Die Rechtschreibreform München, PI, 15.01.2008 Informationsüberblick und didaktische Hinweise zum aktuellen Stand © Dr. S. Hummelsberger
Überblick Vorbemerkung zur Geschichte der reformierten Rechtschreibung Überblick Rechtschreibprinzipien Wesentliche Inhalte des derzeitigen Standes 1. Laut-Buchstaben-Beziehung 2. Zeichensetzung 3. Worttrennung 4. Getrennt- / Zusammenschreibung 5. Groß- / Kleinschreibung Allgemeine didaktische Hinweise
0.1 Vorbemerkung zur Geschichte der reformierten Rechtschreibung seit 16. Jhdt. allmähliche Ausdifferenzierung einer deutschenRechtschreibung vor 1870: differierende Schreibweisen in den deutschen Staaten 1870/71: deutsche Einigung Vereinheitlichungsbestrebungen 1876: Erste Rechtschreibkonferenz 1880: Konrad Duden: „Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ 1901/02 : Zweite Rechtschreibkonferenz; Einheitsorthographie in D, A, CH 1933-45: Nationalsozialistische Reformversuche 1954: „Stuttgarter Empfehlungen“
1955: im Zweifelsfall Duden 1958: „Wiesbadener Empfehlungen“ 1973: „Wiener Empfehlungen“ 1986: Dritte Orthographische Konferenz in Wien 1989: Reformvorschläge für Neuregelung, hitzige Diskussionen 1992/93: teilweise Rücknahme der Vorschläge 1994/95: nochmalige Überarbeitung auf Initiative des damaligen bayer. Kultusministers; vorläufige Einführung in der 1. und 2. Klasse 1.8.1998: Inkraftstreten der neuen Regelungen; Übergangsfrist bis 31.7.2005 seit 2000: Zunahme von Individuallösungen, Rückkehr zu alten Schreibungen und Doppellösungen seit 1. August 2006: Reformierte Rechtschreibung
Fazit: Die 1901 eingeführte einheitliche Ortho-graphie konnte erst 2006 neu geregelt werden. Die durchgesetzten Neuerungen sind insgesamt eher gering und betreffen nur wenige % des Bestands. Die großen Problembereiche bleiben überwiegend unangetastet.
Der keiser sitzt im bot und isst al.
0.2 Die Rechtschreibprinzipien a) Lauttreue (Graphem-/Phonemkonstanz) b) Stammprinzip c) Grammatisches Prinzip d) Historisches Prinzip e) Differenzprinzip f) Ästhetisches Prinzip (g) (Bildungsbürgerliches Prinzip)
a) Lauttreue (Graphem-/Phonemkonstanz) Vom Prinzip her korrespondiert je ein Laut (Phonem) mit je einem Schriftzeichen (Graphem). Das Problem dabei ist, dass das lateini-sche Alphabet nicht dem Lautbestand des Deutschen entspricht. Für manche Phoneme existiert gar kein Graphem, für andere gibt es mehrere Möglichkeiten!
Beispiele mangelnder Graphem-Phonem-Konstanz: Phoneme, für die kein Graphem existiert: Ich, ach, sch-, -er, -ng, Umlaute ä, ö, ü keine Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen; [o] Ton, Lohn, Boot, ie Phoneme, für die mehrere Grapheme existieren: v, f, ph - x, chs, ks Auslautverhärtung bei d,b,g,s: >Kint< [Kind] Fremdwörter: Frisör / Friseur
b) Probleme beim Stammprinzip: Auslautverhärtung starke Verben mit Wechsel des Stammvokals oftmals Konkurrrenz zum Lautprinzip: z. B. wissen, weiß kommen, kam (nicht kamm)
c) Grammatisches Prinzip Das grammatische Prinzip regelt die Groß- und Kleinschreibung sowie die Zeichensetzung. Das Problem im Deutschen ist der Wort-klasenwechsel, da nur im Deutschen Substantive (Nomen, Hauptwörter) groß geschrieben werden: Bsp.: der Hammer, hämmern, gehämmert, das Hämmern …
d) Historisches Prinzip Ohne Kennntisse der Sprachhistorie gibt es keinerlei schlüssige Erklärung für bestimmte Schreibweisen: Reh, Schuh, rau(h) Thron, Kaiser Mädchen (Maid) Photograph / Fotograf
e) Differenzprinzip Gleichlautende Wörter können durch verschiedene Schreibweisen unter-schieden werden. weise – Waise Mohr – Moor Wal – Wahl Sohle - Sole
f) Ästhetisches Prinzip Aus ästhetischen Gründen gibt bzw. gab es bestimmte Graphemkombinationen im Buchdruck nicht. Manche Trennungen waren verboten. kk ck Ein-stein stst st Last - La I sten fff ff
Bildungsbürgerliches Prinzip Im Deutschen herrscht: ein genereller Sprachkonservativismus; eine Scheu, Fremdwörter einzudeutschen; die Tendenz, Schreibweisen, die auf das griechische oder lateinische Original zurückgehen, beizubehalten; vereinfachende Rechtschreibung abzulehnen Bsp.: [dt.] Philosoph, [türk.] filosof [dt.] Photographie, [ital.] fotografia [dt.] Thunfisch, [ital.] tonno [engl.] tuna
Probleme tauchen insbesondere auf, wenn: Rechtschreibprinzipien nicht leicht erkennbar sind; mehrere Rechtschreibprinzipien konkurrieren (z. B. Laut- vs. Stammprinzip); Rechtschreibphänomene nur mittels historischen Wissens erklärbar sind; die korrekte Rechtschreibung nur mittels der Kombination mehrerer Regeln zu ermitteln ist.
