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Die politische Organisation der Weltgesellschaft

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Präsentation zum Thema: "Die politische Organisation der Weltgesellschaft"—  Präsentation transkript:

1 Die politische Organisation der Weltgesellschaft
Albert F. Reiterer Nationen Die politische Organisation der Weltgesellschaft Dies ist eine konzise Darstellung der Entwicklung von Nation als gesellschaftliche Modernisierungsstrategie und als politische Legitimationsstruktur. Um besseres, auch historisches Verständnis zu erreichen, geht sie nicht zuletzt den intellektuellen Traditionen des Denkens über Staat und Nation nach. Denn Nation war vor allem ein Intellektuellenphänomen, so wie es auch Postnation heute eines ist. Westeuropäischen Gesellschaften starteten mit Beginn des 16. Jahrhunderts einen selbsttragenden Modernisierungsprozess, der eine starke Zunahme des materiellen Wohlstands brachte. Das war ein großregionaler europäischer Prozess, strukturiert nach Zentrum und Peripherien. Kulturell resultierte er in der Bildung neuer Eliten, „bürgerliche Intellektueller“. Sie orientierten sich auf überlokale und überregionale politische Einheiten als soziale Referenzgrößen – auf die künftigen „Nationen“. Der Prozess lief nicht zuletzt in der Ausbreitung der Lebensstile solcher sozialen Eliten ab. Insbesondere wurde Individualisierung zur Lebensbedingung und zum Lebensstil. Doch Individualisierung bringt das Bewusstsein eines Integrationsproblems mit sich. Der Aufbau moderner Großgesellschaften erforderte den Aufbau des modernen Staates. Er baute eine Administration auf; durch Penetration des gesamten Staatsgebiets, seine Ausstattung mit Infrastruktur, machte er die Bevölkerung zur Kommunikationseinheit und schuf durch (Re-) Distribution die Voraussetzung, dass die Bevölkerung politisch und sozial an diesen Prozessen partizipieren konnte. Dieser soziale und politische Modernisierung beschleunigte sich, seit die Aufklärung und die Große Französische Revolution die Volkssouveränität zum Prinzip des modernen Staats gemacht hatte. Die alten Eliten Adel und Klerus waren nicht willens, diesen Prozess durchzuführen. So fand ein Elitenaustausch hin zu Intellektuellen und moderner Bürokratie statt. Der Aufbau der Nation ist moderne Herrschaftsbildung, Elitenwechsel. Solange es keinen modernen Staat gibt, kann es also keine Nation geben. Nation und nationale Identität bilden eine Legitimationsstruktur für die staatlich organisierte Gesellschaft.

2 Dimensionen sozialen und politischen Verhaltens
Soziale Persönlichkeit Dimensionen Identität Interesse Wertorientierung (Materielle) Ansprüche (Orientierung in der Welt) Nutzung der Welt Politik als Kampf um Kampf um Hegemonie Ressourcen Nationenaufbau ist in seinem Anfang der Aufbau von kleinen Elitegruppen mit einer gemeinsamen Identität. „Nationale Homogenität“ bezeichnet das gemeinsame Bezugs- und Denksystem dieser kleinen Gruppen, auch wenn ihre politischen Zielvorstellungen auseinander klaffen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die soziale Inklusion dieser Gruppen langsam umfassender. Am Ende dieses Jahrhunderts und am Beginn des 20. Jahrhunderts gab es kurzfristig eine regelrechte Explosion in der sozialen Reichweite dieser politischen Zugehörigkeit, zu verfolgen an der damals plötzlichen Ausweitung des Wahlrechts in West- und Mitteleuropa. Das Elitenunternehmen Nation wurde zur Nation als politischer Organisation (nahezu) der ganzen (männlichen) Bevölkerung. Identität ist jener persönliche Orientierungsrahmen, den wir für unsere Orientierung in der Welt unabdingbar brauchen. Er gibt uns die Sinnziele vor und macht das menschliche Handeln erst kohärent. Erst damit haben wir die Möglichkeit, als Person längerfristig einen impliziten oder expliziten „Lebensplan” zu verfolgen. Identität ist stark fixiert, ändert sich aber natürlich trotzdem ständig, wenn auch langsam. Identität ist immer in Bezug auf eine soziale Einheit, eine Gruppe, ein Kollektiv, aufgebaut, denn der Sozialisierungsprozess ist ein Prozess des Hineinwachsens in einen größeren Zusammenhang, aber auch – zumindest heute – gleichzeitig der Aufbau eines eigenen “persönlichen”, individuellen Wertesystems. Somit sind wir, wenn wir nicht als Kaspar Hauser leben, immer auch Glied einer Gruppe. Gruppen (Kollektive) definieren sich durch Bezug auf gemeinsame Werte und gemeinsame Lebensumstände. Doch moderne Gesellschaft ist arbeitsteilige Gesellschaft. Jene eindimensionalen Ziele, welche wir in einer bestimmten Rolle, z. B. als Angestellte, anstreben, bezeichnen wir mit dem Ausdruck Interesse. Unsere Interessen können – im Unterschied zur Identität – sehr schnell, von einem Augenblick zum anderen, wechseln. Wir definieren unsere Interessen immer mit Bezug auf unsere Identität.

