Religion und Gewalt bei Jugendlichen. Befunde aus Befragungsstudien Dirk Baier Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen Mitgliederversammlung der AGkE Regensburg
2 Eingeschätzte Entwicklung verschiedener Straftatengruppen Jugendkriminalität
3 „Populäre Gewissheiten“ 1. Die Jugend wird immer krimineller/Die Jugend wird immer gewalttätiger. 2. Jugendliche Gewalttäter gehen immer brutaler vor („Auch der bereits am Boden Liegende wird weiter geschlagen“). 3. Weibliche Jugendliche werden ihren männlichen Altersgenossen im Gewaltverhalten immer ähnlicher. 4. Opfer von Gewalt werden zu Tätern von Gewalt. 5. Der Medienkonsum ist eine entscheidende Ursache des Gewaltverhaltens und damit auch für einige der genannten Veränderungen verantwortlich. 6. Migranten sind häufiger kriminell als einheimische Deutsche. Jugendkriminalität
Anzahl jugendlicher Tatverdächtiger Polizeiliche Kriminalstatistik 3,3 Mio.3,2 Mio.
5 Anzahl Tatverdächtige Gesamtbevölkerung, Anzahl jugendliche Tatverdächtige, Tatverdächtigenbelastungszahl Jugendlicher und Anteil Jugendlicher Tatverdächtiger unter allen Tatverdächtigen im Jahr 2011 Polizeiliche Kriminalstatistik Anzahl Tatverdächtige insgesamt Anzahl jugendliche Tatverdächtige Tatverdächti- genbelastungs- zahl Jugendl. Anteil Anzahl Personen in Deutschland ,9 alle Delikte ,2 einfacher Diebstahl ,4 darunter: Ladendiebstahl ,1 Sachbeschädigung ,0 Gewaltkriminalität ,9 darunter: schwere/gefährliche Körperverletzung ,5 darunter: Raub ,2 darunter: Vergewaltigung ,8 darunter: Mord/Totschlag ,3 vorsätzliche, leichte Körperverletzung ,8 schwerer Diebstahl ,8 Betrug ,8 darunter: Schwarzfahren ,8 Drogendelikte ,5 darunter: Verstöße mit Cannabis ,1 darunter: Handel ,0
6 Tatverdächtigenbelastungszahl Jugendlicher für verschiedene Delikte Polizeiliche Kriminalstatistik
7 Tatverdächtigenbelastungszahl Jugendlicher für verschiedene Delikte Polizeiliche Kriminalstatistik
8 Tatverdächtigenbelastungszahl Jugendlicher für verschiedene Delikte
Kriminalstatistik vs. Dunkelfeldforschung - Von Anzeigebereitschaft, polizeilichen Kontrollaktivitäten, Gesetzänderungen usw. unabhängige Quelle zur Kriminalität (Opfer-/Täterschaft, verschiedene Altersgruppen); verlässliche Aussagen zur Verbreitung von Kriminalität, bei wiederholt durchgeführter Forschung auch zur Entwicklung der Kriminalität - Umfangreiche Informationen zu weniger bzw. stärker betroffenen Gruppen (nicht nur Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit, sondern auch Migrationshintergrund, Bildungshintergrund, soziale Schicht usw.) - Umfangreiche Informationen zu Einflussfaktoren krimineller Opfer- wie Täterschaft (Persönlichkeitsmerkmale, familiäre Erziehung, soziale Bindungen, Freizeitaktivitäten, Problemverhalten usw.) - Erfassung der subjektiven Seite der Kriminalität (Kriminalitätsfurcht, Sicherheitsgefühl) - „Königsweg“: Befragung (schriftlich, telefonisch, Online) - Probleme: Kompatibilität zu Kriminalstatistik, Antwortverhalten, Erreichbarkeit spezifischer Bevölkerungsgruppen, Stichprobenziehung usw. - Stand in Deutschland: 1. Erwachsene: wiederholt durchgeführte Opferbefragungen nur zu spezifischen Kriminalitätsformen, keine Täterbefragungen; 2. Jugendliche: wiederholt durchgeführte Opfer- und Täterbefragungen, nicht repräsentativ für Deutschland
10 Dunkelfeldforschung: KFN- Schülerbefragung : Schüler in zehn Städten befragt : Schüler in fünf Städten befragt, z.T. Wiederholungsbefra- gung; thematische Erweiterungen: u.a. Schulschwänzen, Kultur der Ehre (Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen) : Schüler 9. Jahrgangsstufe aus zehn Gebieten (inkl. zwei Landkreise und ein Bundesland); Schüler der 4. Jahrgangsstufe; thematische Erweiterung: u.a. Mediekonsum und Schulleistungen : Befragung Hannover (4., 7., und 9. Jahrgangsstufe); 2005/06 z.T. Wiederholungsbefragungen /2008: deutschlandweite Befragung mit fast Jugendlichen Seitdem: Sachsen-Anhalt, Berlin, Saarland; Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, Emsland; weitere Wiederholungsbefragungen in Hannover und Soltau-Fallingbostel; ab 2013 „Niedersachsensurvey“