Informationsüberblick und didaktische Hinweise zum aktuellen Stand 2. Teil Informationsüberblick und didaktische Hinweise zum aktuellen Stand der reformierten Rechtschreibung
1. Laut-Buchstaben-Zuordnung 1.1 ss/ß Das >ß< steht immer nach lang gesprochenem Vokal (Selbstlaut) und nach zusammenlautenden Vokalen (au, ei,usw.) Maß, Floß, groß, heiß, weiß, draußen, Straße …
Das >ss< steht immer nach kurz gesprochenen Vokalen (Selbstlauten): Fass, Stress, Biss, Masse, Missverständnis, muss, müssen, hasst, hassen, dass, Ass Ausnahmen: Bei Wörtern mit >s< im Auslaut (Wortende): Maus, Haus, Reis usw. (Unterrichts-Tipp: Verlängerungsprobe)
1.2 Stammprinzip Bei einigen Wörtern wurde die Schreibweise geändert, da verwandte Wörter unterschiedlich geschrieben werden. alt: Nummer – numerieren; neu: nummerieren alt: Platz – plazieren; neu: platzieren alt: Stange – Stengel; neu: Stängel (Unterrichts-Tipp: auswendig lernen)
1.3 drei gleiche Buchstaben Ganz einheitlich geregelt ist jetzt die Schreibung, wenn drei gleiche Buchstaben aufeinander treffen. Alle drei werden geschrieben. Bestellliste, Sauerstoffflasche, Schifffahrt, Seeen, Teeei (ggf. Bindestrich für bessere Lesbarkeit) Ausnahme: Drittel und Mittag bleibt! (Unterrichts-Tipp: auswendig lernen)
1.4 Fremdwörter In den meisten Fällen wird zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt. >ph<: In einigen Fällen wie >phon<, >phot<, >graph< kann auch >f< geschrieben werden. Bei >tial< und >tiell< kann >z< geschrieben werden, wenn ein verwandtes Wort mit <z< existiert: Potenzial potentiell/potenziell; Essenz essentiell/essenziell; Differenz Differential/Differenzial Bei eingedeutschten Wörtern mit >th< kann das >h< entfallen: Spagetti, Panter, Tunfisch, Katarr
2. Zeichensetzung 2.1 Kommata Zwischen zwei Hauptsätzen kann ein Komma stehen. Er geht schwimmen [,] und sie geht tanzen. [ aber: Er mag schwimmen und tanzen.] Infinitivsätze (zu + Verbgrundform) können mit Komma geschrieben werden. Er nahm sich vor (,) dieses Jahr mehr zu lernen.
um …zu, ohne … zu, statt … zu, anstatt … zu, als … zu, außer … zu Ein Komma muss geschrieben werden, wenn der Infinitivsatz (mit >zu<) wie folgt eingeleitet wird: um …zu, ohne … zu, statt … zu, anstatt … zu, als … zu, außer … zu Er kam zur Berufsschule, um zu lernen. Er ging, ohne sich zu verabschieden. Er liebte McDonalds, statt gesund zu essen. Etwas besseres, als zu sterben, finden wir überall. Unterrichts-Tipp: Signalwörter lernen
Das Komma muss geschrieben werden, wenn ein Nebensatz mit >zu< eine erklärende Funktion hat, also ein anderes Wort im Satz näher beschreibt. Sein Ziel, den Quali zu erreichen, hat er nicht geschafft. Er hatte nur den einen Wunsch, wieder gesund zu werden. Sie erinnerte ihn daran, das Einkaufen nicht zu vergessen. Wir haben es nicht bereut, so intensiv gearbeitet zu haben. (Unterrichts-Tipp: Regel lernen)
2.2 Der „Deppen-Apostroph“ Erlaubt ist jetzt (leider!) bei der Grundform eines Namens im Genitiv (besitzanzeigenden Fall) ein Apostroph zu setzen: Rudi‘s Schluckstüberl, Meyer‘s Bistro, Inge‘s Salon usw. Niemals steht der Apostroph bei Mehrzahl, Wortzusammen- setzungen oder wenn einfach ein >s< am Ende eines Wortes steht!
