Methodologie politischer Ideengeschichte: Cambridge School

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
„Beziehung“ als Leitbegriff der Religionspädagogik
Advertisements

Übung zu Einführung in die LDV I
IB mit t&t Wintersemester 2004/05 1 Tutorien Mo.12-14Zeljo BranovicIhne 22/E2 Mo.12-14Silke LodeIhne 22/UG2 Mo.12-14Simon SottsasOEI 301 Di.14-16Harald.
Geschichte der Geschichtswissenschaft
Geschichte der Geschichtswissenschaft Kurze überblicksartige Zusammenfassung – Ein Vorschlag.
Landeskunde deutschsprachiger Länder 德语国家国情
Die modernen Geschichtswissenschaften
Do. 10. Dez.: IV. „Hermeneutik“
VII. Prinzipien Christlicher Sozialethik I
II. Was ist Christliche Sozialethik?
Geschlecht – Umwelt - Generation
Feministische Wissenschaftskritik und Methoden der Geschlechterforschung: Einführung in die Problemstellungen Wieso sind die wissenschaftlichen Forschungsmethoden.
HCI – Tätigkeits Theorie (Activity Theory)
Intersectionality ein neues Forschungsparadigma?
Vorstellungsbildung im Literaturunterricht
Grundkurs praktische Philosophie 10
Was ist eigentlich Psychologie????
VL Bewegungswissenschaft VL Bewegungswissenschaft 8. Motor Control: Neue Theorien.
VL Bewegungswissenschaft 8. Motor Control: Neue Theorien
Von Dennis Hölzle und Andreas Kempf
DAS POLITISCHE DENKEN DER AUFKLÄRUNG:
«Vorhang auf!» Einstieg in die Kapital-Lektüre mit PolyluxMarx
Science und Gender Hat die Wissenschaft ein Geschlecht?
EMPIRISCH- KRITISCH- HISTORISCHER ANSATZ
Referatsgruppe Dr. Eva Kreisky Geschlecht als politische und politikwissenschaftliche Kategorie erschienen in: Rosenberger Sieglinde K., Sauer.
Übersicht: Gesellschaft, Kultur, Institution, Organisation
Sociolinguistics Soziolinvistik
Kapitel 10. Feminismus Begriffliches Ideologische Grundlagen
Politisches System Schweiz
Einleitung Politische Ideen und ihre Träger Vorlesung WS 2000/2001 Institut für Politikwissenschaft Universität Bern, Andreas Ladner.
Aktualität und Geschichte von politischer Theorie und Ideengeschichte
In welchem Raum könnte für Sie ein Anliegen/Thema oder eine Lösung liegen ? In welchen Raum möchten Sie/sollten wir Fragen stellen? Systemisches Handeln.
Verstehst du das denn? Seneca
Theorien des Politischen
Vorstellungstheorie: Bedeutung als mentale Struktur.
„Dem Wert auf der Spur…“ Karl Marx‘ Das Kapital - Erster Band
Theorie ist ein Netz, das ausgeworfen wird, um Realität einzufangen
Strukturen und Probleme der Gegenwartsgesellschaft(en)
Methodologie politischer Ideengeschichte: Ideologie und Ideologiekritik 24. November 2009.
Methodologie politischer Ideengeschichte: Diskurstheorie
Methodologie politischer Ideengeschichte I: Hermeneutik
VO Politische Theorien
Methodologie politischer Ideengeschichte: Ideologie und Ideologiekritik 06. Mai 2008.
Methodologie politischer Ideengeschichte: Diskurstheorie 29. April 2008.
Methodologie politischer Ideengeschichte: Cambridge School 20. Mai 2008.
Aktualität und Geschichte von politischer Theorie und Ideengeschichte 01. April 2008.
VO Politische Theorien Univ. Prof. Dr. Birgit Sauer.
VO D6/G6: Einführung in die Politikfeldanalyse
Zwei Bedeutungen von Wort
Inklusion/Exklusion von Menschen mit Behinderung
1 Strukturierung von Situationen (Strukturierung als Lernkomponente) Thomas Höpfel Seminar für Rechtstheorie und Rechtsinformatik WS 2004/05.
Dr. Petra Bendel Der Vergleich in der Politikwissenschaft für: Seminar „Migrationspolitiken in Europa“
GTSA II – Einführung in Gegenstand & Theorienverständnis d. Sozialarbeit II.
Kuhn Thomas Samuel Wissenschaftstheoretiker.
Wissenschaftstheorie
Examen IB Geschichte.
O BJEKTIVE H ERMENEUTIK Fallrekonstruktive Familienforschung Katharina Engelmann.
Was ist religiöser Fundamentalismus
VO G6 H. Gottweis - SoSe 2oo8: (4) Klassische Policy-Modelle VO G6: Einführung in die Politikfeldanalyse 4. Stunde am 17. April 2008: Klassische.
Informationen für Eltern, Schülerinnen und Schüler
Historische und philosophische Grundlagen des Strafrechts
Inhalt Kap. 29: Defining Culture Kap. 30: Games as Cultural Rhetoric Kap. 31: Games as Open Culture.
Tutorium Inhalte heute  Organisatorisches  Einführung in postmoderne Ansätze in den Internationalen Beziehungen.
Kognitive Methoden  Als eine Auseinandersetzung mit der behavioristischen Lerntheorie Skinners  entsteht in den späten 60-er Jahren eine Verbindung.
"Und wieso macht du das?" Wie kommen Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit aus der Revanzfalle?
Übersichtsschaubilder
Vo#1:Semantik als Wissenschaft Semantik I Matej-Bel-Universität in Banská Bystrica Zuzana Tuhárska.
Systemik Verhandlungstechnik und alternative Streiterledigung, FS 2012
Prototyping Berlin · Seite 2 Prototyping: Was und wozu Die Zukunft ausprobieren und erfahren durch „Machen“. Einen Mikrokosmos kreieren.
Zentrale Themen, Fragestellungen, Methoden und Vorgehensweisen der Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft Die sozialwissenschaftliche Perspektive.
 Präsentation transkript:

