Übersicht 1.Die Herausforderung Sprache 2.Psycholinguistik a)Was sie ist und was sie will b)Wie sie sich entwickelt hat c)Welche Methoden sie verwendet 3.Menschliche Sprachverarbeitung a)Modelle: Sprachproduktion und Sprachrezeption b)Allgemeines c)Worterkennung, Lexikalischer Zugriff d)Syntax, Parsing e)Semantik, Diskurs, Verstehen Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 2
Das Phänomen Sprache Scheinbar ist Sprache mühelos… zu erwerben zu verstehen zu produzieren Aber:Menschliche Sprache ist in vielfacher Hinsicht hochkomplex… …Menschen sind sehr robuste Sprachverarbeiter Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik
Das Phänomen Sprache Phonetik/Phonologie Komplexes physikalisches Signal (Schallwellen) Verrauschte Signale Koartikulation Stark unterschiedliches Klangbild jedes Sprechers Nebengeräusche, Stimmengewirr Fließende Übergänge zwischen Wörtern Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik d a n i e l m ü ll er
Das Phänomen Sprache Wörter Lexikalische Ambiguität (1) …Homonyme, Polyseme (2), (3) Metaphern, Metonyme Komposita: Wortbildung und -trennung (4) Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik (1)„Time flies like an arrow.“ (2)Kiefer, Bank, Ton (3)Zug, Läufer …Laut Guinness Buche der Rekorde 24 Bedeutungen! (4)Kalbsschnitzel vs. Kinderschnitzel, übersetzen vs. übersetzen
Das Phänomen Sprache Komplexe syntaktische Regeln Strukturelle Ambiguitäten auf Satzebene Global (1) Semantisch desambiguiert (2), (3) Lokal: Holzwegsätze (4) Skopusambiguität (5) Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 6 (1)„Gregor schlug den Schüler mit dem Weltatlas.“ (2)„Der Jäger sah den Hirsch mit dem Fernglas.“ (3)„Polizei erschießt Neunzehnjährigen mit Samuraischwert.“ (4)„The boat floated down the river sank.“ (5)„Jeder Mann liebt eine Frau.“ The boat that floated down the river sank. Gregor schlug den Schüler mit dem Weltatlas. (Weltatlas = Eigentum)Gregor schlug den Schüler mit dem Weltatlas. (Weltatlas = Instrument) …jeder Mann eine bestimmte…jeder Mann seine eigene
Das Phänomen Sprache Gesprochene Sprache Unterbrechungen, Ellipsen, Überlappungen, Versprecher Multimodalität (z.B. Deixis), Prosodie, Intonation (1) Pragmatik Indirekte Bedeutung (2) Ironie Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik (1)„Ja“ …mindestens 12 verschiedene betonungsabhängige Bedeutungen (2)A: „Kein Benzin mehr.“ B: „Um die Ecke ist ne Tankstelle.“ = Gibt es hier in der Nähe eine Tankstelle? Wo? = Da können sie tanken!
