Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

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 Präsentation transkript:

Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Zweite Sitzung 27.10.2009)

Zweiter Termin (27.10.2009) Wiederholung – Ergänzungen – Fragen Fortsetzung „Gesellschaft“ und „Geschichte“ (identisch mit den Folien zum ersten Termin) Kritik an der Geschichte Grundformen historischen Denkens Ausblick auf den nächsten Termin 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Abfolge von „Mode-Paradigmen“ in der deutsch-sprachigen Philosophie 1900 bis 1933 „Kultur“ 1933 bis 1945 „Volk“ (oder sogar „Rasse“) bereits seit Herder, spätestens seit Nietzsche vorbereitet Vorläufer einer „rassisch-völkischen Kulturphilosophie“ sind Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain 1945 bis 1960 „Mensch“ „Philosophische Anthropologie“ seit 1928 1960 bis 1985 „Gesellschaft“ (und „Geschichte“) „Frankfurter Schule“ seit 1930, dann Exil, dominant seit 1965 seit 1985 „Kultur“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

(II) „Sozialphilosophie“ erster Beleg: 1843 bei Moses Heß (1812-1875) nicht bei Marx und Engels Ende des 19. Jahrhunderts bei Georg Simmel und Rudolf Stammler (1894) sowie Ludwig Stein (1897) Streit mit der sich etablierenden Soziologie (1910 Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“) 1931 Max Horkheimer („Frankfurter Schule“): Sozialphilosophie (= kritische Gesellschaftstheorie) 1958 scharfe Polemik von René König gegen philosophische Elemente in der Soziologie („Fischer-Lexikon Soziologie“) seit 1985 Niedergang der Sozialphilosophie und Abkopplung der Soziologie von der Philosophie 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Was ist „Gesellschaft“? nicht gemeinte Wortbedeutungen: konkret-räumliches Zusammen-sein von zwei oder mehr Menschen (Etymologie: ahd. sal = Raum  Wohnung; Geselligkeit, Geselle, „da bist du aber in guter Gesellschaft …“) institutionalisierte Form einer menschlichen Vereinigung („Aktiengesellschaft“, „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, „Deutsche Gesellschaft für Philosophie“ u.a.) eine spezifisch historische Erscheinungsform, nämlich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft (im Unterschied zu „Volk“/„Nation“ und „Staat“) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Was ist nicht „Gesellschaft“? nicht das Territorium, auf dem eine Menschenmenge lebt im Unterschied zu Staaten brauchen Gesellschaften überhaupt kein (festes) Territorium (Nomaden, Internet-Gemeinschaften) nicht die Summe der Individuen sondern „das „Zwischen“ (Martin Buber), „das Soziale“ (Leopold von Wiese), die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht die Institutionen oder Verbände, in denen die Individuen mehr oder weniger freiwillig Mitglied sind insbesondere nicht der Staat oder die Bürgerschaft (nicht civitas, sondern societas) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Soziologische Grundbegriffe Der Grundgegensatz: Gemeinschaft – Gesellschaft (seit Ferdinand TÖNNIES 1887: Die Gemeinschaft bestimmt das Individuum und dieses bedient sich der Gesellschaft) Weitere Grundbegriffe: die Masse (Gustave Le Bon, „Psychologie der Massen“, frz. 1895) die Gruppe (Charles H. Cooley, „Social Organisation“, 1909: Primär- vs. Sekundärgruppen) der Bund (Hermann Schmalenbach, 1922) der Verband (Max Weber, „Wirtschaft und Gesellschaft“, § 12) die Institution 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Max WEBER nach „Wirtschaft und Gesellschaft“ § 9 Vergemeinschaftung eine soziale Beziehung, die auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit beruht Vergesellschaftung eine soziale Beziehung, die auf (wertrational oder zweckrational bedingten) Interessen beruht 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Niklas LUHMANN: Systeme Maschinen Organismen psychische Systeme soziale Systeme Interaktionen („mikro-sozial“) Organisationen („meso-sozial“) Gesellschaften („makro-sozial“)  nur eine Gesellschaft, die Weltgesellschaft? 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Jürgen HABERMAS soziale Integration  Lebenswelt Teilnehmerperspektive symbolische Koordination aus dem Horizont der Handelnden selbst (gemeinsame Situationsdeutungen, akzeptierte Normen) systemische Integration Beobachterperspektive funktionale Koordination über die Effekte der Handlungen mit Hilfe „symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien“ (Geld, Macht)  Gesellschaften als „systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ (Habermas, TdKH II: 228) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Ein berühmter Einwand Margaret THATCHER (*1925, 1979-1990 GB-Premierministerin) „They are casting their problems at society. And, you know, there's no such thing as society. There are individual men and women and there are families.“ (Interview vom 23.9.1987, veröffentlicht in „Woman‘s Own“ am 31.10.1987) Das Zitat geht folgendermaßen weiter: „And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Was ist denn jetzt „Gesellschaft“? dynamische soziale Strukturen bzw. Strukturgefüge verselbständigt gegenüber den Intentionen der Individuen („Entfremdung“) bestimmend für die historischen Tendenzen einer Lebenswelt heute nicht mehr monolithisch, sondern polyzentrisch (verschiedene Teilsysteme) Ökonomie, Politik/Verwaltung, Technik, Massenmedien … heute nicht mehr (national-)staatlich verfasst  Tendenz zur „Weltgesellschaft“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Drei Entdeckungen Sophisten Ibn Chaldun (1332-1406) vor allem ANTIPHON (5. Jh. v.u.Z.) Unterschied Natur (physis) – Kultur (thesis, nomos) Ibn Chaldun (1332-1406) „Zusammengehörigkeitsgefühl“ (asabiyya)  „kollektive Identität“ Schottische Sozialtheoretiker „result of human action, but not of human design“ (Adam FERGUSON 1767)  „unsichtbare Hand“ (Adam Smith“)  „spontane Ordnung“ (F.A. v. Hayek) oder „autopoietisches System“ (Luhmann) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Ibn Chaldun 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