Methodologie politischer Ideengeschichte: Cambridge School 15. Dezember 2009

Geschichtswissenschaftliche Innovationen in der politischen Ideengeschichte Interesse an Sprachanalyse => Diskursanalyse (französisch) Cambridge School (anglo-amerikanisch) Begriffsanalyse (deutschsprachiger Raum)

„Clou“ ideengeschichtlicher Sprachanalyse Verbindung von Ideen/Text und Wirklichkeit/Gesellschaft/Politik erfassen Von der Erforschung der „Wortinhalte“ und „Bedeutungsgeschichten“ – Aufschluss über politische, soziale, kulturelle Wirklichkeit

Cambridge School Entstehung in den 1960er und 1970er Jahren in Großbritannien Schüler in den USA Cambridge School of Historiographics =>neues Konzept der historischen Bearbeitung politischer Ideen

„Cambridge School“ Peter Laslett Philosophy, Politics and Society, Oxford, 1956 Quentin Skinner Meaning and Understanding in the Histories of Ideas (Aufsatz 1969) Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge, 1996 Liberty before Liberalism, Cambridge, 1996 The Foundations of Modern Political Thought (2 Bde.), Cambridge, 1978 John G. A. Pocock Politics, Language and Time, London, 1972 The Reconstruction of Discourse. Towards a Historiography of Political Thought, 1981 The Machiavellian Moment, Princeton, 1975 Terence Ball Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge, 1989

Terence Ball Kritische Begriffsgeschichte schließt an Cambridge School an Ideengeschichtlich arbeitende Historiker, NICHT Theoriearbeit in der Politikwissenschaft

Ausgangspunkt Thomas Kuhn (Wissenschaftsgeschichte/Wissenschaftstheorie) („The structure of scientific revolution“): Wann kommt es zu neuen (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen? Wie kommt es zu Paradigmenwandel in den Wissenschaften? => Widersprüche zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit führen zu „wissenschaftlichen Revolutionen“

