Vorlesung Psychiatrie 2011 Affektive Störungen I, II, III; Suizidalität Ulrich Hegerl
Depressive Episode, monophasisch (unipolare Depression; ICD-10: F32) Zeit dauerhaft beschwerdefrei durchschnittl. Dauer einer Episode: 4-8 Monate Wiedererkrankungsrate > 50 %
unipolare Depression durchschnittl. Dauer einer Episode: 10 Monate Rückfallrate > 70 % Durchschnittliche Zahl der Episoden 5 hoher Leidensdruck
Rezidivierende depressive Episoden (unipolare Depression, Majore Depression; ICD-10: F 33) Dysthymie („neurotische Depression“; ICD-10: F 34) (wenige Monate bis mehrere Jahre)
Bipolare affektive Störung (Manisch Depressive Erkrankung; ICD-10: F 31) Neben depressiven Phasen treten Zustände von übermäßiger Aktivität, gehobener Stimmung und allgemeiner Angetriebenheit, manchmal auch Gereiztheit auf.
Verlust von Interesse u. Freude Depressive Stimmung Verminderter Antrieb Haupt- und Nebenkriterien nach ICD-10 Suizidgedanken / Suizidale Handlungen Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Schlafstörungen Negative und pessimistische Zukunfts- perspektiven Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit Appetitminderung
Somatisches Syndrom: bei 4 von 8 Symptomen Deutlicher Verlust von Freude und Interesse bei früher angenehmen Aktivitäten Mangelnde Fähigkeit emotional zu reagieren Früherwachen Morgentief Psycho- motorische Hemmung oder Agitiertheit Deutlicher Libidoverlust Gewichtsverlust > 5% Starker Appetitverlust
Schwere der depressiven Symptomatik wahnhafte Depression schwere Depression mittelschwere Depression leichte Depression minore und subdiagnostische Depression normale psycholog. Verstimmungen Häufigkeit Krankheit Übergangsbereich Gesundheit Depression: Differenzierung nach Schwere der Symptomatik
Körperliche Beschwerden und Depression Körperliche Beschwerden verursachen Wird v.a. von Patienten überschätzt Depression verursacht verstärkte Wahrnehmung
Depressive Episode nach ICD-10
Erscheinungsbilder Gehemmte Depression Agitierte Depression „Larvierte“ Depression Wahnhafte Depression
Depression und Suizidalität % mit rezidivierender Depression versterben durch Suizid % weisen einen Suizidversuch auf % leiden an Suizidideen bei 90 % der Suizidenten psychiatrische Erkrankung im Vorfeld, am häufigsten Depression (40-70 %) Wenn eine Depression vorliegt, dann sollte die Suizidalität immer aktiv exploriert werden!
Depression und kardiale Mortalität Penninx et al 2001: 4 – Jahresverlauf bei 2847 Personen (55 – 85 Jahre) Hiervon 450 Personen mit kardialer Erkrankung Kontrolle von Mediatorvariablen (Rauchen, Alkohol, Blutdruck, BMI, Komorbidität u.a.)