(III) Was ist „Geschichte“? 1. Grundunterscheidung Geschichten (Plural) die Geschichte (als Kollektivsingular) 2. Grundunterscheidung res gestae = wörtlich: die ausgeführten Dinge; die Dinge, die geschehen sind historia rerum gestarum = das Wissen von den Dingen, die geschehen sind 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Stufen der Erkenntnis (1) res gestae alles, was geschehen ist (Vergangenheit) die objektive Ereignisfolge als historisches „Ding an sich“ memoria rerum gestarum alles, was vom Geschehen übriggeblieben ist (materiell oder ideell) geschichtliche Tatsachen die zur Vergegenwärtigung des Vergangenen führen Geschichtserinnerung und Geschichtsbewusstsein historia rerum gestarum das Wissen um das Geschehene  historische Tatsachen als symbolisch vermittelte Rekonstruktion der Erinnerung (nach Relevanzkriterien und meist in narrativer Organisation) von der mündlichen Erzählung zur schriftlichen Darstellung 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Stufen der Erkenntnis (2) 4. Geschichtswissenschaft wissenschaftliche Bearbeitung und kritische Prüfung dieser symbolischen Rekonstruktionen („Historio-logie“) ähnlich dem Übergang Ethnographie  Ethnologie 5. Geschichtsphilosophie formal: Meta-Theorie der Geschichtswissenschaft material: „philosophische Sinndeutung der Geschichte“ (Iring Fetscher) als Abschluss, aber auch als Grundlage der früheren Stufen („Theoriebeladenheit der Beobachtung“, implizite Werturteile)  Zirkel bzw. Dreieck Empirie/Theorie/Wertung 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