3 Nationenbau: Eine Skizze der Entwicklungslinien und Kontinuitäten
Definitionen Nation ist eine historische Legitimationsstruktur für den modernen bürokratischen Staat. Sie baut die moderne Gesellschaft in einer je nach Verfasstheit abgegrenzten Personengesamtheit als „System“ unter dem Aspekt auf, dass sie durch eine gemeinsame nationale Identität eine pathetische politisch-soziale Loyalität vertikal und horizontal herstellt und dadurch die Grundlage eines politischen Systems, und zwar eines modernen Staats legitimiert. Nationalstaat ist der moderne Staat, welcher sich auf Volkssouveränität als grundlegendes Legitimierungsprinzip stützt, wobei er an seiner Basis, dem souveränen Volk, den Aspekt der Gemeinschaftlichkeit hervorhebt und gemeinsame Identität anstrebt. Nationalismus wird in zwei deutlich unterscheidbaren Bedeutungen gebraucht: I) Er kennzeichnet die Stimmungen, Gefühle und Haltungen der Angehörigen einer Nation, welchen die Zugehörigkeit zu einer Nation, die wir als nationale Identität bezeichnen, bewusst und selbstverständlich ist. Sie ziehen daraus den normativen Schluss, dass Solidaritätspflichten gegenüber ebenso Denkenden, nämlich den Ko-Nationalen, bestehen. Das ist „Gemeinschaftlichkeit“. II) Der Ausdruck bezeichnet aber auch eine Klasse von politischen Bewegungen. Je nach der Verfasstheit der Nation streben sie einen eigenen Staat entweder an; oder aber sie messen diesem schon bestehenden eigenen Staat hohen Wert und hohe , nicht aber notwendig erste, Priorität in ihren Entscheidungen zu. Dementsprechend richten sie ihr politisches und parapolitisches Handeln aus. Nation ist also Gesellschaft, welche staatliche Selbstbestimmung anstrebt, weil ihre hegemonialen Intellektuellen sich als „Gemeinschaft“ verstehen, als zusammengehörig auf Grund einer geteilten Identität, die sie zu einer besonderen Solidarität und Loyalität untereinander verpflichten.