11 Lebenszeitprävalenz und Zwölfmonatsprävalenz verschiedener Delikte (in %) Schülerbefragungen
12 Zwölfmonatsprävalenz verschiedener Delikte nach Befragtengruppen (in %) Schülerbefragungen mind. ein Delikt Ladendiebstahl SachbeschädigungGewalt schwere Gewalt Jungen43,714,221,920,28,6 Mädchen23,612,47,16,41,9 deutsch32,312,414,311,54,3 nichtdeutsch37,615,515,318,57,8 davon: türkisch34,010,814,020,39,8 davon: ehem. SU38,616,716,018,06,9 davon: ehem. Jugoslawien39,918,014,022,110,5 Förder-/Hauptschule38,415,715,619,48,3 Real-/Gesamtschule34,813,315,313,75,3 Gymnasium28,611,412,88,03,0 Nord34,213,316,513,45,2 West34,213,314,214,55,8 Süd32,913,214,612,44,8 Großstadt35,415,114,515,06,6 Landkreis33,913,214,813,25,1
13 Anzeigequoten nach Delikt und Gebietskategorie (Opferangaben, in %) Schülerbefragungen
14 Anteil Jugendliche, die Eigentumsdelikte in letzten 12 Monaten begangen haben, nach Erhebungszeitpunkt und Gebiet (in %) Dunkelfeldforschung
15 Anteil Jugendliche, die Gewaltdelikte in letzten 12 Monaten begangen haben, nach Erhebungszeitpunkt und Gebiet (in %) Dunkelfeldforschung Landkreis Soltau-Fallingbostel: 17,9 auf 13,1 % (2005 bis 2010)
16 Entwicklung des Anzeigeverhaltens bei Körperverletzungen nach Erhebungszeitpunkt und Gebiet (in %) Dunkelfeldforschung Landkreis Soltau-Fallingbostel: 22,6 auf 13,3 % (2005 bis 2010)
17 Vorläufiger Vergleich Schülerbefragung Hannover 2006 und 2011: - Rückgang in Gewaltopferraten (von 18,9 auf 11,1 %), ebenso Rückgang in Gewalttäterraten (von 15,2 auf 10,2 %) - Deutliche Rückgänge im Bereich Sachbeschädigung (von 11,9 auf 5,8 %) und Ladendiebstahl (von 13,7 auf 7,2 %) - Weiterer Anstieg der Anzeigequote bei Gewalttaten von 32,1 auf 35,9 %, insbesondere bei Körperverletzungen und sexueller Gewalt - Gewalttäterquoten sinken stärker bei weiblichen als bei männlichen Jugendlichen (weiblich: 7,3 auf 4,4 %, männlich: 23,0 auf 16,2 %); gilt auch für andere Formen der Delinquenz - Bei Jugendlichen deutscher Herkunft sinkt Gewalttäterquote stärker als bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund; eine positive Entwicklung zeigt sich für türkische Jugendliche, nicht aber für Jugendliche aus Ländern der ehem. SU (deutsch: 11,8 auf 6,5 %, türkisch: 21,8 auf 14,7 %, ehem. SU: 18,6 auf 16,8 %) Dunkelfeldforschung
18 Anteil Jugendliche, die in den letzten zwölf Monaten verschiedene Delikte begangen haben, nach Erhebungszeitpunkt und Geschlecht (in %) Dunkelfeldforschung
19 Anzeigequote für Körperverletzungen nach Geschlecht des Opfers und Geschlecht des Täters im Zeitvergleich (in %; gewichtete Daten; Befragung München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd; n.a. = nicht abgebildet, da N < 20) Dunkelfeldforschung
20 Entwicklung von Schulen gemeldeter „Raufunfälle“ und Frakturen infolge von Raufereien je versicherte Schüler 1993 bis 2010 (Quelle: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) Dunkelfeldforschung
Prävalenzraten erlebten Missbrauchs im Vergleich zum KFN-Viktimsurvey 1992, nur deutsche Befragte (bis einschließlich 16 Jahre) Dunkelfeldforschung
Viktimisierungserfahrungen nach Delikt und Erhebungsjahr (in %) Dunkelfeldforschung
