Thomas Schillen Monika Thiex-Kreye

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Situation der freiberuflichen Hebammen in M-V
Advertisements

Gemeindepsychiatrische Verbünde und Integrierte Versorgung
Dr. med. Thomas Kuhlmann Psychosomatische Klinik Bergisch Gladbach
Seite 1 © 2012 Schön Klinik RibbonSample-V3-inarbeit.pptm PD Dr. U. Cuntz.
Die Versorgung bei psychischen Erkrankungen aus Sicht der Ersatzkassen
Klein(st)kinder in der Kinder-und Jugendhilfe St. Mauritz
= = = = 47 = 47 = 48 = =
Heilen Helfen adjuvante Chemotherapie
Internet facts 2008-II Graphiken zu dem Berichtsband AGOF e.V. September 2008.
Vorlesung: 1 Betriebliche Informationssysteme 2003 Prof. Dr. G. Hellberg Studiengang Informatik FHDW Vorlesung: Betriebliche Informationssysteme Teil2.
109. Deutscher Ärztetag, Magdeburg
Vorlesung Rehabilitation
Gründe für die Reform: fehlende Komplexleistungsangebote
Fachtag der HeGSP 2011 Marite Pleininger-Hoffmann Behandlungsvereinbarungen Gewinn für Psychiatrieerfahrene und Mitarbeiter.
Integrierte Versorgung im Kontext Gemeindepsychiatrischer Verbünde
AWA 2007 Natur und Umwelt Natürlich Leben
Guidelines: Was macht Tagesklinik tagesklinisch?
20:00.
Erfahrungsbericht EX-IN-Praktikum auf einer Beschützten Akutstation
Prof. Dr. Tilman Steinert Landespsychiatrietag Stuttgart,
Psychische Gesundheit
risikoabsicherung gegen die finanziellen folgen schwerer erkrankungen
Zur fünften Delphi-Studie Perspektive 2020 Gesundheit als Chance! November 2007 Ideenwettbewerb.
Gemeindepsychiatrischer Verbund und Integrierte Versorgung – Chancen und Risiken Nils Greve Gesellschaft für psychische Gesundheit in Nordrhein-Westfalen.
Überlegungen zu einer am Versorgungsbedarf orientierten Psychotherapeutenausbildung Prof. Dr. Rainer Richter DGVT Tagung zur Zukunft der Psychotherapieausbildung.
Dokumentation der Umfrage
QS- Dekubitusprophylaxe Klinikstatistik 2007 BAQ
Where Europe does business Lück, JDZB | Seite © GfW NRW 252 a.
Ärzte warnen vor negativer Entwicklung im Gesundheitswesen Ärzte warnen vor negativer Entwicklung im Gesundheitswesen Ärztekammer für Tirol.
Wir üben die Malsätzchen
Kompetenz hat ein Gesicht –
Und auch: Das Hattie-Quiz
Ambulante Psychotherapie und weitere psychotherapeutische Ansätze
Pädagogischer Tag Dr. med. Ute Tolks-Brandau
Hometreatment aus Nutzersicht
Ertragsteuern, 5. Auflage Christiana Djanani, Gernot Brähler, Christian Lösel, Andreas Krenzin © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012.
Initiative Frauenmedizin in Klinik und Praxis
Quo vadis? Neue Therapiekonzepte in der Klinik und Poliklinik für
Symmetrische Blockchiffren DES – der Data Encryption Standard
Das Persönliche Budget – Umsetzung und Perspektiven
Erfahrungen aus den IV-Modellen: Ravensburg
MINDREADER Ein magisch - interaktives Erlebnis mit ENZO PAOLO
Notfälle in der Psychiatrie. Suizidalität
Offener Dialog: Wie geht das?.
Schlechte Verbindung? was tun? P ke ve lus e au er St ecke a t r t f d r.
Zusammengestellt von OE3DSB
Folie Beispiel für eine Einzelauswertung der Gemeindedaten (fiktive Daten)
1 Arbeitsgemeinschaft Biologische Psychiatrie Verordnungsgewohnheiten von Psychopharmaka Statuserhebung 2005 W.Günther G.Laux T.Messer N.Müller M.Schmauss.
QUIPS 2011 Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie.
Absetzen - aber wie? Fachtagung „Gratwanderung Psychopharmaka“
Systemische Verhaltenstherapie in der Tagklinik Westend / München
Systemische Verhaltenstherapie in der Tagklinik Westend / München
Integrierte Versorgung
Neues Entgeltsystem in der Psychiatrie
Folie Einzelauswertung der Gemeindedaten
Medizinische Ambulanz ohne Grenzen, Mainz
Ambulante Komplexbehandlung durch Verträge der Integrierten Versorgung
ÖGB BÜRO CHANCEN NUTZEN
Folie 1 Rahmenbedingungen und Versorgungsauftrag psychiatrischer Institutsambulanzen Joachim Hübner Vorsitzender BAG BAG Psychiatrie.
Herzlich willkommen! besser gemeinsam lernen.
Datum:17. Dezember 2014 Thema:IFRS Update zum Jahresende – die Neuerungen im Überblick Referent:Eberhard Grötzner, EMA ® Anlass:12. Arbeitskreis Internationale.
1 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest KIM-Studie 2014 Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) Landeszentrale für Medien und Kommunikation.
Internationale Gesundheitssystem im Vergleich
Intensiv betreute „Therapeutische Wohngemeinschaft“ der VILLA Störtebeker (Reintegration) Projekt des KARUNA Netzwerks für ambulante sowie stationäre Jugendhilfe.
Jugendhilfe – Schule - Psychiatrie
Joachim Hagleitner (Psychiatriekoordinator) Planung und Steuerung der Eingliederungshilfe Kloster Irsee, 13./ Psychiatrieberichterstattung und.
Praktische Anwendung des I S A R
Sektorale Versorgung schizophrener Psychosen in Deutschland – Differenter Einsatz von Antipsychotika Prof.Dr.med.Dipl.-Psych.Gerd Laux Institut für Psychologische.
Herzlich Willkommen zu unseren MFA-Workshops!. Unser Workshop-Modul heute: Vergütung und Abrechnung in der HZV.
Wünsche an den stationären Sektor aus Perspektive der fachärztlichen ambulanten Versorgung Alicia Navarro Ureña | FÄ Psychiatrie & Psychotherapie | Itzehoe.
 Präsentation transkript:

Thomas Schillen Monika Thiex-Kreye Hanauer Modell Perspektiven für die psychiatrische Versorgung in Deutschland Thomas Schillen Monika Thiex-Kreye

Psychiatrie-Reform in Deutschland seit Jahren stehen geblieben Schwer und chronisch psychisch Kranke haben immer noch die höchsten Hürden beim Zugang zu qualifizierten, evidenzbasierten Therapien. Assertive Community Treatment, Home-Treatment oder Krisenteams sind weder nach BPflV noch nach PEPP finanziert. Zugang zu Psychotherapie bei Psychosen ist verschwindend gering. Evidenzen für Effizienz und Effektivität einer sektorübergreifenden Versorgung (Ausland, Regional- psychiatriebudgets, IV- und §64b-Projekte) finden keinen Eingang in das Entgeltsystem.

Reform psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgungskonzepte dringend erforderlich Seit Jahren steigende Patientenzahlen und Versorgungsdefizite Fragmentierung des Gesamtsystems nach Behandlungssektoren und Zuständigkeiten verschiedener Sozialgesetzbücher  schlechtere Behandlungsqualität, zusätzliche Kosten Reformbemühungen einer neuen jahresbezogenen Entgeltentwicklung singulär im stationären Sektor (PEPP) können diese zentralen Mängel nicht beseitigen. Eine grundlegende Verbesserung von Behandlung und Ressourcenallokation erfordert die Integration ambulanter und stationäre Behandlungssektoren.