„Geschichtsphilosophie“ (oder „Philosophie der Geschichte“) geprägt von VOLTAIRE 1764 in einer Rezension von HUMEs „History of Great Britain“ (1752-1758) gegen eine rein theologische und eine rein empirische Darstellung der Menschheitsgeschichte in Deutschland verbreitet seit Johann Gottfried HERDER, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) ihm folgen die „großen Drei“ KANT – HEGEL – MARX parallel zur Entstehung der Geschichtswissenschaft (im Zeitalter des Historismus) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Merkmale der Geschichtsphilosophie im Unterschied zur Geschichtswissenschaft holistisch (auf das Ganze gerichtet, zumindest implizit), insofern Bezug zur „Universalgeschichte“ evaluativ (mit Werturteilen, die begründet werden) praxisbezogen (Deutung der Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart mit Perspektive auf die Zukunft) – insofern nicht ablösbar von einer „Zeitdiagnose“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Geschichtsbilder These: Jeder Mensch hat ein Geschichtsbild. also eine Auffassung von Wesen und Richtungssinn der Geschichte das gilt auch für Denker, die keine eigene Geschichtsphilosophie vorgelegt haben (Platon, Aristoteles, Hobbes, …), in besonderem Maße für Politiker (Bismarck, Churchill) Diese Geschichtsbilder sind Teil umfassender Weltbilder, die auch Selbst- und Menschenbilder enthalten. In der Philosophie werden solche „Bilder“ „rationalisiert“, d.h., in eine diskursiv überprüfbare Form gebracht. Es bleiben bestenfalls „Modelle“. 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Ein enger Zusammenhang Alle realen Gebilde haben eine Geschichte. In der Geschichtsphilosophie geht es um die Geschichte der Menschheit bzw. um die Geschichte von Gesellschaften und Kulturräumen im Rahmen der Menschheitsgeschichte. Wenn wir Menschen keine KULTUR hätten, würden sich zeitliche Veränderungen im Rahmen der biologischen Evolution (bzw. der Naturgeschichte) abspielen. Welche Rolle spielt der kulturelle Sektor in Gesellschaften und damit in der Geschichte? 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Weitere wichtige Fragen Wie kam es zur Herausbildung von KULTUR und Kulturräumen? Welche Faktoren (Triebkräfte) bestimmen gesellschaftliche Entwicklungen und damit die Geschichte? Wie lässt sich die Geschichte periodisieren? (Zäsuren, „Kulturschwellen“) An welchen Maßstäben bewerten wir Kultur, Gesellschaft und Geschichte? Welchen Richtungssinn hat der historische Verlauf? Gibt es Fortschritt? Was darf ich hoffen? 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Philosophie formale, reflexive und normative Disziplinen Logik Semantik (Sprachphilosophie) Erkenntnistheorie  Wissenschaftstheorie Ethik  Rechtsphilosophie historisch-hermeneutische Ausrichtung  Philosophiegeschichte interpretativ-integrative Disziplinen Naturphilosophie (philosophische) Anthropologie Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Denken und Forschen Immanuel KANT: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV A 51/B 75) Es gibt zwar Kultur-, Sozial- und Geschichtswissen- schaft ohne Philosophie, aber diese sind „blind“! Ebenso wären aber auch Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie ohne Bezug auf die entsprechenden empirischen Wissenschaften „leer“! 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

neuer Abschnitt: Kritik an der Geschichte methodisch Aristoteles Descartes postmodern inhaltlich „naturalistisch“ „theologisch“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Aristoteles‘ Kritik an der Geschichte „der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt …; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung das Besondere mit.“ (Poetik IX, 1451b 1-8; vgl. Poetik XXIII, 1459a 22) Die Geschichtsschreibung (historia) beruht auf Erfahrung (empeiria) des Besonderen. Wissenschaft (episteme) kann es aber nur vom Allgemeinen geben. „Die Erfahrenen wissen zwar das ‚Daß‘; doch das ‚Warum‘ wissen sie nicht.“ (Metaphysik I, 981a 28f.) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Descartes‘ Kritik an der Geschichte Das historische Wissen ist wie das ethnographische Wissen; jenes richtet sich auf die Zeit, dieses auf den Raum. „Verwendet man jedoch zu viel Zeit aufs Reisen, so wird man schließ- lich im eigenen Lande fremd, und interessiert man sich zu sehr für Dinge, die in vergangenen Jahrhunderten geschehen sind, so bleibt man für gewöhnlich sehr unwissend in der Gegenwart.“ (Diskurs über die Methode, 8. Abschnitt) Weder das historische noch das ethnographisch-geographische Wissen erreicht die Exaktheit der Mathematik – und hat deshalb nicht den Rang einer Wissenschaft. 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Die postmoderne Kritik Hayden WHITE: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen (engl. 1978), Stuttgart 1991 Geschichtsschreibung unterscheidet sich nicht von Belletristik (Dichtkunst); sie kann auf rhetorische Mittel (Tropen) nicht verzichten. Außerdem gibt es für jede Geschichtserzählung „modes of emplotment“ (Formen der Dramatisierung): Romanze (MICHELET) Komödie (RANKE) Tragödie (TOCQUEVILLE) Satire (BURCKHARDT) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Zur Verteidigung der Geschichte Geschichtswissenschaft kann und sollte sich nicht an den methodischen Ansprüchen von Mathematik und Naturwissenschaft messen. Sie hat eine „gegenstandsangemessene Genauigkeit“ (Aristoteles) und arbeitet mit gegenstandsangemessenen Methoden. Im Unterschied zur Dichtkunst formuliert sie Aussagen mit einem Wahrheitsanspruch, der kritisch überprüft und falsifiziert werden kann. 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Die inhaltliche Kritik Es gibt keine Ebene menschlicher Handlungen. Was es gibt, sind hingegen entweder (a) übernatürliche Kräfte oder (b) Naturgesetze (im mythischen oder im wissenschaftlichen Sinne). Gegen (a): Übernatürliche Kräfte lassen sich nicht nachweisen. Gegen (b): Der Naturalismus beruht selbst auf Vorannahmen, die mit unserem nicht-naturalistischen Selbstverständnis und unserem lebensweltlichen Geschichtsbild zusammenhängen. Außerdem wäre ein ‚naturalistisches‘ Leben gar nicht alltagspraktisch lebbar. 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