4 Nationenbau als internationaler Prozess. Das „westfälische System“
Nationenbau findet statt als Prozess des Aufbaus eines politischen Weltsystems nach Zentrum und Peripherien Internationales System („Westfälisches System“) Nationenbildung Nationales Projekt nachnationales Verständnis Nation in der globalisierten Welt Heutige Versuche der Organisation: UNO und UNO-“Familie“ Wie aber gehen diese selbständigen politischen Einheiten miteinander um? Braucht es da nicht Regeln, wenn nicht ständig Anarchie und Gewalt pur herrschen soll? Nationenbau ist ein Prozess im Rahmen des Aufbaus modernen Gesellschaften und insbesondere ihres Steuermechanismus, des modernen Staats. Dieser Prozess findet als Aufbau des politischen Weltsystems der neueren Geschichte statt, ist ein internationaler, globaler Prozess, der nur unter globalen Perspektive verstanden werden kann. Gellner’s Wort der „Zeitzonen“ der nationalen Entwicklung von West nach Ost ist ein Metapher für die Entwicklung des Weltsystems. Es ist ein grobes Modell des Aufbaus eines Weltsystems in Zentrum und Peripherien. Im Zentrum entstehen erfolgreiche politische Modelle, welche nach und nach von den Peripherien, die auch dadurch zur Peripherie werden, übernommen werden. Eines davon ist die Nation. Die Peripherien führen dann einen „abgeleiteten Diskurs“, in welchem sie versuchen, ihre indigene Auffassung in diese Modelle einztubringen – oder auch, sie ganz naiv zu übernehmen. Letzteres erweist sich meist als unmöglich, da die Umwelt ja durch das Modell schon geändert wurde. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648, dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs, ging die christlich-universalistische Auffassung endgültig unter. Sie hatte eine einheitliche Religion und auch eine einzige hierarchische politische Struktur für die gesamte Menschheit erstrebt. Sie war stets eine Ideologie und nie eine Wirklichkeit gewesen. Es ist der endgültige politische Sieg der Reformation über die angeblich universale Kirche, die vor allem ein universaler Herrschaftsanspruch gewesen war, der jetzt radikal ausgehöhlt wurde. Nun trat an ihre Stelle der staatliche Partikularismus grundsätzlich gleichberechtigter politischer Einheiten. Der ausformulierte Souveränitätsbegriff ist eine essentielle Voraussetzung für den Aufbau der Nation und vor allem des Nationalstaats. Die Theoretiker dieses Staatsaufbaus sind Jean Bodin (Souveränität), Hugo Grotius (Natur- und Völkerrecht), Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau (Gesellschaftsvertrag und Volkssouveränität).

5 Das internationale System: „Völkerrecht“
Die souveränen Staaten müssen (sollen) sich an gewisse Regeln des zivilisierten Umgangs miteinander halten, die vom „Naturrecht“ – d. h. vom allgemeinen Verständnis der Zeit von Gerechtigkeit und Dezenz – vorgegeben sind. Hugo Grotius 1609: Mare Liberum Hugo Grotius 1625: De Jure Belli ac Pacis Samuel von Pufendorf 1672: De jure naturae et gentium Suche nach Gewissheit in einer säkularisierten Welt von Einzelstaaten, nach Sicherheit in der Beziehung zwischen partikularen Souveränitäten: «Vernunft» und «die Übereinstimmung Aller» (oder auch nur «Vieler») enthüllt Naturrecht und Naturgesetz: Die menschliche Gattung ist eine Einheit, daher gibt es ein allgemeines Recht. Europäischer Suprematismus: christliche Offenbarung legt ebenso Regeln fest wie das „Naturrecht“ Doch was heißt das: „souverän“? Die Reformation hatte in Europa jeden ernsthaften Anspruch auf organisierte Universalität aufgelöst. Gesellschafts- und Staatsaufbau des 16. Jahrhunderts brachte einen zugespitzten Kampf um die Ressourcen der Welt. Welche Regulierung gibt es, wenn eine Vielheit von Staaten nicht in Anarchie pur verfallen soll? Für den Umgang von Staaten miteinander soll das „Völkerrecht“ Regeln vorgeben. Der Niederländer Hugo Grotius (1583 – 1645) forderte ein „freies Meer“ und definierte 1625 das „Recht von Krieg und Frieden“. Seine politische Stoßrichtung ging gegen die Konkurrenten Portugal und England. Sein intellektuelles Anliegen war die Suche nach Gewissheit und nach der Sicherheit einer festen Ordnung. Er fand sie in einer allgemeingültigen Logik, die er als Ontologie deutete. Die „Natur“ gibt eine ewige Ordnung vor, welche selbst Gott nicht abändern kann. Grotius findet seinen Archimedischen Punkt für das Problem der Regelhaftigkeit in der Übereinstimmung zumindest „der höher zivilisierten Nationen“ (europäischen Suprematismus). Gott habe die Welt erschaffen, und durch dreifache Offenbarung nach der Schöpfung, nach der Sintflut und mit Christus auch „göttliches gesatztes Recht“ gegeben. Der westeuropäische Nationenbau wurde als politisches Organisationsprinzip im 19. Jahr-hundert von allen Staaten übernommen und diente in wenig entwickelten Gesellschaften und im 20. Jahrhundert in der Dritten Welt bald als Modernisierungsstrategie. Die Reichweite des Nationalstaats ist durch seine territorialen Grenzen gegeben. In einer sich globalisierenden Gesellschaft gehen die Strukturbeziehungen über diese Grenzen hinaus.