Anknüpfung an Kuhn Frage nach Diskontinuitäten und Brüchen im wissenschaftlichen Denken/in der politischen Ideengeschichte Frage nach „Umbruchphasen“ des Wissens CS fokussiert auf die Zeit zwischen 1400 und 1600: Umbruch vom christlich-religiösen zum naturwissenschaftlichen Wissen

Anknüpfung Herausarbeiten von „politischen Sprachen“, von politischen Paradigmen, charakteristischen Argumentationsmustern Im Zentrum stehen die Subjekte der Text-/Theorieproduktion (Unterschied zu Ideologiekritik und Diskurstheorie). Ziel: Analyse/Verstehen des Denkens, Schreibens der Theoretiker aus dem historischen Kontext heraus

Anknüpfung Sprache als System  Denker muss sich des Systems bedienen Sprache/Theorie bewegt sich innerhalb eines Sprach-/Denksystems

Cambridge School Gegen Mythos einer linearen Entwicklung politischen Denkens (s. Kuhn) Geschichte der (Um-)Brüche unterschiedlicher politischer Sprachsysteme

Bedeutung der Sprache Sprache der Politik  Politik der Sprache (Pocock) Sprache konstituiert Ordnung sozialer und politischer Wirklichkeit Sprache besitzt für eine Sprachgemeinschaft paradigmatische Funktionen: Archiv des Denkens/Wissens Politische Ideen sind Paradigmen, die die Welt erklären

Politische Theorien als Paradigmen Vertrag als „Musterlösung“ des politischen Zusammenlebens (Gesellschaftsvertrag, Generationenvertrag) Staat als Körper Theoriepolitische „Revolutionen“/Paradigmenwechsel, wenn die Theorie die Wirklichkeit nicht mehr adäquat erklärt

Politisch-theoretische Revolutionen Neue Begriffe, neue Sprache, neue Theorien: Beispiel: Demokratie, Zivilgesellschaft

Vorhaben des CS Ersetzen der Ideengeschichte durch eine Sprachgeschichte Politische Sprache enthüllt die politischen Ideen der Zeit

Genese der CS Quentin Skinner: „Meaning and Understanding in the History of Ideas“ (1969): politische Theorien der Vergangenheit bieten KEINE überzeitlichen, anthropologischen Antworten auf konstante Fragen

Quentin Skinner Politische Ideen sind keine bloßen ex-post-Rechtfertigungen politischen Handelns => Gegenposition zur Ideologiekritik Theorien sind immer situationsgebunden, sie sind spezifische Antworten auf spezifische Fragen Theorien sind kein Spiegel von materiellen oder Machtverhältnissen

Quentin Skinner Erst in der Verwendung/Praxis der Ideen erschließt sich ihre Bedeutung Sprache ist Handlung/Praxis => sprachliche Handlung

Sprechakttheorie: Ludwig Wittgenstein (1889-1951) John L. Austin (1911-1960) John Rogers Searle (*1932)

Sprechakttheorie Lokutionärer Akt (Beschreibung einer Handlung, eines Gegenstands) Illokutionärer Akt (Sprechen bewirkt unmittelbar etwas)

Sprechakttheorie und CS Zur Interpretation von historischen Ideen muss man a.) die Wortbedeutung eines Textes rekonstruieren b.) die Absicht des Autors rekonstruieren (Welches aktuelle Problem wollte der Autor bearbeiten?) Dazu muss man die sprachlichen Konventionen der Zeit kennen.