Das Phänomen Sprache Spracherwerb Lexikonerwerb bei –nicht erkennbaren Wortgrenzen –referentieller Unterspezifiziertheit Syntaxerwerb bei –unvollständigem oder falschem Input –fehlender oder nicht eindeutiger Korrektur Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 8
Psycholinguistik Linguistik Formalwissenschaftliche systematische Beschreibung natürlicher Sprache in Struktur und Funktion Sprache als abstraktes konventionalisiertes System Psychologie Empirische Erfahrungswissenschaft Befasst sich mit dem Erleben, Verhalten, Handeln und den kognitiven Leistungen des Menschen Systematisiert diese in Form allgemeiner Gesetzmäßigkeiten Kognitive Psychologie: Analyse der Struktur und Funktionsweise menschlicher intelligenter Leistungen Psycholinguistik Untersucht Sprache in ihrer Struktur und Funktionsweise als kognitive Leistung (Teilgebiet der Kognitiven Psychologie) Welche internen Repräsentationen und Prozesse sind nötig, um Sprache zu verstehen, zu produzieren und zu erwerben? Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik
Psycholinguistik Gegenstände Sprachproduktion »Botschaft – grammatische Oberflächenstruktur – phonetische und motorische Enkodierung Sprachrezeption »Physikalisches Signal – Lauterkennung – lexikalischer Zugriff – syntaktische Analyse – semantische Analyse – Bedeutung Spacherwerb »Erwerb aller Prozesse und Strukturen für die Rezeption und die Produktion/Motorik für Sprache Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik
Psycholinguistik Zentrale Fragen Repräsentation »Welche Repräsentationen werden bei der SV erzeugt/abgerufen? Welche Struktur unterliegt ihnen? Prozesse »Anhand welcher Prozesse/Algorithmen werden die Repräsentationen verarbeitet bzw. ineinander überführt? Architektur »Welche übergreifende Architektur liegt der SV zugrunde und koordiniert die vielzähligen Prozesse? Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 11
Psycholinguistik: Ein historischer Abriss Kognitive Neuropsychologie der Sprache –Bezug zwischen (verletzten) Hirnarealen und Sprachkompetenzen Ältere Sprachpsychologie –Beziehung zwischen Äußerungen und internen (mentalen) Zuständen –Entwicklungspsychologie und der Spracherwerb des Kindes –Organonmodell (Ausdruck, Appell, Darstellung) Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik W. WundtC. & W. SternK. BühlerP. BrocaC. Wernicke
Psycholinguistik: Ein historischer Abriss Behaviorismus –Beobachtbares Verhalten vs. mentale Zustände –„Verbal Behaviour“: Sprache als konditionierte Assoziationen (stimulus-response) Kognitive Wende –Fundamentale Kritik an Skinner –Spracherwerb und UG, LAD –Generative Grammatik –Psychologische Realität der DTC –Kompetenz vs. Performanz Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 13 N. ChomskyS. PinkerJ.B. WatsonB.F. Skinner
Psycholinguistik: Ein historischer Abriss Orientierung an der Performanz –Ausgangspunkt: Zugrundeliegende psychologische Mechanismen –Konstruktions-/Kognitive Grammatik Neuere Entwicklungen –Rückkehr assoziativer Ansätze: Konnektionismus –Embodied Language Processing –KW: Sprachverarbeitung = wissens- gestützte Informationsverarbeitung Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 14 J. McClellandT. G. BeverL. FrazierL. W. BarsalouM. TomaselloJ. L. Elman
Methoden der Psycholinguistik Erhebung von Daten On-Line Off-Line Empirische Methoden Ethnomethodologie Experimentalpsychologie Neurophysiologie Modellbildung Theoretisches Modell Spezifikation, Simulation Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik Komplexität und Fehlleistungen: Sprachphänomene, bei denen Menschen Verarbeitungs- schwierigkeiten zeigen, eignen sich in besonderer Weise, um Modelle zu überprüfen!
Methoden der Psycholinguistik Off-Line –Akzeptabilitätsbeurteilung Rating »z.B. Schulnoten von 1 – 6 vergeben Magnitude Estimation »Wieviel besser/schlechter als X ist Y –Test Gedächtnistests Verständnistests –Beobachtung/Erhebung z.B. freie Sprachproduktion Erhebung kindlicher Äußerungen/Verhalten Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik
Methoden der Psycholinguistik On-Line: Zeitmessungen –Reaktionszeitmessungen –Priming-Studien lexical/semantic priming syntactic priming Cross-modal priming –Lesezeitmessungen Self-Paced Reading Rapid Serial Visual Presentation Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik Erleichterung Prime Target Hemmung Apfel→Halbschuh Birne XXX AlsderHundderdieKatzedie MauskratztebissumdieEckebog…