Without Cardiac Disease (n=2397) Penninx et al 2001
With Cardiac Disease (n=450) Penninx et al 2001
Folgen einer Depression im Alter Suizidalität Rückzug, Immobilität Bettlägerigkeit ungenügende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme erhöhte Sterblichkeit an körperlichen Begleiterkrankungen
Fehleinschätzung als Befindlichkeitsstörung Affektstarre Gefühl der Gefühllosigkeit Schuldgefühle Tagesschwankungen Suizidalität Wahnsymptomatik Verlauf Für die depressive Erkrankung spricht:
PsychotherapieTherapie depressive Sympto- matik Depressiver Zustand z. B. akute psycho- soziale Belastung, Stress Auslöser z. B. negative Lebens- erfahrungen, Per- sönlichkeit Vulnerabilität Psychosoziale Aspekte Pharmakotherapie z. B. neurochemische Dysfunktionen, Überaktivität der Stresshormonachse z. B. Überaktivität der Stresshormonachse z. B. genetische Faktoren Neurobiologische Aspekte Psychisch und körperliche Ursachen: 2 Seiten einer Medaille Psychisch und körperliche Ursachen: 2 Seiten einer Medaille
Neurobiologische Erklärungsansätze der Depression Botenstoffe (Serotonin, Noradrenalin) Stresshormone Neuro- plastizität Gen- expression Gen
„Serotonindefizit-Hypothese“? Untersysteme 20 Rezeptorentypen Autoregulation Wechselwirkungen
Genetik Familien- Zwillings- und Adoptionsstudien Verwandte 1.Grades etwa 3-faches Erkrankungsrisiko genetischer Einfluß deutlicher bei frühem Erkrankungsbeginn und bipolarem Verlauf kein Hauptgen Interaktion zwischen Genetik und Umwelt
Vigilance model of affective disorders Relationship between environment, behaviour and vigilance environment vigilance regulation compensatory behaviour In vulnerable subjects pathologic autoregulatory behavioural syndroms can occur unstable vigilance in overtired children hyperactive, „sensation seeking“ high external stimulation stabilisation of vigilance
Vigilance model of affective disorders 25 Vigilance stages A1 A2 A3 B1 B2/3 C 0 Sleep Hyperstable Regulation (e.g. depression) Unstable Regulation (e.g. mania, ADHD) Physiological Regulation Time [15 min] Wakefulness
Vigilance regulation in Major Depression? - prolonged sleep latency, early awakening, reduced SWS - high inner tension (exhausted not sleepy) - not lack of drive but inhibition of drive - „hyperarousal“ (e.g. HPA-Aktivierung) - hyperstabile vigilance regulation? withdrawal and „sensation avoidance“ part of an autoregulatory reaction to an hyperstable vigilance (tonic hyperarousal)?
1. 1.Figures Time courses of A1 and B2/3 stages in unmedicated patients with Major Depression (n=30) and healthy controls (n=30) Differences between depressives and controls were tested by Mann-Whitney U-Test: * p <.050; ** p <.010; *** p <.001 Hegerl et al 2011, World J Biol Psychiatry, in press
Die Behandlung der Depression Zentrale Behandlungssäulen: Medikamentöse Behandlung (v.a. Antidepressiva) Psychotherapie (Wirksamkeit v. Verhaltenstherapie und Interpersoneller Therapie am besten belegt) Weitere Behandlungsverfahren (im Einzelfall indiziert) LichttherapieWirkung nur bei saisonaler Depression belegt Wachtherapiemeist nur im Rahmen stationärer Therapie mögl. EKTbei schwerer therapieresistenter Depression
Richtlinienpsychotherapie: Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Psychoanalyse Zur Zeit Wirksamkeit am besten bei Kognitiver Verhaltenstherapie belegt: Psychotherapie Aufbau angenehmer Aktivitäten, Abbau von Belastungen Tagesstrukturierung Korrektur fehlerhafter Überzeugungen Verbesserung des Sozial- und Kommunikationsverhaltens Problemlösetraining
