Inobhutnahme und Unterbringung: Was brauchen kleine Kinder?

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 Präsentation transkript:

Inobhutnahme und Unterbringung: Was brauchen kleine Kinder? Durch Kooperation und Abstimmung zu einer kürzeren Verfahrensdauer – Möglichkeiten des FamFG Erfahrungen mit der „Warendorfer Praxis“ in Sorgerechts-und Umgangsregelungsverfahren

Entstehung der WARENDORFER PRAXIS: Ausgangslage: Spannungsfeld zwischen Elternrecht (Art. 6 GG, 8 EMRK) und dem Kindeswohl/Kinderschutz (Art. 1, 2 GG, §§ 1666 BGB, 8 a SGB VIII). Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der streitenden Eltern => Folge: Loyalitätskonflikt des Kindes. unterschiedliche fachliche Perspektiven von Jugendhilfe und Familiengericht: Sozialpädagogik und Familiendynamik einerseits, Gesetzeslage und richterliche Entscheidungsbefugnisse andererseits. Lösungsansatz: Gemeinsam vereinbarte Verfahrensweise zum Schutz des Kindeswohls zwischen den Jugendämtern, Rechtsanwälten, Verfahrensbeiständen, Beratungs- und Hilfestellen sowie Familiengerichten in Sorgerechts- oder Umgangsregelungsverfahren (für Regelverfahren und Gefährdungsverfahren)

Fachlich gebotene differenzierte Vorgehensweise in außergerichtlichen und gerichtlichen Verfahren: Im Regelverfahren zeitnahe Einigung der Beteiligten nach dem Grundsatz: Schlichten statt richten! Ausnahme Gefährdungsverfahren: -> Erhebliche Gefährdung des Kindeswohls Grenze erreicht bei § 8 a SGB VIII (fachli- che Abgrenzung durch den „Leitfaden Häusliche Gewalt“). -> Zeitnahe Maßnahmen zum Kinderschutz. -> Zügige Beweisaufnahme zur Klärung der dauerhaften Perspektive für das (insbesondere kleine) Kind.

Verfahrensschritte Vorgerichtlich: Jugendamt und Rechtsanwälte wirken auf die Inanspruchnahme der Beratungsangebote / Hilfeleistungen insb. auch der freien Träger der Jugendhilfe hin (§ 8 a Abs. 1 und 2 SGB VIII). Vernetzung aller Beteiligten wichtig für wirksame Beratung und/oder ambulante Erziehungshilfen! Einleitung eines Gerichtsverfahrens: Im Regelverfahren durch einen Elternteil bzw. dessen Bevollmächtigten Bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung „hat“ (= muss) das Jugendamt nach § 8 a Abs. 3 SGB VIII das Familiengericht zu unterrichten. Andere mit Kindern Befasste (freie Jugendhilfeträger, Beratungsstellen, Lehrer, Erzieherinnen) dürfen und sollten bei Verdacht das Jugendamt – bei dringendem Bedarf direkt das Familiengericht – unterrichten. Konkreter Antrag ist nicht erforderlich, präzise Tatsachen genügen.

Ablauf: Versuch außergerichtlicher Einigung, ggf. unter Einbeziehung freier Beratungs- oder Hilfestellen unter Beachtung des Kinderschutzes; wenn nicht möglich: Einleitung des Verfahrens durch Antrag/Anzeige an das Gericht: grundsätzlich nur Statusangaben der Beteiligten und knappe Darstellung der Streitpunkte; substantiierte Einzelheiten nur bei Kindeswohlgefähr-dung notwendig; ggf. schriftliche Berichte freier Träger beifügen! Vorab Abklärung der Problematik Schweigepflicht. nach Antragseingang kurzfristige Terminierung durch das Gericht: Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 I FamFG => Unsere Praxis geht weiter als § 155 II FamFG (Verh. in 1 Monat): Hauptsacheverfahren: in 2-3 Wochen Einstweiliges Anordnungsverf.: sofort oder in 7 bis 10 Tagen - Anhörungs- und Verhandlungstermin mit den Eltern, Verfahrensbevoll-mächtigten und Jugendamt zur mündlichen Anhörung; ggf. freie Träger.

Aufgabenverteilung: Jugendamt: Kontaktaufnahme vor dem Verhandlungstermin mit möglichst beiden Eltern und Kind/Kindern, soweit nicht bereits vorgerichtlich erfolgt. Mündliche Berichterstattung im Verhandlungstermin; in Ausnahmefällen vorab eigeninitiativ oder auf gerichtliche Anforderung schriftliche Bericht- erstattung (z. B. bei Verdacht von Misshandlung oder Missbrauch sowie anderweitiger bisher nicht aktenkundiger Kindeswohlgefährdung, natürlich bei Inobhutnahme oder Unterbringung, da für den Ablauf der gerichtlichen Anhörung wichtig). Familiengericht: Möglichst frühzeitige Kindesanhörung ab Alter von ca. 2 ½ bis 3 Jahren. In begründeten Ausnahmefällen ggf. spätere Anhörung. Kontaktaufnahme zu und Ladung von Mitarbeitern freier Träger der Jugendhilfe, die bereits mit dem Kind arbeiten => Teilnahme und mündli- che/schriftliche Berichterstattung der freien Träger bleiben aber freiwillig.

