Konkrete Ethik – Orientierung im Umgang mit der Natur

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 Präsentation transkript:

Konkrete Ethik – Orientierung im Umgang mit der Natur Prof. Dr. Ludwig Siep Philosophisches Seminar der Universität Münster

Übersicht: Drei Begriffe von Orientierung Orientierung durch Ethik Konkrete Ethik und Natur Kriterien der konkreten Ethik für gegenwärtige naturethische Probleme Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

1. Drei Begriffe von Orientierung Vorbemerkung: Wortgeschichte: Orient, der Sonnenaufgang, erlaubt die Bestimmung der Himmelsrichtungen als Voraus-setzung für Positionsbestimmung, Ziel- und Weg-suche „Orientierung“ als räumliche Metapher, die für „Rich-tungsentscheidungen“ im geistigen Bereich (kognitiv-erkennend, evaluativ-wertend, normativ-regelnd) ge-bräuchlich ist Subjekte der Orientierung: Individuum, Gruppe, Ge-sellschaft, Menschheit (konzentrisch) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

1. Drei Begriffe von Orientierung (2) Einen Pfad finden (Landkarte, PC, Autopilot etc.) Voraussetzung: Das Ziel kennen, die eigene Posi-tion kennen, den Weg suchen B. Bewertung von Optionen (Handlungs- und Über-zeugungsalternativen; kognitive und emotionale Be-wertung; geprägt durch Sozialisierung, kollektive Wertesysteme) Voraussetzung: Bewusste oder unbewusste Ak-zeptanz eines Wertesystems, Wertungen zweiter Ordnung, Werterfahrungen (Erfahrung von Wert-vollem bzw. mit Werten, Bestätigung oder Ent-täuschung, Wertewandel) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

1. Drei Begriffe von Orientierung (3) C. Sich in einer Umgebung lokalisieren, bewertend einordnen (eigene Rolle in einer Gruppe, im Ge-meinwesen, in der Welt) Voraussetzung: Theoretisch befriedigendes Welt-bild („beste Erklärung“), Bewertung von Weltzu-ständen, vor allem von Aufgaben und sozialen Be-ziehungen (sinnvolle Aufgaben, „was es mir bedeu-tet“) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

2. Orientierung durch Ethik Zu A (Wege zum Ziel): Was sind wertvolle Ziele (aristotelische Tradition, summum bonum)? Was sind erlaubte Wege (Kant, Gebots- und Er-laubnisgesetze)? Primat entweder bei den Zielen (teleologisch) oder bei den Wegen, d.h. erlaubten und gebotenen Handlungsweisen (deontologisch) Probleme: Bei Primat der Ziele kann je nach Gewicht die Er-laubnis erweitert werden (Gott, die Wahrheit, der Weltfriede legitimieren jedes Mittel) Bei Primat der „Wege“ sind die Ziele meist voraus-gesetzt („du sollst“ – Zielzustände oder Tabus) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

2. Orientierung durch Ethik (2) Zu B (Bewertung von Optionen): Entwurf bzw. Entdeckung einer Wertehierarchie Probleme: Orientierungsschwäche bei „Projektivis-mus“ (Wünsche als einzige Wertquelle, private Werte werden auf die wertfreie Wirklichkeit projiziert) Objektivität der Werte entweder durch einen „Kern“ des Subjekts (Würde) oder durch Wertrealismus sichern Sind objektive Werte Ideen oder als wertvoll erfahr-bare Zustände? Konkrete Ethik: Werte sind relational, haben aber ein „fundamentum in re“ (entdeckbar) Spannung zwischen den „starken Wertungen“ der Subjekte (persönliche Identität, Gewissen) und den „allgemeinen“ Werten der Wertegemeinschaft Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

2. Orientierung durch Ethik (3) Zu C (Sich in einer Umgebung lokalisieren): Rekonstruktion des semantisch (Bedeutung von „gut“ und „sollen“) und interkulturell am besten ver-ankerten evaluativen Weltbildes (d.h. einer bewer-tenden Auffassung von Natur und Kultur) Passung mit den besten verfügbaren theoretischen Erklärungen (z.B. Evolution) Traditionelle und heutige „Hintergrundvorstellungen“ einer „guten Welt“ (Traditionell: Kosmos, Schöpfung – heute: weltweite Rechtskonventionen zu Nach-haltigkeit, Biodiversität, Artgerechtigkeit, Natur- und Kulturerbe etc.) Orientierung in der Spannung von Zentrum und Selbstdistanz (Thomas Nagel, Blick von Nirgendwo) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

3. Konkrete Ethik und Natur Konkrete Ethik: Entwurf einer Rahmenvorstellung der „guten Welt“ und ihre Konkretisierung zur Orientierung angesichts prinzipieller gesellschaft-licher und individueller Optionen Eine mögliche gute Welt umfasst: Natur im Sinne des vom Menschen nicht technisch (durch Vorgabe von Zielzuständen und Anwendung von Mitteln) Kontrollierbaren Kultur im Sinne der vom Menschen bewusst hervorgebrachten Handlungsweisen und materiel-len Objekte KE ist inhaltlich und methodisch holistisch (Seman-tik von „gut“ als billigens- und erstrebenswertes Ganzes – rekonstruktive Ethik, Hermeneutik der verbreiteten evaluativen Weltbilder) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

