Sicherheit vs. Sicherheitswahn

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 Präsentation transkript:

Sicherheit vs. Sicherheitswahn St. Gallischer Juristenverein 16. Februar 2017 Prof. Martin Killias

Unsicherheit – wer? wann? warum? Verwundbarkeit ist der Schlüssel Drei Komponenten: Kann etwas passieren? Wie schlimm wird es sein? Kann man sich schützen? 3. Kriminalitätsangst: Wie gefährlich ist es – hier, jetzt? Wie weiss man das? Wie schlimm könnte es sein? Wird jemand helfen? Wie kann man Folgen lindern? Ereignis vorbeugen?

Persönliche, soziale, situative Faktoren Wie verwundbar man ist, hängt ab von persönlichen Faktoren (Geschlecht, Alter, Gesundheit) sozialer Unterstützung (würde jemand helfen?) situativem Umfeld (Dunkelheit vs. Tag, Stadtteil) 2. Empirisch gut belegt: Frauen und ältere haben mehr Angst als jüngere Männer Behinderte mehr als Gesunde Nachts fürchtet man sich mehr als tagsüber in Zonen mit sichtbaren Problemen mehr, im Zug mehr als im Bus Mehrfach-Opfer besonders ängstlich (Erfahrung von Kontrollverlust) Eigene Opfererfahrungen (berichtet von 12%; Angst 30% vs. 22%) Beinahe-Viktimisierung (berichtet von 11%, Angst 48% vs. 21%)

Unsicherheitsgefühl (ICVS 2011) «Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit allein in Ihrer Wohngegend zu Fuss unterwegs sind?» Antwort: (etwas) unsicher Kriminologie I, FS 2013, Prof. Dr. iur Killias, 19.04.2013

Wie misst man Unsicherheit? Angst im Umfeld des Wohnortes (1 km, zu Fuss, nachts) Vorsichtsmassnahmen im Alltag (nicht allein ausgehen, öV/bestimmte Orte/Leute meiden) «Wie wichtig finden Sie Kriminalität als Problem?» «Finden Sie, die Kriminalität habe zu-/abgenommen?» Jeder dieser Indikatoren hat Schwächen und Stärken am hilfreichsten: konkrete Vorsichtsmassnahmen im Alltag

Hat Unsicherheit mit der realen Lage zu tun? Problem: Höhe der Risiken ist schwer einzuschätzen, das geht nur bei starker Variation Generell: Vermeidungsverhalten korreliert besser mit Kriminalitätsentwicklung Dies gilt im räumlichen und zeitlichen Vergleich

Kriminologie I, FS 2013, Prof. Dr. iur Killias, 19.04.2013

Objektive Kriminalität und Vermeidungsverhalten (alle Kte./Gde.) Die Korrelation zw. objektiver Sicherheit und Vermeidungsverhalten ist noch höher Sicherheitsbefragung 2011 Pearsons r: 0.476 (* Sig.) Kriminologie I, FS 2013, Prof. Dr. iur Killias, 19.04.2013

Prof. Dr. iur. Martin Killias, Lorenz Biberstein, MA Zusammenhang zwischen Opferraten Sexualdelikt und Unsicherheitsgefühl (Frauen, in %), in befragten Kantonen und Gemeinden, 2015 Crime Survey 2015, Prof. Dr. iur. Martin Killias, Lorenz Biberstein, MA 08.11.2018

Veränderung Opferraten über die letzten 5 Jahre in der Schweiz gem Veränderung Opferraten über die letzten 5 Jahre in der Schweiz gem. Crime Survey, 1984/86 - 2015; 1984/86 = 100%

Vorsätzliche Körperverletzungen gemäss PKS / SUVA

Gewaltdelikte (rechte Skala) und Unsicherheit («unsicher» in %, linke Skala)

Folgerungen Bei deutlichen Unterschieden zwischen Gemeinden bzw. Quartieren schätzen die Leute die Lage realistisch ein Veränderungen im Zeitablauf wirken sich auf das Sicherheitsgefühl aus (in beiden Richtungen) Die Menschen nehmen Veränderungen durchaus wahr

Öffentliche Meinung Hypothese: Medien  Angst bei Lesenden  punitive Einstellungen  Politik greift ein Punitive Politik ist Folge von Medien-Berichterstattung über Kriminalität. Stimmt das auch??

Öffentliche Meinung: Punitivität Hängt empirisch mit Angst auf der Strasse wenig zusammen (keine Korrelation) Man kann auch ohne Angst zu haben punitiv sein Einfluss der Medien via politische Einstellungen, nicht Angst Moral-Kampagnen eher wirksam Grosser Einfluss der Gerichtspraxis analog: Genugtuungssummen in den USA vs. Europa Öffentliche Meinung orientiert sich an der realen Justiz Gilt für Strafmasse (was ist «gerechte» Strafe, Todesstrafe u.a.) Staat (Justiz) als moralische Instanz?

Angst: ein Produkt der Medien? Medien-Einfluss sehr gering Einfluss konkreter Erfahrungen (betroffen v.a. junge Männer!) Eigene Opfererfahrungen (berichtet von 12%; Angst 30% vs. 22%) „Beinahe-“Viktimisierung (berichtet von 11%, Angst 48% vs. 21%) Angst ändert sich nur bei starken Veränderungen der Kriminalitätsraten Extreme Zu-/Abnahmen werden wahrgenommen (analog Strafrisiken…)  Parallele zu Forschungen über Generalprävention extreme Unterschieden zwischen Quartieren Unterschiede zwischen Gemeinden/Kantonen weniger extrem

Sicherheitswahn: der Glaube an Prognosen Die Frage nach der Sicherheit wird verkürzt auf die Frage, was mit «Gefährlichen» zu tun sei Die Umwelt wird ausgeklammert, es geht nur noch um den Menschen… Glaube an Behandelbarkeit ist ungebrochen Heute Glaube an Prognose-Instrumente verbreitet Ziel: langfristige Inhaftierung als Mittel zu mehr Sicherheit Extrembeispiel: Internierung Jugendlicher ROS als Allerheilmittel

Gefährliche Illusionen ROS (und anderen Prognose-Instrumenten) als Wundermittel dabei werden < 20% der wirklich gefährlichen Täter (wie sich dann später zeigte) als «abklärungsbedürftig» erkannt grosse Fehlerquote bei Prognosen generell 2. Grund dieser mageren Bilanz: Menschliches Verhalten ist schwer prognostizierbar Viele Variablen beeinflussen Verläufe 3. Fehlprognosen nach beiden Richtungen: viele Gefährliche werden nicht erkannt, Ungefährliche werden weggesperrt Legitimationsproblem für ein Präventionsstrafrecht

Was soll man tun? Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn des Rechts: Die Herstellung von Gerechtigkeit. Das schliesst präventive Orientierung nicht aus, aber sie darf nicht zur alleinigen Richtschnur werden. Moderates Strafen, aber auch moderates Behandeln wäre angezeigt. Heute wird die «kleine» Gewalt auf der Strasse bagatellisiert, da sich hier Behandlung nicht «lohnt».