1. Beruhigungsmittel / Tranquilizer: wirken sehr schnell / wichtig für akute Krisen dämpfen und machen schläfrig, nicht spezifisch antidepressiv Gewöhnungseffekt und bei längerer Anwendung Suchtgefahr Wichtigste Medikamente in der Psychiatrie 2. Neuroleptika: Bei Psychosen / Schizophrenien unverzichtbar! dämpfen teilweise die Persönlichkeit ältere Präparate haben häufigere Nebenwirkungen (vor allem im motorischen Bereich) 3. Antidepressiva: keine Veränderung der Persönlichkeit keine Dosissteigerung notwendig / keine Suchtgefahr Wirklatenz von 2-4 Wochen
Medikamentöse Therapie mit Antidepressiva TZA (Tri- und Tetrazyklische Antidepressiva) SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer): 6 Substanzen SNRI (Selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer): Reboxetin SSNRI (Selektive Serotonin- und Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer): Venlafaxin, Duloxetin NASSA (Noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum): Mirtazapin MAO-Hemmer: Jatrosom, Moclobemid Johanniskraut
TZA-Nebenwirkungen zentrale antichol. Effekte kognitive Störungen, Delir periphere antichol. Effekte Blasenentleerungsstörungen, Mundtrockenheit orthostatische Hypotension bei älteren Patienten Gefahr von Stürzen, Schenkelhalsfraktur Tremor Erregungsüberleitungsstörungen
Trizyklische Antidepressiva: z.B. Amitriptylin, Doxepin niederpotente Neuroleptika: z.B. Levomepromazin, Promethazin, Perazin, Thioridazin, Clozapin Antiparkinsonmittel: z.B. Biperiden, Trihexyphenidyl Diphenhydramin (in rezeptfreien Schlaf-, Grippe- und Hustenmitteln) Antiarrhythmika: z.B. Chinidin, Disopyramid weitere Internistika: Ranitidin, Kodein, Warfarin, Theophyllin, Nifedipin, Digoxin Lanoxin, Isosorbid, Prednisolon, Dipyramidol CAVE! Kombination anticholinerger Medikamente CAVE! Kombination anticholinerger Medikamente
SubstanzgruppeHandelsname Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und selektive Serotonin-Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und selektive Serotonin-Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) Citalopram Escitalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin Venlafaxin Duloxetin Cipramil, Sepram Cipralex z.B. Fluctin z.B. Fevarin Seroxat, Tagonis Gladem, Zoloft Trevilor, Efexor Cymbalta SSRI: SSNRI:
Übelkeit (meist nur in ersten Tagen) innere Unruhe, Schlafstörungen Kopfschmerzen sexuelle Funktionsstörungen inadäquate ADH-Sekretion Nebenwirkungen unter SSRI und SSNRI
60-70% 30-35%6-9%2,5-4% Optimierungsspielraum durch Fortbildung und Kooperation mit Hausärzten Diagnostisches und therapeutisches Defizit behandlungs- bedürftige Depressionen ca. 4 Mio. in haus- ärztlicher Behandlung 2,4 - 2,8 Mio. als Depression diagnostiziert 1,2 - 1,4 Mio. suffizient behandelt Tausend nach 3 Mo. compliant Tausend
Wenn man etwas gegen eine Depression tun möchte, gibt es mehrere Möglichkeiten. Welche der folgenden Möglichkeiten halten Sie für geeignet: Besuch eines Psychotherapeuten Besuch eines Arztes Mit Freunden sprechen Autogenes Training Viel Sport machen Lichttherapie machen In den Urlaub fahren Antidepressiva Besuch eines Heilpraktikers Sich zusammenreißen Schokolade/Süßes essen Schlaf-/Beruhigungsmittel = Sehr geeignet = Mittelmäßig geeignet = Ungeeignet Telefonische Befragung
Einstellungen zu Antidepressiva Ja: 71% Haben Antidepressiva starke Nebenwirkungen? Ja: 69% Verändern Antidepressiva die Persönlichkeit ? Ja: 80%Machen Antidepressiva abhängig? Repräsentative Befragung von 1426 Personen aus Nürnberg und Würzburg
Monate – Jahre Langzeittherapie 6 Monate Erhaltungstherapie Akuttherapie Behandlung bei unipolarer Depression Krankheit Gesundheit unbehandelt Rückfall ? Remission Einsetzen der TherapieMedika tion Response Remission Frank et al
Rückfallrisiko bei unipolaren Depressionen Geddes et al., 2003 N:449 N:1046 N:1034 N:432 N:912 N:889 N:61 N:66