3. Konkrete Ethik und Natur (2) B. Grundzüge der „guten Welt“: Geordnetes Ganzes, Mannigfaltigkeit der Glieder, Gerechtigkeit, evaluative Ordnung aufsteigender Komplexität („scala naturae“), gemäßigter Anthro-pozentrismus (größeres Gewicht der wichtigen menschlichen Güter gegenüber denjenigen der an-deren „Stufen“) Natürlichkeit (partielle Unabhängigkeit von mensch-lichen Absichten und Techniken), Gedeihen von Ar-ten, Kulturen, Gruppen, Individuen Kulturell: Gedeihen und wechselseitige Anerken-nung/Bereicherung der Kulturen, einschließlich „Mischkulturen“ und -identitäten Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

3. Konkrete Ethik und Natur (3) Zwei Bedeutungen von „konkret“ in der KE: Rahmenvorstellung konkretisieren durch wissen-schaftliche Erkenntnisse und historische Erfahrun-gen Beispiel: „Gedeihen“ und „Wohlergehen“ als gute Zustände der Glieder des Ganzen: Medizin, Biologie, Psychologie erforschen, was Le-bewesen für (psychosomatisches) Wohlergehen brauchen Historische Erfahrungen zeigen, welche Rechte und sozialen Bedingungen Menschen zu ihrer Verwirkli-chung benötigen (Rechtsstaat, Demokratie, „blühen-de Kultur“) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

3. Konkrete Ethik und Natur (4) (2) In konkreten Situationen individueller (z.B. Sterbehil-fe, Enhancement bzw. verbessernder Medizin) oder gesellschaftlicher Art (z.B. Gentechnologie, Stamm-zellforschung) ethische Kriterien bereit stellen (auf-grund von „Konkret“ 1) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

4. Kriterien für gegenwärtige Probleme A. Umgang mit natürlichen Ressourcen (Klima, Energie, Wasser etc.): Nachhaltigkeit bzw. Generationengerechtigkeit („na- türliche Lebensgrundlagen“), nicht nur für Men- schen, sondern auch für Mannigfaltigkeit, Gedeihen und Wohlergehen anderer Lebewesen Bewahrung natürlicher und kultureller Formationen nicht nur aus ästhetischen Gründen (im Sinne pri- vater Geschmacksurteile), sondern für die Mannig- faltigkeit des Ganzen (Problembeispiele: Staudämme, Versteppung, off- shore Anlagen) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

4. Kriterien für gegenwärtige Probleme (2) B. Umgang mit Lebewesen: Mannigfaltigkeit der Arten, Gedeihen der Individuen aufsteigend nach Individualisierung (Mikroorganis- men, Pflanzen, Tiere, Primaten, Menschen) Bei Tieren: tiergerechte Haltung, Leidensfreiheit Bei Menschen: Wohlergehen, Gesundheit „kulturell“: Würde, Autonomie, Grundrechte („drei Generationen“: Schutz-, Mitwirkungs-, Sozialrechte, evtl. Umweltgrundrechte), Gemeinschaftsaufgaben, öffentliche Güter „Gemäßigter Anthropozentrismus“ (centered view): Gattungsinteressen dürfen besonders gewichtet werden (z.B. erlaubte Bekämpfung von Krankheits- erregern, Parasiten) – bei Selbstbeschränkung des Menschen (auch zwischen den Gesellschaften). Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

4. Kriterien für gegenwärtige Probleme (3) C. Umgang mit dem menschlichen Körper (bio- technische Optionen): Leidensbekämpfung, therapeutische und präventi- ve Verbesserung, Tugend des Ertragens und der Hilfe, keine technische Optimierung (gegen „Trans- humanismus“) Gründe gegen „radikales“ Enhancement (gene- tisch, Klonen, Implantate, massive Psychopharma- ka): soziale Fairness, Verlust der Entlastung durch natürliche Verteilung, Autonomieverlust und indivi- duelles Leiden durch Erwartungsdruck, Probleme des gegenseitigen Verstehens und Bewertens (na- türliche und soziale Orientierung) Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

Schluss: Orientierung in einer radikal veränderbaren (und sich verändernden) sozialen und natürlichen Welt setzt „evaluative (bewertend-beschreibende) Welt-bilder“ voraus Konkrete Ethik: arbeiten an den Grundlagen inter-kulturell akzeptabler und gut begründeter Vor-stellungen einer bejahens- und erstrebenswerten („guten“) Welt – und an deren Konkretisierung Quellen der Begründung: - Semantik der (interkulturellen und inter-epocha- len) Moralsprache - Hermeneutik der moralischen Traditionen und Konsense - „Passung“ zu den besten theoretischen Erklä- rungen der Natur- und Kulturwissenschaften Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep

Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik. Frankfurt am Main. Suhrkamp 2004. Konkrete Ethik - Orientierung Ludwig Siep