6 Souveränität Der Staat wird in der frühen Neuzeit zum autonomen System gegenüber und über der Gesellschaft: Ein Regierungssystem mit einer Bürokratie beansprucht höchste Gewalt über Leben und Tod der Untertanen? Jean Bodin ehemaliger Mönch, dann Rechtsgelehrter und Bürokrat, 1576: Les six livres de la Republique (Lateinische Fassung: De Republica libri sex): Staat („la republique“, respublica) ist „eine richtige Regierung in voller Souveränität über mehrere Haushalte sowie das, was ihnen gemeinsam ist“. Bodin‘s „Souveränität“ ist eine Ideologisierung des Herrschers im frühen Absolutismus. Problemstellung: In der fortschreitenden Entwicklung konstituiert sich die Autonomie des politischen Systems. Das fördert bürgerlichen Emanzipation und Individualisierung. Herrschaft muss gerechtfertigt werden (Legitimationsproblematik). Wie? Jean Bodin sagt einfach: Die Bürger (francs subiects) sind dem Herrscher Gehorsam schuldig. Warum? Vor dem Nationenaufbau kommt also historisch der Staatsaufbau. Wenn heute im Englischen von „nation-building“ gesprochen wird, ist gewöhnlich der Aufbau eines modernen funktionierenden Staats gemeint. Der ausformulierte Souveränitätsbegriff ist somit essentielle Voraussetzung für den Aufbau der Nation und des National-staats. Bodin sieht am Beginn der Neuzeit zwei Notwendigkeiten für den Staat: „Es muss auch etwas geben, was allen gemeinsam und öffentlich ist.“ Dazu kommt: „Jedoch dürfen nicht alle Dinge, einschließlich Frauen und Kinder, gemeinsamer Besitz sein, wie Plato dies wünscht. Er beabsichtigt nämlich, die Begriffe ‚mein’ und ‚dein’ auszulöschen, da sie die Ursache für alle Unglücksfälle und Zusammenbrüche von Staaten seien. … Denn es gibt nichts Öffentliches, wenn es kein Eigentum gibt. Das Öffentliche kann nur in Bezug auf das Private gedacht werden“ (1, 2). Souveränität ist politische Struktur und muss sich von umfassenden sozialen Herrschaftsbeziehungen lösen. Der Staat ist eine autonome Struktur mit eigenen Erfordernissen. Nicht Herrschaft unterscheidet Staat und Gesellschaft voneinander. Seit Ende des Mittelalters entsteht langsam der moderne Apparatstaat aus dem Eigeninteresse des Herrschers. Diese „List der Geschichte“ macht seine Funktion als Integrations- und Steuerungsinstru-ment der Gesellschaft möglich. Es war das Ergebnis des Aufstiegs und Machtgewinns des Bürgertums und der neuen Intellektuellen gegenüber der alten, ritterlichen Aristokratie. Sie haben ein großes Interesse an gesicherten inneren Verhältnissen und an der Zentralisierung der Regierungsgewalt. Politische Herrschaft muss aber legitimiert werden. Die Herrschaftsinstitutionen, Regierung, Bürokratie und Justiz, müssen von einem grundsätzlichen Konsens der Bürger getragen werden, von der Zustimmung fast aller. Das gilt nicht für die Einzelpersonen (Minister, Regierungen), wohl aber für die Institutionen Staat.