23 Gründe für positive Entwicklungen: - Rückgang der elterlichen Gewalt, Zunahme positiver Erziehung (Mädchen profitieren hiervon allerdings etwas stärker als Jungen) - Anstieg der Gewaltmissbilligung im sozialen Umfeld (insbesondere Familie und Gleichaltrige) - mehr Jugendliche mit gewaltdistanten Persönlichkeitsfaktoren (Selbstkontroll- und Konfliktlösefähigkeiten, Empathie) - Zunahme der Gewaltpräventionsaktivitäten insbesondere an Schulen - Bildungsexpansion - Rückgang des Gewaltmedienkonsums(insbesondere im Bereich der Computerspiele) - Anstieg der Anzeige- und Aufklärungsquote Dunkelfeldforschung
24 Elterliche Erziehung im Geburtskohortenvergleich (in %) Dunkelfeldforschung
25 Kriminologische Befunde: Religion Entsprechend einer Metaanalyse anhand von 60 Einzelstudien berichten Baier and Wright (2001) eine moderate negative Korrelation zwischen der Religiosität und dem kriminellen Verhalten von r = Vergleichbare Befunde werden von weiteren, aktuellen Metaanalysen berichtet Es gibt zugleich gute theoretische Gründe, warum es diesen reduzierenden Effekt geben sollte: - Kontrolltheorie - Lerntheorie - Theorie der Routineaktivitäten - Persönlichkeitstheorien Problem: Bislang wurden die meisten Studien ausschließlich anhand christlicher Personen durchgeführt. Über den Einfluss der der muslimischen Religiosität ist nur wenig bekannt (Ausnahme: Studien von Brettfeld & Wetzels) Anliegen: Differenzierte Erkenntnise zu katholischen, evangelischen (inkl. freikirchlichen) und muslimischen Jugendlichen erarbeiten
26 Befragtenanzahl nach Konfessionszugehörigkeit und Migrationshintergrund (gewichtete Daten; in Klammern: Anzahl Befragte, die Fragebogenmodul zu Integration beantwortet haben ) Religion
27 Indikatoren der Religiosität (in %; gewichtete Daten; nur westdeutsche Befragte mit Religionszugehörigkeit) Religion
28 Religiosität nach Religionsgruppe (in %) Religion
29 Religiosität nach Konfessionszugehörigkeit und Migrantengruppe (in %; gewichtete Daten; nur konfessionell gebundene, westdeutsche Befragte) Religion
30 Delinquentes Verhalten nach Konfessionszugehörigkeit, Herkunft und Geschlecht (in %; gewichtete Daten; nur westdeutsche Befragte) Religion
31 Prävalenzraten verschiedener Delikte nach Religionszugehörigkeit und Religiosität, Schüler der neunten Jahrgangsstufe (in %; gewichtete Daten; Schülerbefragung 2007/2008; nur westdeutsche, männliche, deutsche Befragte) Religion
32 Gewalttätiges Verhalten nach Konfessionszugehörigkeit und Religiosität (in %; gewichtete Daten; nur deutsche Befragte) Religion
33 Elterliche Gewalt in Kindheit nach Konfessionszugehörigkeit und Religiosität (in %; gewichtete Daten; nur deutsche Befragte aus Westdeutschland) Religion
34 Aus einem freikirchlichen Erziehungsratgeber („Wie man einen Knaben gewöhnt“) „Wenn es Zeit wird, die Rute anzuwenden, entspannen sie sich, atmen sie tief ein und beten sie: Herr, lass das eine wertvolle Lektion werden. Reißen sie ihr Kind nicht herum. Erheben sie ihre stimme nicht. Das Kind sollte die Rute an ihrem ganzen ruhigen, überlegten und beherrschten Geist kommen sehen. Wenn sie sich auf das Kind setzen müssen, um es zu versohlen, dann zögern sie nicht. Und halten sie es so lange in dieser Stellung, bis es aufgegeben hat. Ich finde dann fünf bis zehn Schläge meistens genug. Manchmal, bei älteren Kindern, wenn die Schläge nicht kräftig genug sind, ist das Kind noch aufmüpfig. Wenn das der Fall ist, nehmen sie sich Zeit zum Erklären und versohlen sie weiter. Hören sie mit ihrer Disziplin nie auf, bevor das Kind sich ergeben hat.“ Religion
35 Lebenszufriedenheit nach Religionsgruppe und Religiosität – Indikator: Religiosität gesamt (in %) Wie zufrieden bzw. unzufrieden bist du mit deinem Leben insgesamt? Religion
36 Gewalttätiges Verhalten nach Konfessionszugehörigkeit und Religiosität (in %; gewichtete Daten; nur nichtdeutsche Befragte aus Westdeutschland) Religion
