menschliche Körper überhaupt, Analphabetismus und Lesegewohnheiten, Kriminalität, Freizeitverhalten und Sport, Essensgewohnheiten und Tischsitten, Tierschutzvereine und das Verhältnis der Menschen zum Tier, Mentalitäten und Volkskunst, Bräuche und Volksreligionen, daneben weiterhin so „traditionelle“ Themen wie einzelne soziale Gruppen, Gruppenkonflikte, Verteilungsprobleme, Arbeitsverhältnisse und ihre Veränderung. Viele dieser Themen können nur lokal- und regionalgeschichtlich betrieben werden.“ (Kocka)

2. Sozialgeschichte als gesamtgeschichtlicher Zugriff -- Utopie: Verbindung von Empirie und historischer Gesetzmäßigkeit Verbindung von „Sein und Bewusstsein“ Hoffnung auf Sozialgeschichte als „Spielraum“ und „Kontrollinstanz“ -- Theorieproblem: „um nicht in Fakten zu ertrinken“ Vergleich    => Geschichte als Kategoriensystem -- Lösung:  -- Strukturgeschichte -- Modernisierungstheorie

Rolle von Theorie 1. Auswahl der Daten 2. überprüfbare Hypothesen (über Vermittlungen von Bereichen; Erklären von Wandel) 3. Hinweise für angemessene Periodisierung 4. Begriffliche Instrumente für synchronen und diachronen Vergleich 5. Theorien müssen mit Teiltheorien vereinbar sein

Strukturgeschichte: - allgemein anwendbar - Verhältnisse, Zustände, Prozesse (weniger Ereignisse, Personen) - eher Bedingungen, Spielräume, Möglichkeiten menschlichen Handelns - Kollektivphänomene - „harte“ Phänomene - meist übergreifende Phänomene : syn- wie diachron - Möglichkeit typisierender, generalisierender Begriffe - Möglichkeit des Vergleichs - Kooperation mit Sozialwissenschaften

Strukturen „Die Verfassungen und politischen Institutionen, die Herrschaftsformen und die politische Kultur eines Landes sind ebenso Strukturen wie die Gebräuche und Gewohnheiten und Wertesysteme, Generationsabfolgen, eingeschliffene Freund- Feindkonstellationen und sprachlichen Differenzierungen schichten- oder religionsspezifischer Art. Zu den Strukturen zählen weiterhin geographisch-räumliche Vorgegebenheiten ebenso wie Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Unternehmensorganisationen und Schulsysteme, stabilere internationale Beziehungen und natürlich internationale Organisationen.“ „Auch Bewußtseinsgeschichte und Politikgeschichte, natürlich Kirchen- und Verfassungsgeschichte, aber ebenfalls Religions- und Ideengeschichte wie die meisten anderen historischen Unterdisziplinen können und sollten unter Betonung struktureller Aspekte betrieben werden“  

Modernisierungstheorie - „Anpassung an einen gegebenen Standard, verbunden mit einer Erhöhung der Funktionsfähigkeit“ (Mergel, in: ders./Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur (1997))   Vier Dimensionen - Politischer Strukturwandel - Ökonomische Entwicklung - Ausbau kultureller Systeme - Wandlungen im psychischen Haushalt

Modernisierungstheorien, alle: 1. strukturell-funktionalistischer, makrotheoretischer Ansatz 2. Interdependenztheorem alles, was in einem Sektor des Systems ablaufe, habe auch Auswirkungen auf die anderen Sektoren Idee von Gleichgewichtszuständen, solle nicht alles zusammenbrechen: Maxime der sozialen Gerechtigkeit und Ausgleich 3. Sogtheorie - Rückständige und fortgeschrittene Gesellschaften nicht nebeneinander 4. Somit Linearität, Irreversibilität (gerichteter Wandel) 5. Dichotomie von Tradition und Modernität

Probleme dabei: 1. Emphase der Moderne Warum nicht MA-Modernisierung? 2. Prozesse und Makrotheorie Grenze zwischen traditional und modern verschiebt sich mit Prozess; Dichotomie zu einfach „Wollen“ nicht integriert 3. Komplexität und Problemlösungsfähigkeit „Viel hilft viel“ 4. Interdependenz und Konvergenz Was etwa mit neuer Religiosität? 5. Lineare Verläufe und historische Kontinuitäten Gesamtprozess nicht umkehrbar. Brüche