Fehlallokation von Therapieressourcen durch Budgetbindung an das stationäre Bett Therapiebedarf [min / d] 1 Vergütung [€ / d] 2 180 PIA Stations- äquivalente Akutbehandlung Tagesklinik Klinik Hanauer Modell 250 Klinik Tagesklinik Klinik PIA KV 0,25 0,50 Symptomschwere

Hanauer Modell – Umsetzung im §140a-Vertrag mit AOK HE & TK 06.2011 IV-Vertrag mit AOK HE und TK: Volle Flexibilität sektorübergreifender Leistungen 09.2011 Schließung von 6 Betten auf 3 Stationen. Mentoring der PIA auf den Stationen, Fallmanagement, Krisenpläne, Hausbesuche, … 06.2012 Schließung von 22 Betten, Ablösung durch Stationsäquivalente Ambulante Akutbehandlung

Stationsäquivalente Ambulante Akutbehandlung Ambulante Versorgung bei stationärer Behandlungs- indikation des bisherigen Versorgungssystems Verkürzung stationärer Behandlungen Störungsspezifische Behandlung nach individuellem Bedarf (need-adapted-treatment, assertive community treatment, systemische Therapie, Hausbesuche, home treatment, Krisenteam). Ambulante Akutbehandlung an 7 Tagen / Woche Personalressourcen einer Station ohne Nachtwachen Autonomie und Ressourcen des Patienten und seines sozialen Systems Freiwillige Entscheidung des Patienten, kein Zwang, kaum aggressive Reaktionen

Fallvignetten 1 Stationsverkürzend Stationsäquivalent 44♂, Schizophrenie, Polytoxikomanie Beziehungswahn, akustische Halluzinationen, aggressiv, Suchtdruck. 6 Tage stationär, dann AAB: mehrere Kontakte täglich, Mutter eng einbezogen, Medikamenteneinnahme konnte erreicht werden, Patient bei akuten Krisen zu Hause abgeholt. Zunehmende Besserung, Kontaktfrequenz reduziert. Nach 4 Wochen AAB Überleitung in PIA. Stationsäquivalent 38♂, Schizoaffektive Störung, Alkohol, Benzodiazepine, Suizidalität 21 teil/stationäre Aufenthalte 1997 – 2012, davon 14 seit 2011. 08/2012 AAB: Beziehungsaufbau. Im Wechsel Phasen hoher und niedriger Behandlungsintensität. Dauer reduzierter Behandlungsdichte ausgeweitet. Kurz nach AAB-Aufnahme noch einmal 4 Tage stationär, seit 15 Monaten nicht mehr stationär.

Fallvignetten 2 Home-Treatment Langzeitbehandlung 79♀, Delir bei Parkinson, Anpassungsstörung, OSH-Fraktur. Massive Unruhe, nächtliche Verwirrtheit, Halluzinationen, Ängste. 4 Wochen Home-Treatment im Altenheim + Coaching Pflegeteam Gute Remission, keine stationäre Aufnahme. Langzeitbehandlung 50♀, chronische Psychose, rezidivierende Fremdaggression im sozialen Umfeld. Regelmäßig stationäre Unterbringung durch die Polizei, keine medikamentöse Adhärenz, Behandlungsabbruch bald nach Entlassung. 07/2012 AAB: Längerfristig tragfähige therapeutische Beziehung. Die Patientin kommt bei Teilremission der Psychose freiwillig alle 2 Wochen zur Depotmedikation. Seit 1½ Jahre keine Zwangseinweisung mehr.

Stationäre BT Ist – Soll alle Krankenkassen pro Tag

Stationäre BT Ist – Soll alle Krankenkassen pro Tag pro Jahr kumuliert

Leistungen nach Sektor pro Jahr alle Krankenkassen

Diagnosen stationsäquivalent vs. stationär

Stationäre Berechnungstage pro Fall 9,9 pro Patient §140a AOK HE & TK §64b GKV

Hanauer Modell – Umsetzung als §64b-Vertrag mit allen Kassen 09.2013 Erstes §64b-Modellvorhaben in Deutschland Sektorübergreifendes Gesamtbudget aller Behandlungssektoren mit 100% Minder- und Mehrerlösausgleich Wahl des Behandlungssektors nach dem Bedarf des Patienten Identische Entgelte für alle GKV-Versicherten (Modell- und 4% Nicht-Modell-Krankenkassen) Identische Behandlungspfade für alle 3800 Patienten unserer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Hanauer Modell – nächste Schritte Schließung weiterer 18 Betten ab Sommer 2014 Ausweitung der bisherigen AAB und Aufteilung in 2 Teams Störungsspezifische AAB nach Funktionsniveau Erprobung einer OE mit 10 offenen Betten + PTK + AAB + PIA in einer Hand ohne klinikinterne Schnittstelle

