Varietäten des Deutschen

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Varietäten des Deutschen UNIVERSITÀ DEGLI STUDI DI BERGAMO Lingua Tedesca LT I cod. 3006 a.a. 2018/2019, SoSe 2019 Varietäten des Deutschen

Wissenschaftshistorisches: vom Homogenitätspostulat zur Variationsforschung 19. Jh.: historisch-vergleichende Sprachwissenschaft: konzentriert sich auf die Variation in der Zeit (dia-chron) und Variation zwischen (eng) verwandten Sprachen und Dialekten (indo-europäische Sprachen) 20. Jh.: Strukturalismus (Saussure): konzentriert sich auf den synchronen Zustand eines Systems (langue) = abstrahiert von Variation und analysiert das System, als ob es homogen wäre

20. Jh.: generative Grammatik (Chomsky) "Der Gegenstand einer linguistischen Theorie ist in erster Linie ein idealer Sprecher-Hörer, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen wie begrenztes Gedächtnis Zerstreutheit und Verwirrung Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse Fehler (zufällige oder typische) nicht affiziert wird." (Noam Chomsky : Aspekte der Syntaxtheorie. Frankfurt a.M. 1971: 13; amerik. Orig. 1965)

auch: Parole-Linguistik, Sprachverwendungslinguistik ab ca. 1960/70: Hinwendung zur Untersuchung der Sprachrealität – Soziolinguistik, Pragmatik ... "die Soziolinguistik [ist] fast deckungsgleich mit der Varietätenlinguistik [...]. Man könnte beide Disziplinen auch als Sprachwirklichkeits-Forschung bezeichnen." (Heinrich Löffler: Germanistische Soziolinguistik.4., neu bearb. Aufl. Berlin 2010: 80) auch: Parole-Linguistik, Sprachverwendungslinguistik spezifischer Zweig: Angewandte Linguistik (mit Praxisbezug: Sprachunterricht, Übersetzung, Textoptimierung, …)

2. geläufige Begriffe für Varietäten in der Gemeinsprache: Umgangssprache, Sondersprache, Studentensprache, Fachsprache, Jugendsprache, Werbesprache, Jargon, Slang ... in der Fachsprache Dialekt, Soziolekt, Situolekt, Funktiolekt, Technolekt, Pägniolekt, Politolekt, Hagiolekt, Psycholekt, ... (vgl. Löffler 2010: 79 und 94)

Dimensionen der Variation "Eine historische Sprache kann [...] nicht als ein sprachliches System, als eine einzige einheitliche und homogene Struktur beschrieben werden, und zwar einfach deshalb, weil sie das nicht ist [...]. Außerdem hätte eine einzige strukturelle Beschreibung einer ganzen historischen Sprache, selbst wenn das rational und empirisch möglich wäre, keinerlei praktischen Nutzen, da eine historische Sprache 'nicht gesprochen wird': Sie wird nicht als solche und nicht unmittelbar im Sprechen realisiert". (Eugenio Coseriu: Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Tübingen 1992: 284)

Dimensionen der Variation "Man kann daher sagen, daß eine historische Sprache niemals ein einziges Sprachsystem ist, sondern ein Diasystem" "Eine historische Sprache weist immer interne Varietäten auf. In einer solchen Sprache treten nämlich allgemein drei grundlegende Typen mehr oder weniger tiefgreifender interner Unterschiede auf:" diatopische (Raum) diastratische (soziokulturelle Schichten) diaphasische (u.a. Stilniveaus) (Coseriu 1992: 283, 280)

Dimensionen der Variation Letzten Endes kann nur jeder einzelne Parole-Akt (Sprech-Ereignis, Text) in Bezug auf die jeweils spezifische Ausprägung der Variationsdimensionen hin charakterisiert werden. Aber: Wir brauchen Ordnungskategorien zur Orientierung im Variationsspektrum. Diesem Zweck dienen die Bezeichnungen für Varietäten / Lekte. Auch bei den Varietäten handelt es sich um Bewusstseinsphänomene Varietäten sind unscharf begrenzte Mengen von sprachlichen Varianten, die mit außersprachlichen Faktoren assoziiert sind. Sie haben eine prototypische Struktur. Im Zentrum stehen Varianten, die traditionell als Schibboleths (als Erkennungsmerkmale) bezeichnet werden (vgl. Adamzik 2018).

+ Diamesische Variation Das Schema deutet die Komplexität und Relativität jedes Einteilungsversuches der Sprachwirklichkeit optisch an Kreis und Striche zeigen, dass die Sprachwirklichkeit ein übergangsloses Kontinuum darstellt Alle Klassifizierungsversuche sind eine Frage des Standpunktes und immer nur unzureichend Die Übergänge sind fließend und die Unterscheidungskategorien überscheiden sich Varietäten als gebündelte Textexemplare, deren sprachliche Merkmale in der Hauptsache von Redekonstellationstypen oder sozio-pragmatischen Bedingungen wie Individuum, Gruppe, Gesellschaft, Situation, Funktion geprägt sind