Erste mündliche Verhandlung: Ziel im Regelverfahren: Finden einer einvernehmlichen Lösung (§ 156 I FamFG): bei Einigung: Protokollierung des Ergebnisses (Vergleich). bei Nichteinigung: Einleitung außergerichtlicher Beratung (§ 156 I 4 FamFG) und Aussetzung des Gerichtsverfahrens für 3 bis 6 Monate (sinnvoll nur bei Mindestmaß an Einsicht beider Elternteile) => danach: Feststellung einer Einigung oder Beschluss nach weiterer Verhandlung. Ziel im Gefährdungsverfahren: Erörterung der Kindeswohlgefährdung (§ 157 I FamFG): Beteiligte in der Verhandlung: Eltern und Jugendamt, ggf. ältere Kinder. Gerichtlicher Hinweis auf öffentliche Hilfen – d. h. auch freier Jugendhilfe- träger - und Folgen von deren Ablehnung. Mitarbeiter freier Jugendhilfeträger am Verhandlungstermin beteiligen. ggf. Absprache und protokollierter Vergleich über Installation von Jugendhilfemaßnahmen (SPFH, Erziehungsbeistand, Pflegschaft, u. U. sogar einvernehmliche Inobhutnahme oder Unterbringung).

Bei Kindeswohlgefährdung: Im Regelfall keine Aussetzung zur außergerichtlichen Beratung, da mit dem Kindeswohl nicht vereinbar. Stattdessen weitere Beweiserhebung, z. B. durch ein familienpsycho-logisches und/oder fachpsychiatrisches Gutachten => sofortige Fristset- zung zur Gutachtenerstattung nach Rücksprache, § 163 Abs. 1 FamFG. Zwingend: Bestellung eines Verfahrensbeistands => Stellungnahmefrist. Versuch der Absprache zwischen Jugendamt, Eltern und ggf. freiem Träger: Ambulante Erziehungshilfen während der Dauer des weiteren Hauptsacheverfahrens. Wenn keine Absprache möglich: Einstweilige Anordnungen zum Kindes- schutz von Amts wegen prüfen und soweit erforderlich sofort erlassen. Vorläufige Maßnahmen nach §§ 1666, 1666 a, 1684 BGB: Vorläufige Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, Inobhutnahme, Unter-bringung, begleiteter oder ausgeschlossener Umgang. Abschließende Beschlussfassung nach der Beweisaufnahme auf Grund eines zweiten Verhandlungstermins.

Erkenntnisse nach fast vier Jahren: Die gerichtlichen Verfahren haben sich im Schnitt deutlich beschleunigt; erstinstanzliche Verfahren mit Gutachten zur Inobhutnahme/Sorgerechts- entziehung dürfen bei kleinen Kindern höchstens bis zu 6 Monate dauern. Das wechselseitige Verständnis für die fachliche Perspektive der anderen Verfahrensbeteiligten hat sich deutlich verbessert; Sowohl die Zahl außergerichtlicher Beratungen durch die Jugendämter als auch die Zahl familiengerichtlicher Sorgerechts- und Umgangsrege- lungsverfahren ist massiv angestiegen => Akzeptanz der neuen Praxis; Die deutliche Mehrzahl der Verfahren endet mit einem tragfähigen und von beiden Eltern jedenfalls weitgehend auch gelebten Kompromiss zum Sorgerecht oder Umgangsrecht im Interesse des Wohls der Kinder; Gleichzeitig hat aber auch die Zahl der Verfahren deutlich zugenommen, in denen zumeist beide, mindestens aber einer der Elternteile sich trotz Hilfen und Beratung und eindringlicher richterlicher Hinweise unbelehrbar zeigt und weiterhin nicht im Interesse des Kindeswohl verhält => Immer mehr Beteiligte machen trotz einer (außer)gerichtlichen Einigung oder Regelung relativ kurzfristig ein neues gerichtliches Verfahren anhängig. Das indiziert den Verdacht einer erheblichen Kindeswohlgefährdung.

Gerichtliche Handlungsmöglichkeiten in Fällen schwerer Elternverfehlungen: In den härtesten Fällen versuchen wir, die Gefährdung abzuwenden bzw. verhärtete Fronten durch folgende Mittel aufzubrechen: - Einrichtung einer zeitlich befristeten Ergänzungspflegschaft durch einen berufsmäßig tätigen Pfleger für die Teile der elterlichen Sorge, in denen eine hinreichende Kooperation der Eltern zum Kindeswohl nicht gelingt, zum Zwecke der Vermittlung bzw. soweit erforderlich des Treffens von Entscheidungen anstelle der Eltern (§ 1909 BGB). Einrichtung einer zeitlich befristeten Umgangspflegschaft durch einen berufsmäßig tätigen Pfleger als Ansprechpartner für Eltern und Kinder zur Erarbeitung einer Umgangsregelung, aber auch erforder-lichenfalls zur Umgangsbegleitung (§ 1684 Abs. 3 BGB). Inobhutnahme für die Dauer der Hauptsachebeweisaufnahme mit der Option einer Rückkehr je nach Beweisergebnis und Verhalten.

Fazit: Das FamFG bietet hinreichende Möglichkeiten, durch Koope-ration und Abstimmung zu einer kürzeren Verfahrensdauer insbesondere bei Inobhutnahmen/Sorgerechtsentziehung zu gelangen. Das Ziel wird aber nur erreicht, wenn alle beteilig- ten Fachkräfte einschließlich Familiengericht tatsächlich geplant/koordiniert zusammenwirken. Andreas Hornung Richter am Amtsgericht Dr.-Leve-Straße 22 48231 Warendorf andreas.hornung@ag-warendorf.nrw.de