Hanauer Modell – Bettenmessziffern 125 (0,58) Betten (BMZ ST) 01.2011 100 (0,47) 46 54 06.2012 78 (0,37) 24 (0,24) 22 09.2011 94 (0,44) 40 (0,41) 6 07.2014 60 (0,28) 25 09.2013 36 42 10 12 AOK HE & TK Rest KT Alle KT Konstant Plätze: 20, PMZ TS: 0,09

Ausweitung von Modellprojekten wird blockiert Eine ganze Reihe von Kliniken würden das Hanauer Modell gerne übernehmen. Bundesweit unterschiedlichste Krankenkassen suchen die Ausweitung von Modellvorhaben zu verhindern. Einige Kassen propagieren sehr entschieden das PEPP- System, weil sie darauf spekulieren, mit ihrem Patienten- spektrum PEPP-Gewinner im Wettbewerb der Kassen zu sein. Andere Kassen setzten auf KV-Verträge, um ihre stationären Psychiatriekosten zu reduzieren. Ein neues Entgeltsystem für eine einzelne Komponente des Versorgungssystems führt zwangsläufig dazu, dass Kostenträger und Leistungserbringer sich partikular betriebswirtschaftlich in genau diesem Segment anpassen.

Krankenhauskosten F0 – F9 in Deutschland: BPflV, PEPP vs Krankenhauskosten F0 – F9 in Deutschland: BPflV, PEPP vs. Hanauer Modell BPflV / PEPP + 0,98 G€ Betten für 90% Modell 8,8 G€ ST TS 100% 4,4 G€ ST TS 7,4 G€ ST TS 100% 4,4 G€ AM ST : Stationär, TS : Teilstationär, AM: Ambulant Quelle: destatis

Hanauer Modell – Fazit 1 Sektorübergreifendes Gesamtbudget Voraussetzung für Flexibilisierung der patientenorientierten Versorgung (RPB) Weitreichende Veränderung der Versorgungskonzepte (IV) Relevantes Finanzvolumen zur Ambulantisierung aus dem bestehenden Klinikbudget, statt IV-Zusatzfinanzierung Ambulantisierung ändert die Qualität der psychiatrischen Versorgung von Grund auf: Begleitung selbstbestimmter Patienten anstatt Zwangsbehandlung Reduzierung aggressiver Reaktion Therapeutische Beziehung mehr zentraler Faktor der Behandlung Verhandeln statt behandeln Psychotherapie erhält gleichwertig Raum neben einer ggfs. indizierten Psychopharmakotherapie

Hanauer Modell – Fazit 2 Wir müssen Inhalte und Ziele der Psychiatrie-Enquête für den betroffenen Menschen wieder in den Blick nehmen. Wir sollten die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung nicht dem strategischen Marktverhalten einzelner Krankenkassen und Klinikkonzerne überlassen. Die Zeit drängt: Neue Bettenhäuser werden die nächsten 20 Jahre mit stationären Patienten belegt sein.  Projekte wie das Hanauer Modell bieten die Chance einer weitreichenden Veränderung der Kliniken zu einer sektorübergreifenden patientenorientierten Psychiatrie auch in Deutschland.

Hanauer Modell – Fazit 3 Die sektorübergreifende Versorgung passt die Klinik dem Patienten an und nicht den Patienten der Klinik. Die hohe Kompetenz der Klinik für die komplexe Begleitung gerade der schwer und chronisch Kranken mit den Mitteln des Krankenhauses wird damit unabhängig vom stationären Bett. Diese Entwicklung kann den Menschen und sein soziales System als Ganzes in den Blick nehmen. Netzwerk vieler Modellprojekte, die diese Entwicklung evidenzbasiert und nach best practice vorantreiben. Politik: Fehlentwicklung des PEPP-Systems beseitigen, Stationsäquivalente Akutbehandlung durch Krankenhaus ohne Bett gesetzlich festlegen.

Nationaler Aktionsplan Psychiatrie Expertenkommission Erst die Ziele der psychiatrischen Versorgung in Deutschland festlegen, dann das dafür geeignete Entgeltsystem.

Kerbe 2 | 2014 Themenschwerpunkt Schillen T, Thiex-Kreye M Das Hanauer Modell Perspektiven für die psychiatrische Versorgung in Deutschland. Kerbe 2014, 2: 11 – 15