Nun kommt eine … Lernzielkontrolle Welche der folgenden Apostroph-Schreibungen sind richtig, welche falsch?
2.3 Bindestrich In einfachen Ziffer-Wort-Verbindungen wird der Bindestrich gesetzt: 4-Türer, 8-eckig, 14-tägig, 100-prozentig Der Bindestrich entfällt, wenn die Ziffer eine Nachsilbe hat: 68er, 100stel, 10%ig, 15er Bei unübersichtlichen Schreibungen kann ein Bindestrich gesetzt werden: Desktop-Publishing, Moselwinzer-Genossenschaft
3. Worttrennung >st< wird jetzt getrennt wie >sp<: Las-ter, Wes-te, ros-ten, Kas-ten… Einzelne Buchstaben dürfen nicht mehr abgetrennt werden: A-ber, I-gel, Bi-o-laden, a-bends
Bei Fremdwörtern oder Wörtern, die nicht mehr als Zusammensetzung empfunden werden, sind oft mehrere Trennungen erlaubt: Päd-a-go-gik / Pä-da-go-gik; ma-gne-tisch / mag-ne-tisch Inter-esse / In-te-resse; Si-gnal / Sig-nal; hi-nab / hin-ab; wa-rum / war-um; Missverständliche Trennungen sollen vermieden werden: Urin-stinkt Ur-instinkt
Eine kurze Pause …
4. Getrennt- / Zusammen- schreibung 4.1 Nomen und Verb In der Regel Getrenntschreibung: Auto fahren, Klavier spielen, Diät halten, Angst machen usw. Ausnahmen: untrennbare Zusammensetzungen oder verblasste bzw. übertragene Bedeutung: stattfinden, teilnehmen, nachtwandeln, schlussfolgern usw. [Unterrichtstipp: Wenn die stärkere Betonung auf dem ersten Wortteil liegt, wird meist zusammengeschrieben.]
4.2 Infinitiv (Grundform) und Verb Fast immer Getrenntschreibung: rechnen lernen, lesen üben, baden gehen, spazieren gehen, schreiben lassen usw. Ausnahmen: Verbindungen mit >bleiben< oder >lassen< können sowohl zusammen als auch getrennt geschrieben werden. sitzen bleiben / sitzenbleiben, liegen lassen / liegenlassen
In der Regel wird getrennt geschrieben. 4.3 Adjektiv und Verb In der Regel wird getrennt geschrieben. auswendig lernen, schön schreiben, schief ansehen Oft sind beide Schreibweisen zulässig: allgemein gültig / allgemeingültig; in Frage / infrage; zu Grunde / zugrunde; mit Hilfe / mithilfe; an Stelle / anstelle; zu Gunsten / zugunsten klein schneiden / kleinschneiden ; glatt hobeln / glatthobeln usw. Ausnahmen: Bei Bedeutungswandel Zusammenschreibung: krankschreiben, freisprechen, kürzertreten
Zusammen- oder Getrenntschreibung, wenn das Verb ein Partizip (Endung mit -end<) ist: Aufsicht führend / aufsichtführend Erdöl exportierend / erdölexportierend allgemein bildend / allgemeinbildend Gewinn bringend / gewinnbringend allein erziehend / alleinerziehend Zwingende Zusammenschreibung bei Verkürzungen: ausschlaggebend den Ausschlag geben milieubedingt durch das Milieu bedingt Zwingende Getrenntschreibung bei Erweiterungen: gewinnbringend / einen großen Gewinn bringend aufsichtführend / eine strenge Aufsicht führend irgendein / irgend so ein … irgend etwas / irgend so etwas ….
5. Klein- / Großschreibung Vorbemerkung: Durch die zahlreichen Ände-rungen, Nachbesserungen und den Druck der Öffent-lichkeit ist dieser Komplex jetzt (leider!) wieder ebenso kompliziert wie vor der Reform geworden!
5.1 Nomen mit Präpositionen Bei feststehenden Ausdrücken in der Regel Großschreibung: in Bezug auf mit Bezug auf außer Acht lassen sich in Acht nehmen usw.