Grundformen historischen Denkens Kreis Verfall Aufstieg … 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

(1) Der Kreis in allen Kulturen verbreitet, als mythisches und nach-mythisches Bild alt-ägyptische Weisheit: „das Land dreht sich wie eine Töpferscheibe“ (Anfang 2. Jt. v.u.Z.) Indien: das Rad als Symbol des Hinduismus Anaximander (Mitte 6. Jh. v.u.Z.): „Ursprung aller bestehenden Dinge ist das grenzenlos Unbestimmbare. Aus welchem Stoff den jeweils entstehenden Dingen aber die Entstehung wird, dahin müssen sie auch zugrunde gehen. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für die Ungerechtigkeit, gemäß der Festsetzung (Ordnung) der Zeit.“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

zu (1) Formen des Kreises kosmischer Zyklus Heraklit – Pythagoras – Platon („Timaios“, 25.800 Jahre) – Stoa gegliedert durch periodische Katastrophen (Weltenbrand bei Chrysipp u.a.) historisch-politischer Regelkreislauf Verfassungskreislauf (Platon – Polybios – Cicero) Monarchie  Tyrannis  Aristokratie  Oligarchie  Demokratie  Ochlokratie  Monarchie usw. ewige Wiederholung gleichartiger Einzelphänomene Eudemos von Rhodos (370-300 v.u.Z.)  Nietzsche einmaliger historischer Zyklus: Rückkehr des Goldenen Zeitalters Vergil zu Augustus (oder einem Nachfolger) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

(2) Verfall (nach Kant, Anfang von „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ „Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist als die Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion. Alle lassen gleich- wohl die Welt vom Guten anfangen: vom goldenen Zeitalter, vom Leben im Paradiese oder von einem noch glücklicheren, in Gemein- schaft mit himmlischen Wesen. Aber dieses Glück lassen sie bald wie einen Traum verschwinden; und nun den Verfall ins Böse (das Mora- lische, mit welchem das Physische immer zu gleichen Paaren ging) zum Ärgeren mit acceleriertem Falle eilen, sodaß wir jetzt (dieses Jetzt aber ist so alt als die Geschichte) in der letzten Zeit leben, der jüngste Tag und der Welt Untergang vor der Tür ist …“ 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

HESIOD (ca. 740 bis 670 v.u.Z.) „Theogonie“ (dt. Göttergeburt) – der Mythos von der Entste- hung der Welt und der Götter „Werke und Tage“ Dort findet sich die Lehre von den fünf Weltaltern Goldenes Zeitalter Silbernes Zeitalter Ehernes Zeitalter Heroisches Zeitalter Eisernes Zeitalter (geht vielleicht auf eine persische Erzählung zurück, die wiederum aus Indien stammt) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10

(3) Aufstieg (Fortsetzung) „Neuer, aber weit weniger ausgebreitet ist die entgegengesetzte heroische Meinung, die wohl allein unter Philosophen und in unseren Zeiten vornehmlich unter Pädagogen Platz gefunden hat: daß die Welt gerade in umgekehrter Richtung, nämlich vom Schlechteren zum Bes- seren, unaufhörlich (obgleich kaum merklich) fortrücke, wenigstens die Anlage dazu in der menschlichen Natur anzutreffen sei. Diese Meinung aber haben sie sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft …; sondern es ist bloß eine gutmütige Voraussetzung der Moralisten von Seneca bis Rousseau, um zum unverdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Keimes zum Guten anzutreiben …“ (KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1. Stück, 1793) 20.10.2009 Christian Thies Vorlesung WS 2009/10