Sprache/Problem des zu analysierenden Autors Skinner: Analyse politischer Sprache Sprachliche Konventionen der Zeit „linguistic context“ gesamtes Diskursfeld/ sprachliches Umfeld Sprache/Problem des zu analysierenden Autors

Quentin Skinner Gegen die Ableitung politischer Ideen aus einer sozio-ökonomischen Grundkonstellation Sozialer Kontext muss dem sprachlichen Kontext nachgeordnet bleiben Sozialer Kontext beeinflusst nur die Bedingungen der konventionellen Bedeutungen

Quentin Skinner Interpretation braucht (nur) sprachliche Kontextualisierung a.) Erschließung der authentischen Bedeutung im sprachlichen Erfahrungshorizont b.) Erforschung des durch den Autor eröffneten sprachlichen Neulands

John Pocock „The Machiavellian Moment“ (1975) Weniger Schwerpunkt auf „große Autoren“, denn auf sprachliche Konventionen einer Zeit Politische Sprache (Ideen) setzt politische Praxis und politisches Denken in einen konstitutiven Zusammenhang (Nähe zur Diskurstheorie)

John Pocock Sprach- und Ideengeschichtliche Methodologie basiert auf: 1. Linguistik von Ferdinand de Saussure: langue (=Summe aller zur Verfügung stehenden sprachlichen Äußerungen) parole (=Aktualisierung in konkret gesprochener/geschriebener Sprache) Problem der Determinierung durch die „langue“

John Pocock Entgegnung Pocock: Auseinandersetzung eines Theoretikers mit „seiner“ langue ist kein Determinismus, sondern ein dynamischer, interaktiver Prozess => 2. Sprachphilosophie (Ludwig Wittgenstein: Sprachspiel => Veränderbarkeit durch Sprache) 3. Kuhn‘sche Wissenschaftssoziologie (Paradigmenbegriff) 4. Hermeneutik

John Pocock Aufgabe des Ideenhistorikers: authentische Rekonstruktion einer historisch-sprachlichen „Landkarte“ (=langue) Zwei Typen politischer Sprache in einer Zeit: 1. institutional language in spezifischen Milieus, z.B. politische, rechtliche Sprache 2. political language, die im politischen Prozess entsteht, z.B. Theorie des partizipierenden Bürgers

John Pocock „Als Konsequenz hieraus ergibt sich, dass die (theoretische) Veränderung des Begriffssystems einer Gemeinschaft auch den Charakter der sozialen Wirklichkeit verändert und potenziell eine Veränderung politischer Institutionen und Handlungsweisen bewirkt.“ (The Machiavellian Moment, 1975)

materialistische Ansätze Cambridge School Begriffsgeschichte Wirklich-keit Text Ideologiekritik materialistische Ansätze

John Pocock Gesellschaftliche „Normalphasen“: politische Theorien legitimieren politische Verhältnisse/des existierenden gesellschaftlichen Paradigmas implizit (Demokratie – Deliberation) Legitimationskrisen des existierenden Paradigmas: Entstehen von „Großen Theorien“; Umwälzung der gesellschaftlichen „Lexikonstruktur“: Begriffsumdeutung, Begriffsneuerfindung (Bsp.: Staat)

John Pocock 2 Dimensionen ideengeschichtlicher Analyse: 1. Rekonstruktion herrschender Paradigmen/Sprachen = operatives Paradigma (Normalphase) 2. Gibt es verändernde/kritisierende/konkurrierende Paradigmen? (Hinweis auf Krisenzeiten): Krise des neoliberalen Paradigmas?

Kritik der CS „unreflected antiquarianism“ – CS will Theorien die Bedeutung für die Gegenwart nehmen Kritik an sprachphilosophischen Axiomen; durch die bloße Rekonstruktion des sprachlichen Kontexts kann nicht erschlossen werden, warum ein Autor so schreibt, wie er schreibt => Die dem Schreiben vorgelagerten Motive bleiben ausgeblendet

Kritik der CS Die sprachliche Rekonstruktion konstruiert eine Kohärenz des sprachlichen Umfelds, die es historisch nicht gegeben hat Eklektisch ausgewählte Theoriesegmente werden zum Ganzen konstruiert => self-fulfilling prophecy Generelle Vernachlässigung des sozialen und ökonomischen Kontexts Vernachlässigung der Frage des „Warum“ gegenüber dem „Wie“