Betroffene Ebenen der Variation: qualitative vs Betroffene Ebenen der Variation: qualitative vs. (nur) quantitative Unterschiede Qualitative Unterschiede gibt es (fast) nur im lexikalischen (und textuell-diskursiven) Bereich. Beispiele: - Gesundenuntersuchung: österr. für 'Vorsorgeuntersuchung' - Textsorte Gesetz: nur in juristischer Fachsprache Bei allen anderen Ebenen handelt es sich (fast immer) nur um quantitative Unterschiede, die aber als typisch wahrgenommen werden. Beispiele: - geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen in der Standardsprache: mehr in CH als in D und A - mehr Passiv in der geschriebenen als in der gesprochenen Sprache Ausnahme: Dialekte (und andere regionale Varietäten)! hier: qualitative Unterschiede im Bereich von Lautung und Grammatik

Deskriptive Erfassung varietäten-spezifischer/ -typischer Elemente grammatische und textuell-diskursive Ebene: in Spezialstudien und (Weniges) in deskriptiven Grammatiken (z.B. Duden-Grammatik) lexikalische (und lautlich-grafische) Ebene: Markierungen in allgemeinen Wörterbüchern Varietätenwörterbücher

Markierungen in allgemeinen Wörterbüchern Wüs|te|nei, die; -, -en [mhd. wüestenie]: 1. (geh.) Wüste (b), Einöde, wüste, öde, wilde Gegend. 2. (scherzh.) große Unordnung: in ihrem Zimmer herrscht eine schreckliche W. Wur|zel, die; -, -n [mhd. wurzel, ahd. wurzala, 1. Bestandteil zu Wurz, 2. Bestandteil eigtl.= das Gewundene (zu 1wallen)]: [...] 3. (landsch.) Möhre. [...] 5. (Sprachw.) mehreren verwandten Sprachen gemeinsame Form eines Wortstamms: eine indogermanische W. 6. (Math.) a) Zahl, die einer bestimmten Potenz zugrunde liegt: die vierte W. aus 81 ist 3; © Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 7. Aufl. Mannheim 2011 [CD-ROM]

Nationale Varietäten

Die Sprache Deutsch: Deutsch als staatliche Amtssprache Quelle: Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin usw., S. 208

Die Sprache Deutsch Sprachinseln: Dänemark, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Russland, Namibia, Brasilien

Plurizentrische Sprache

Standard- und Nonstandardvarietät

Varietäten und Varianten

Deutsch in der Schweiz Mediale Diglossie: Schweizerdeutsche Ortsdialekte für die mündliche Kommunikation („Schwyzertütsch“) vs. Hochdeutsch für die schriftliche Kommunikation „Schwyzertütsch“ ist nicht weniger prestigeträchtig als Standarddeutsch Diglossie als funktionale Zweisprachigkeit

Deutsch als regionale Amtssprache in Italien Autonome Provinz Bozen-Südtirol (kurz auch einfach Südtirol) Provincia autonoma di Bolzano Alto Adige Sprachgruppen Deutschsprachige 324.380 (69,4%) Italienischsprachige 122.000 (26,1%) Ladinischsprachige 21.030 (4,5%)

Deutsch als regionale Amtssprache in Italien Autonomiestatut von 1972: Gleichberechtigung der deutschen und italienischen Sprachgruppe Gleichstellung des Deutschen und des Italienischen in der staatlichen und kommunalen Verwaltung und in der Provinzregierung In Akten mit Gesetzeskraft ist die Formulierung im Italienischen maßgebend

Deutsch als regionale Amtssprache in Italien Gleichberechtigung von Deutsch und Italienisch in den Schulen Kirchensprache: jede Sprachgruppe erhält ihre Gottesdienste in der eigenen Sprache Private Domäne: Die deutschsprachigen Südtiroler sprechen unter sich überwiegend Dialekt, dessen lokale Varianten allerdings allmählich durch großräumigere Formen ersetzt werden Ortsschilder: zweisprachig: italienisch und deutsch (oben platziert jeweils die Sprache der örtlichen Bevölkerungsmehrheit), in den ladinischen Tälern auch dreisprachig.

Deutsch als regionale Amtssprache in Italien „Das Südtiroler Standarddeutsch weist vor allem Übereinstimmungen mit dem Standarddeutsch Österreichs, teilweise aber auch Deutschlands auf. Darüber hinaus hat es Besonderheiten im Wortschatz, vor allem aufgrund von Entlehnungen aus dem Italienischen, aber auch durch aus dem Dialekt entwickelte Lexik. Beispiele sind ajournieren ,aktualisieren’, Aranciata ‚Orangenlimonade’, Barist ‚Barbetreiber, Barmann (der ausschenkt)’, Basisarzt ‚Hausarzt’, Carabiniere ‚Polizist’, Hydrauliker ‚Klempner’, Laureat ‚Hochschulabschluss, Diplom’, Obstmagazin ‚Obstgarten’, Partikularsekretär ‚persönlicher Referent (eines Politikers)’, sequestrieren ‚(behördlich) beschlagnahmen’, Supplenz ‚Vertretung einer Lehrperson an einer Schule’“ (Ammon 2015: 247).

Die Sprache Deutsch: Zwei entgegengesetzte Tendenzen

Gesteuerte Veränderungen

Ungesteuerte Veränderungen