II. Vorläufer und Begleiter -- New History -- Annales Mentalitätsgeschichte

Annales - 1900 Ruf nach Integration von Wirtschafts-, Sozial- und Politischer Geschichte  - Revue de synthese historique (1900) Henri Berr „Neue Wissenschaft vom Menschen“ gegen große Männer und Primat der Politik - Lucien Febvre (1878-1956) Humangeographie, Einheit menschliches Leben (histoire totale): Bedürfnisse, Ideen, Politik, Technik, Handel, Religion, Kunst: aber Rabelais, Luther, Philipp II : nur Oberschicht - Marc Bloch (1886-1944): Wundertätige Könige (Skrufulöse), Feudalgesellschaft Politik, Ökonomie, Herrschaft, Denken - Annales (1929): Archäologie bis Gegenwart, neue Quellen, neue Methoden: neues Archive und Forum  - Fernand Braudel (1902-1985) -- Méditerranée (1949) Milieu (Geographie); Geschick und Handeln (Soziale); Ereignisgeschichte (16. Jh.) -- quantitative Konjunkturgeschichte: nicht nur Ökonomie (Preise, Ernten, Mühlen), auch Demographie, Schreiben, Wetter

- Kliometrie: Serielle Geschichte - Kollektive Mentalitäten  = Verbindung verschiedener Wissenschaften: Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaften = Keine Schule eigentlich. Gemeinsam: Ablehnung der Ereignisebene, Neugierde

Mentalitätsgeschichte -- histoire sociale totale -- outillage mental (Mentale Arbeitszeug) mentalité -- nicht mehr „Geist“, „Esprit“, „spirituel“ „Ideen“, sondern „mental“ ethnologisch psychologisch  Robert Mandrou: „Grundprobleme dieser Forschungen sind Vorstellungen und Bilder, Mythen und Werte, die von Gruppen oder der Gesamtgesellschaft anerkannt oder ertragen werden und die Inhalte der kollektiven Psychologien bilden.“  - Jacques Le Goff: „Die Ebene der Mentalitätsgeschichte ist die des Alltags und des Automatischen, also dessen, was den individuellen Subjekten in der Geschichte entgeht, weil es den unpersönlichen Inhalt ihres Denkens ausmacht, also dessen, was Caesar und der letzte Soldat seiner Legionen, Ludwig der Heilige und der Bauer aus seinen Domänen, Christoph Kolumbus und der Matrose auf seinen Karavellen gemeinsam haben.“

„Geschichte von unten“ III. Alltagsgeschichte – „Geschichte von unten“ -- Geschichtswerkstätten: -- Alltagsgeschichte Mikrogeschichte – Makrogeschichte -- Historische Anthropologie

Geschichtswerkstätten Beginn Ende 1970er – Motto „Grabe wo du stehst“ (Sven Lindquist)   1982 „alle Versuche, nur auf Unis beschränkte Diskussionszusammenhänge zu stiften, scheitern“ Mai 1984: Geschichtsfest Westberlin, 300 Leute in 30 Arbeitgruppen, Workshops, Ausstellungen Ende 1980er: 300 Einzelmitglieder und 40 lokale Gruppen in Geschichtswerkstätten Initiative; Umweltaktivisten, Friedensschützer, Frauengruppen, Schwule – eigene Geschichte Leistung: Alltagsgeschichte, Frauengeschichte, Regionalgeschichte, Oral-History auf den Weg gebracht

1992 „Geschichtswerkstatt“ zu „WerkstattGeschichte“ „Geschichte ist kulturell und politisch bedingt (Veyne, Sahlins), die Geschichtswissenschaft erstickt an Hierarchie und Fachterminologie (de Certeau), sie ist ein vom Menschen selbst gesponnenes Bedeutungsgewebe (Geertz) – je lauter solche Thesen von Mitgliedern der Geschichtswerkstätten vorgetragen werden, desto handlungsleitender werden Werte und Normen der kritisierten Disziplin ... aus Kritikern der Ordnung der Dinge werden konforme Ordner der Dinge.“ (Frei, Krise der Geschichtswerkstätten)    1992 „Geschichtswerkstatt“ zu „WerkstattGeschichte“

Alltagsgeschichte   - Handeln und Leben „kleine Leute“: Arbeiten, Nichtarbeiten, Wohnen, Lieben, Hassen, Streiten, Kooperieren, Erinnerungen, Ängsten - Leben und Überleben - „Leiden und Freuden, Sorgen und Sehnsüchte der Menschen“ (Lüdtke) Zwei Bezugspunkte -- Das immer Gleiche, sich Wiederholende (Entlastende) -- Wandel Umbruch Konflikt (Dort wo Alltag Erfahrung und Praxis: subjektives Handeln ist) => Alltag als soziale Praxis der Gesellschaftsgeschichte

Theoriekonzept -- andere Theorie: nicht mehr Klassifikation und deren Systematisierung: nicht mehr nur auf „Begriff“, sondern auf „Vorstellung“ -- „von unten“ (Grabe wo du stehst! Sven Lindquists greife zu kurz) -- Kräftefeld von Zumutungen und Anreizen, von Symbolen und Interessen freilegen -- Blick auf einzelne „Konfigurationen“, sich auf (lokalen) Kontext einlassen -- Zentralbegriff: Erfahrung -- rekonstruktive Vernetzung materieller wie textlicher Überreste gefordert