37 Erklärungsfaktoren von Gewaltverhalten nach Konfessionszugehörigkeit und Religiosität (in %; gewichtete Daten; nur nichtdeutsche Befragte aus Westdeutschland; in Klammern: Spearmans Rho) Religion
38 Ladendiebstahl/Alkoholkonsum nach Konfessionszugehörigkeit und Religiosität (in %; gewichtete Daten; nur Befragte aus Westdeutschland) Religion
39 - christliche Religiosität wirkt präventiv (im Wesentlichen Kontrolleffekt: Weil christliche Jugendliche einer höheren Verhaltenskontrolle u.a. im Elternhaus ausgesetzt sind, darauf aufbauend eine höhere Selbstkontrolle besitzen und sich stärker an die gesellschaftlichen Institutionen wie die Schule gebunden fühlen, begehen sie seltener Gewalttaten.) - die katholische Religiosität wirkt etwas stärker präventiv als die evangelische Religiosität (Erklärungsangebot: Eine starke Gemeinschaft gläubiger Katholiken kommt häufiger vor als eine starke Gemeinschaft gläubiger Protestanten; diese Gemeinschaften weisen zudem eine „intaktere“ Struktur auf; Kinder und Jugendliche werden lebensgeschichtlich betrachtet sehr früh an die Gemeinschaft gebunden, durch Erstkommunion und Ministrantentätigkeit) - Glauben wirkt insbesondere in der Gemeinschaft (moral-community-Hypothese), wie das Beispiel Ostdeutschland zeigt - Auch „die“ evangelisch-freikirchliche Religiosität wirkt gewaltpräventiv; gleichwohl steigt mit zunehmender Religiosität des Elternhauses der Rückgriff auf Gewalt in der Erziehung; dass sich die häufigeren Gewalterfahrungen nicht im häufigeren Gewaltverhalten niederschlagen (wohl aber in der Lebenszufriedenheit), könnte ebenfalls kontrolltheoretisch erklärt werden - Die muslimische Religiosität wirkt nicht gewaltpräventiv. Stattdessen ist von einem gewaltverstärkenden Einfluss auszugehen, der u.a. durch die Zustimmung zu Männlichkeitsnormen zu erklären ist. Der Effekt würde sich noch deutlicher zeigen, wenn der muslimische Glauben nicht besonders effektiv in der Verhinderung von Alkoholkonsum wäre. Der Zusammenhang zeigt sich vor allem in Gebieten mit hohen Muslimanteil (z.B. Berlin). - Religiosität ist nur ein Einflussfaktor der Jugenddelinquenz und dabei keinesfalls der stärkste. Zusammenfassung Religion
Arbeitslosigkeit/ Sozialhilfe Haupt-/ Förderschule Migrations- hintergrund Delinquente Freunde Gewalthaltige Medien Mehrfachgewalt- täterschaft Geschlecht männlich Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen Modell-Fit: chi 2 = , df = 8, CFI =.999, TLI =.997, RMSEA =.007, alle Pfade signifikant bei p <.001, standardisierte Koeffizienten, abgebildet sind nur Pfade ≥.10, blau: soziodemographische Merkmale und deren Koeffizienten, grün: Korrelationen Intensives Schulschwänzen Alkohol-/ Drogenkonsum Erlebte Elterngewalt Quelle: Schülerbefragung 2007/2008 Zusammenfassung
41 1. Die Jugend wird immer krimineller/Die Jugend wird immer gewalttätiger. => falsch: Jugendgewalt sinkt; dies hat gute Gründe; lokale/regionale Besonderheiten sind nicht ausgeschlossen 2. Jugendliche Gewalttäter gehen immer brutaler vor. => falsch: keine der vorhanden Datenquellen stützt diese Einschätzung 3. Weibliche Jugendliche werden ihren männlichen Altersgenossen im Gewaltverhalten immer ähnlicher. => falsch: Es hat sich nur die Sichtbarkeit der Mädchengewalt erhöht (Anzeige) 4. Opfer von Gewalt werden zu Tätern von Gewalt. => richtig: insbesondere innerfamiliäre Gewalt wirkt sich auf verschiedene Problemverhaltensweisen aus 5. Der Medienkonsum ist eine entscheidende Ursache des Gewaltverhaltens und damit auch für einige der genannten Veränderungen verantwortlich. richtig: Medienkonsum ist ein Einflussfaktor unter vielen; aber: er ist nicht der entscheidende Faktor 6. Migranten sind häufiger kriminell als einheimische Deutsche. => richtig: gilt aber nur in Bezug auf Gewaltverhalten; kann mit wenigen Faktoren erklärt werden Zusammenfassung