Methoden der Psycholinguistik On-Line –Blickbewegungsmessungen Lesestudien Visual World Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 18
Methoden der Psycholinguistik Bildgebende Verfahren –Zeitlich oder räumlich hochauflösend –Ableitung elektrischer potentiale oder metabolischer Veränderungen –Methoden EEG (ERP) MRT (fMRT) CT, PET Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik
Modell: Sprachproduktion 1.Konzeptualisierung –Präverbale Botschaft 2.Formulierung –Grammatische Encodierung Linguistische Oberflächenstruktur –Linearisierung –Phonologische Encodierung Artikulationsplan 3.Artikulation –Motorisches Programm Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik W.J.M. Levelt
Neurophysiologische Grundlagen Lateralisierung –Sprachfunktion ist fast immer lateralisiert (i.d.R. in der linken Hemisphäre) Broca-Areal –≈ sprachlich-grammatische Verarbeitung –Aphasie: Störung der Sprachproduktion Wernicke-Areal –≈ Semantische Verarbeitung –Aphasie: Störung der Sprachrezeption Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik
Modell: Sprachrezeption Neurokognitives Modell der Sprachverarbeitung auf Grundlage von Ergebnissen aus –fMRT-Studien –ERP-Studien –PET-Studien Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik A. Friederici
Modell: Kaskadenmodell der Rezeption Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 23 Sprachsignal / Schrift Wissensrepräsentation des Verstandenen Phonemische / Graphemische Analyse Lexikalischer Zugriff Syntaktische Analyse (Parsing) Semantische Interpretation, Inferenzen Mentales Lexikon Konzeptuelles und Hintergrundwissen
Kompetenz vs. Performanz Kompetenz = (Absolutes) sprachliches Wissen Repräsentation –Phrasenstrukturbäume –Merkmalsstrukturen –Constraints (Beschränkungen) Beste Näherung: Linguistische Grammatiken Performanz = Verwendung des Wissens Verfahren, Algorithmen, Mechanismen –Inkrementalität der Verarbeitung –Auswahl von Alternativen Architektur –(Beschränkte) Interaktion verschiedener Wissensebenen –Beschränkungen durch kognitive Ressourcen (z.B. AG) Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 24
Interaktion Modularität Modularitätshypothese: Verschiedene Aspekte der Sprachverarbeitung sind in unabhängigen Modulen gekapselt Nur der vollständig verarbeitete Output des vorhergehenden Moduls wird weiterverarbeitet Kein Zugang zu Informationen außerhalb der Modul-Domäne Interaktivität Unterschiedliche Repräsentations-Domänen möglich, aber: Domänen interagieren miteinander während der Verarbeitung Domänen beeinflussen sich (higher lever >>> lower level) Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 25
Interaktion Interaktion: Bottom-Up-/Top-Down-Prozessen Bottom-Up: Datengetriebene Prozesse Top-Down: Erwartungsgesteuerte Prozesse Verarbeitung bei Alternativen Serielle Verarbeitung Parallele Verarbeitung Deterministische/Unterspezifizierte Verarbeitung …Parsing: Verarbeitungsmodelle treffen jeweils unterschiedliche Vorhersagen für die ambige und die desambiguierende Region Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 26
Inkrementalität Sprachverarbeitung: Inkrementell und unmittelbar Sprache wird Wort für Wort interpretiert (es wird vor weiteren Verarbeitungsschritten nichts angesammelt) Jede einkommende Information (jedes Wort) wird unmittelbar im gegebenen Kontext interpretiert Die Interpretation wird so weit erschlossen wie zum aktuellen Stand des Inputs möglich: Frühestmöglicher Strukturaufbau Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 27
Inkrementalität Empirische Belege Inkrementelle Präferenzen bei der Ambiguitätsauflösung Visual World: Fixationen entsprechen präferierter Interpretation Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 28 W. D. Marslen-WilsonM. K. Tanenhaus …, dass sie nach dem Ergebnis zu Fragen erlaubt hat. …, dass sie nach dem Ergebnis zu Fragen erlaubt war. Put the apple (that is) on the towel in the box.
…to be continued! Zweiter Teil: Laute, Wörter, Lexikon –Zugriff auf lexikalisches Wissen Satzverarbeitung –Syntax und Phrasenstruktur –Phänomene –Parsing, Satzverarbeitungstheorien Sprachverstehen –Anaphernverarbeitung –Allgemeine Merkmale –Modelle: IC-Modell, IEF Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 29
Projektseminar Kognitionswissenschaft WS 09/10 Psycholinguistik 30