Intentionen: -- Klassen und Kultur -- Den Menschen Akteurscharakter und Eigen-Sinn wiedergeben   Themenspektrum: Einzelfall-Studien, d.h. Untersuchungen einzelner Lebensläufe, mehr noch einzelner lokaler Kontexte (Dörfer, Stadtteile); „aber auch langfristige Zusammenhänge bzw. Veränderungen über zwei oder drei Jahrhunderte sind Thema alltagsgeschichtlicher Forschungen.“ Zentrales Stichwort: Mikrogeschichte

„Wir forschen nicht über Dörfer, sondern in Dörfern“ (Geertz) Mikrogeschichte „Wir forschen nicht über Dörfer, sondern in Dörfern“ (Geertz) - Ende 1970er; Zeitschrift Quaderni Storici: Carlo Poni 1978 Heft zu „Agrarbetrieb und Mikrogeschichte“; 1981 Buchreihe „Microstoria“ von Carlo Ginzburg und Giovanni Levi - Zentrum seien nicht isolierte Individuen, sondern die sozialen Beziehungen, in denen sie ihre „Strategien“ verfolgen - nicht nur Erzählung, sondern experimentelle Dimension - Spurensuche und –sicherung - Offen für methodische Vorbilder, so von Ethnologie - Hoffnung der demographischen Erweiterung zur Familienrekonstitution: wie „Mikroskop in Biologie“ Argument: Der Extremfall als das Repräsentative „Das farbige Ganze im vergangenen Dunkel ist wirklich da“: Ein wirkliches Bild nicht nur Linien

Historische Anthropologie „Le jour est arrivé. Die Forschungspraxis hat gegenwärtig schon die theoretischen Differenzen, die Geschichte und Anthropologie trennen sollen, weit hinter sich gelassen. Anthropologen haben sich über die abstrakten Strukturen erhoben und versuchen konkrete Ereignisse zu erklären. Historiker aber messen einzelnen Ereignissen heute einen geringeren Wert bei als wiederkehrenden Strukturen. Paradoxerweise verfolgen Anthropologen heute ebenso oft diachrone Perspektiven wie Historiker synchrone. Das Hauptproblem besteht gegenwärtig darin, das traditionelle Konzept von Geschichte zur Explosion zu bringen, und zwar mit Hilfeeiner anthropologisch gespeisten Erfahrung von Kultur ... Plötzlich gibt es viele neue Dinge zu sehen.“ (Marshall Sahlins)   - Revolution somit: Ethnologie und Geschichte zusammenzubringen

Praxis A) Sozialgeschichte 1. Braudel, Civilisation matérielle (Sozialgeschichte 1500-1800) (1967)   Bände: Alltag – Handel – Weltzeit Alltag: Demographie, Nahrung, Wohnung, Kleidung, Technik, Verkehr, Geld, Stadt Handel: Märkte, Finanzwesen, Handelsorganisation, Manufakturen, Wirtschaft und ihren Zentren, Kompanien, Städten, Staat Weltzeit: Zeitlich Räumliche Ausbreitung in konkrete Städte Länder, Reiche

2. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4 Bände: 18. Jh., 1815 bis 1848, bis 1914, bis 1949 I. Bevölkerungsentwicklung - Wachstum, Mobilität, Urbanisierung II. Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Wirtschaft - Landwirtschaft, Handwerk, Industrie - Zyklen der Wirtschaftsentwicklung III. Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse Sozialer Ungleichheit - Klassen – Bürgertum – Arbeiterschaft – Adel – Bauern - Sozialhierarchie IV. Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse Politischer Herrschaft - Hier in Ereignisphasen gegliedert: A Bismarck, B Wilhelminische Ära V. Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Kultur - Kirchen, Schulen, Medien, Öffentlichkeit  

Wehler, Aufbau Übersichten: etwa Bevölkerung, Stahlproduktion, Universitäten, Urbanisierung, Konjunkturdaten, Einkommensentwicklung, Angestellte Strukturdifferenzierung: Arbeitslosigkeit, Urlaub, Arbeiteraristokratie, Gelegenheitsarbeiter, Wohnquartiere, Hausarbeit, Kinderarbeit, Vereinsgründungen, Streikentwicklung – Gründe werden aufgezählt: Aufschwung, Anerkennung sozialer Problemlagen, Verständnis in Öffentlichkeit, Gewöhnung „Ereigniszellen“

Praxis B) Alltagsgeschichte Le Roy Ladurie, Montaillou (1975) Ginzburg, Der Käse und die Würmer (1976 )