5.2 Nomen mit Verben Bei feststehenden Ausdrücken, die getrennt geschrieben werden, fast immer Großschreibung: Rad fahren, Auto fahren, Maschine schreiben, Angst machen, Schuld haben usw. Ausnahmen: feststehende Wendungen mit >sein<, >bleiben< und >werden<: mir ist bange, du bist schuld, ihr wird angst
Na, so was Blödes! Der Duden ist schuld daran! Richtig ist also: Der Duden ist schuld daran! aber genauso: Der Duden hat Schuld daran! Unterrichts-Tipp: Einsetzprobe mit Artikel
5.3 Ordnungszahlen Einfache Regel: Alle Ordnungszahlen, die wie ein Nomen gebraucht werden, schreibt man groß. als Erstes, als Dritter an der Reihe sein, jeder Hundertste, wie kein Zweiter… Unterrichts-Tipp: Einsetzprobe oder Ersatzprobe mit Artikel
5.4 feststehende Begriffe mit „versteckten“ Artikel Faustregel: nach „versteckten“ Artikeln wird das nachfolgende Wort groß geschrieben: z. B.: sich im Klaren sein im = in dem im Argen liegen, zum Besten geben, auf dem Laufenden halten, auf dem Trockenen sitzen Aber: von fern, von klein auf, über kurz oder lang, gegen bar Also: von nahe aber: aus der Nähe Unterrichts-Tipp: „versteckte Artikel“
Übrigens: Die Originalregel (Duden) lautet: „Nominalisierte Adjektive und Partizipien in festen Verbindungen werden groß geschrieben – unabhängig vom eigentlichen oder übertragenen Gebrauch des Adjektivs. Feste Ausdücke werden dagegen kleingeschrieben.“ Unterrichts-Tipp: Kann man glatt vergessen!
Uff - Wir haben es fast geschafft! Nur noch ein paar einfache Kleinigkeiten:
Ein Referat auf Französich halten … 5.5 Sprachbezeichnungen Großschreibung in Verbindung mit Präpositionen oder Artikel Also: Ein Referat auf Französich halten … Einen Brief in Englisch schreiben … Er kann kein Türkisch. Ins Serbische übersetzen … Er spricht italienisch.
Großschreibung in Verbindung mit: [vor]gestern, heute, [über]morgen 5.6 Tageszeiten Großschreibung in Verbindung mit: [vor]gestern, heute, [über]morgen vorgestern Nachmittag, gestern Abend heute Morgen, morgen Vormittag übermorgen Mittag Kleinschreibung grundsätzlich bei angehängtem >-s<: abends, mittags, morgens … Unterrichts-Tipp: Signalwörter lernen
5.7 feststehende Zusammensetzungen Meistens Kleinschreibung: der erste Spatenstich, die silberne Hochzeit, der goldene Schnitt, die stille Zeit, der heilige Geist Ausnahmen: Bei Verwechslungsfahr oder Betonung der übertragenen Bedeutung ist Groß-schreibung möglich. ein schwarzes Brett zersägen ans Schwarze Brett hängen ein rotes Kreuz aufmalen das Rote Kreuz alarmieren
In Fachsprachen (Wissenschaft, Biologie, Botanik, Technik, Medizin etc In Fachsprachen (Wissenschaft, Biologie, Botanik, Technik, Medizin etc.) können Gattungsbezeichnungen und feste Begriffseinheiten weiterhin groß geschrieben werden. das Fleißige Lieschen die Schwarze Witwe die Eiserne Lunge in der Nordischen Kombination ein Schwarzes Loch das Wiener Schnitzel
5.7 Personennamen Adjektive, die aus Personennamen abgeleitet sind, schreibt man ohne Apostroph klein, mit Apostroph abgetrennte Namen aber groß. das ohmsche Gesetz - der Ohm‘sche Widerstand ein freudscher Versprecher – das Freud‘sche Gesamtwerk
5.8 Anreden vertrauliche Anrede >du<: kann in Briefen jetzt wieder groß geschrieben werden, ansonsten klein förmliche Anrede >Sie<: wird wie bisher obligatorisch groß geschrieben
Allgemeine didaktische Hinweise Der Trend geht vom auswendig Lernen hin zum Regel Lernen. Die Arbeit mit Rechtschreibprinzipien fördert das Regel Lernen und die Transfer-fähigkeit. Das Diktat ist eine Prüfungsform, keine Übung. Die Nachschrift und das Abschreiben fördert den Transfer nicht!
Allgemeine didaktische Hinweise Bei Verbesserungen und Übungen: - Wortfamilien statt Einzelwörter; - ähnliche Wörter (z. B. Reimwörter) statt Einzelwörter; - ggf. im Verwendungszusammenhang (z. B. mit Artikel, feste Wendungen); - viel Nachschlagen im Duden.
Allgemeine didaktische Hinweise Wichtige Rechtschreibprinzipien: auf den Wortstamm achten aus ähnlichen Wörter ableiten Verlängerungsprobe auf Vor- / Nachsilben achten gegliedert / in Silben vorsprechen Artikelprobe Nachschlagen in Bestandteile zerlegen auf Funktion im Satz achten
Das war‘s! © Dr. S. Hummelsberger / 2008