Langzeitbehandlung: Entscheidungskriterien Anzahl der bisherigen Episoden (≥2) Höhe des Rückfallrisikos (z.B. Remissionsgrad, Double Depression, Alter) Schwere und Dauer früherer Episoden Suizidgefährdung Kooperationsfähigkeit und –bereitschaft Verträglichkeit
Psychotische Depression ICD-10 F32.3: Schwere depressive Störung mit psychotischen Symptomen (synthymer oder nicht synthymer Wahn, Halluzinationen, psychomotorische Erregung oder Hemmung) DSM-IV: Halluzinationen, synthymer oder nicht-synthymer Wahn
Psychotische Depression: EKT EKT (bilateral) besonders wirksam bei psychotischer D. – 95.5 vs. 83%, Petrides et al 2001 – 92 vs 55%, Birkenhäger et al 2003
Wachtherapie Wachbleiben von Mitternacht bis in den Abend des nächsten Tages 60 % der depressiven Patienten erleben deutliche Besserung der Depression am nächsten Tag Effekt meist nicht anhaltend Stabilisierung des Effektes durch Wachtherapieserien oder Schlafphasenvorverlagerung
Praktisches Vorgehen Anamnese (u.a. Aktuelle Symptomatik, Suizidalität, somatische Anamnese, Suchtanamnese) Weitere Diagnostik (Labor, Schilddrüse, BG) Therapievorschlag Antidepressiva (Dosierung, Dauer, Aufklärung) Wiedereinbestellung
Akute Suizidalität: Risikogruppen für Suizid: ältere, alleinstehende Männer für Suizidversuch: jüngere Frauen in über 90%: Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen Depression Suchterkrankungen Psychosen (z.B. Schizophrenie) Menschen in akuten Krisen (z.B. bei sozialer Isolation, Arbeitslosigkeit, Schulden, Scheidung, Traumatisierung) Menschen mit Suiziden und/oder Suizidversuchen in der Familie Menschen mit Suizidversuch in der Vorgeschichte Menschen nach Entlassung aus psychiatrischen Kliniken
shooting hanging drowning jumping cuts or stabs medication overdose other intoxication other methodsbeing run over Psycho- pharmaca Suicides in Nuremberg and Wuerzburg ( ) (n = 534 suicides) (18) 3,4% 200 Methods of Suicides
(1045) shooting hanging drowning jumping cuts or stabs medication overdose other intoxication other methods being run over Methods of Suicide Attempts Nuremberg and Wuerzburg ( ) (n = 2208) Psycho- pharmaca Suicide attempts 47% with psychopharmaca, 14% with AD 23% under the impact of alcohol 400
Exploration der Suizidalität aktives Explorieren konkrete Suizidabsichten? Planungen? Gründe gegen Suizid? SV in Vorgeschichte (Methode, Auslöser, planend/bilanzierend vs. raptusartig?) familiäre Belastung Suizide im sozialen Umfeld? cave: wahnhafte Depression
Häufige Missverständnisse und Fehler Viele Laien (aber auch Profis) scheuen das Thema Suizid, um keine „schlafenden Hunde“ zu wecken. Das Thema ist so unangenehm und emotional, dass viele entweder: abweisend distanziert reagieren oder sich hilflos, aufgeregt identifizieren. Das Thema ist so unangenehm, dass viele es schnell beenden: indem sie dem anderen die Suizidalität „ausreden“ wollen. oder indem sie vorschnelle Lösungsvorschläge machen, die dem Betroffenen nicht angemessen sind. Gefahr:Der Betroffene spürt unsere Überforderung und zieht sich zurück
Spektrum möglicher Schritte bei Suizidalität Kurzfristige Wiedereinbestellung Facharzt hinzuziehen Angehörige hinzuziehen Antisuizidpakt schließen Kontinuierliche Betreuung zu Hause sicherstellen medikamentöse Entlastung (Benzodiazepine; z.B. Tavor 2x1 mg) eventuell stationäre Einweisung (auch gegen Wunsch des Betroffenen möglich)
Manie als Vigilanzautostabilisierungs-Syndrom
(n = 3663) (n = 839) (Bottlender et al. 2000) Significant difference (p < 0.001) CAVE: Mean duration of illness 10.7 years (unipolar), 14.2 years (bipolar) Suicidality in bipolar compared to unipolar depressed patients (I)
Häufigkeitsverteilung der Geschwindigkeit des Beginns der aktuellen depressiven Episode bei Major Depression und bipolarer affektiver Störung Hegerl et al. (2008) J Clin Psychiatry (im Druck)