7 Legitimität - der „Gesellschaftsvertrag“
Thomas Hobbes 1651: Leviathan Im Naturzustand herrscht Krieg Aller gegen Alle (Bellum Omnium contra Omnes) Das erfordert zum Überleben des Einzelnen eine Friedensordnung John Locke 1690, Zwei Abhandlungen über die Regierung Wenn die Herrscher ihre Verpflichtungen nicht einhalten, gibt es ein Widerstandsrecht Jean-Jacques Rousseau 1762: Der Gesellschaftsvertrag erzeugt einen Allgemeinwillen Der “Naturzustand” ist “jene elende Kriegssituation, die – wie wir sahen – aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen folgt wenn sie nicht von einer sichtbaren Macht in Schrecken gehalten und durch Angst vor Strafe zur Einhaltung ihrer eigenen Abmachungen und zur Beobachtung der Gesetze der Natur gezungen werden” (Hobbes 1651, Teil 2, Kap. XVII). Es gibt kein „Fehderecht“ mehr, der Staat hat ein „Gewaltmonopol“. Der „Gesellschaftsvertrag“ ist keine Beschreibung eines wirklichen Geschehens, sondern ein Denkmodell mit normativem Charakter. Er baut auf der Idee des autonomen Individuums auf – ein gewaltiger Sprung zu allen traditionalen (vormodernen) Auffassungen! Staat und Gesellschaft entstehen, so hören wir, aus einem „Vertrag“, in dem die Bürger Teile ihrer ursprünglichen anarchischen Freiheit an eine Regierung abtreten. Dazu gehört insbesondere das Recht, ihre berechtigten Ansprüche selbst gegen andere durchzusetzen: Das Problemlösungsanbot der neuen Gesellschaft bzw. ihrer Sprecher auf das Integra-tionsproblem war zweifach: Es bestand in nicht spontaner sondern institutionalisierter Selbstregulierung („bottom up“), andererseits in staatlicher Organisation mit Zwangscharakter („top down“). Was geschieht, wenn die Herrschenden (die Regierung z. B.) ihren Teil des Vertrags nicht einhalten und sich weigern, abzutreten, oder aber die wichtigsten Anliegen der Bürger zu erfüllen? “Wo die Anrufung des Gesetzes und ernannter Richter offensteht, die Hilfe aber durch offensichtliche Verkehrung und unverhüllte Rechtsverdrehung verweigert wird, um die Gewalttätigkeit und das Unrecht einiger Menschen oder einer Partei zu protegieren und straflos zu halten, da fällt es schwer, sich etwas anderes vorzustellen als einen Kriegszustand. ... Denn der Sinn der Gesetze ist es, durch vorurteilsfreie Anwendung auf alle, die unter ihnen stehen den Unschuldigen zu schützen und ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Wo dies nicht bona fide geschieht, wird gegen den Leidtragenden der Krieg erklärt. Ihnen bleibt dann nur als einziger Ausweg, den Himmel anzurufen, da sie auf Erden keine Instanz haben, die ihnen zu ihrem Recht verhilft” (Locke 1690, II, 3, § 20). Weniger verhüllt und in heutiger Sprache ausgedrückt: Es bleibt nur der bewaffnete Kampf (z. B. auch: Terrorismus), wenn Regierungen vitale Anliegen der Bevölkerung vernachlässigen und sich selbst den Regeln nicht beugen. Die Schwelle zum Einsatz von Gewalt ist in ethnischen und nationalen Konflikten besonders niedrig, da es dabei nicht um einfache Interessen, sondern um Identitäten geht.

8 Volkssouveränität: Wo aber liegen die Grenzen des „Volks“?
Weder Bodin noch die Kontraktualisten beantworten die Frage nach den richtigen Grenzen. Nach außen werden Grenzen gezogen durch: das politische Projekt Sprache Religion, Weltanschauung ethnische und nationale Identität Staatsbürgerschaft Wirtschaftssystem „Le desir d‘être ensemble“ (Ernest Renan 1882): die alltägliche Entscheidung (un plebiscite de tous les jours), zusammen zu bleiben, macht die Nation aus. Nation wird durch nationale Identität als Trägerin eines politischen Projekts zur abgegrenzten „Gemeinschaft“ Die radikale Entscheidung auf das Scheitern nationaler Projekte ist „exit“, eine häufigere wäre „voice“ (Opposition). Die Moderne brachte den Aufbau von Großorganisation, welche zu neuen, eng-maschigen, aber unpersönlich aufgefassten Abhängigkeiten in bürokratischen Herrschaftssystemen führte („organische Solidarität“ durch soziale Arbeitsteilung – Durkheim). Der nationale Aufbau führt zu einer langsamen Ausweitung der politischen Partizipation (Beteiligung am politischen Leben), eine bottom up-Bewegung. Dies ist in der nationalen Ideologie und ihrem Kernstück, der Volkssouveränität, angelegt. „Democracy was born with the sense of nationality: the two were inherently linked“ (Lia Greenfield 1992). Weiter: „In Europe, at any rate, the end of the nation-state would indeed mean the end of democracy as we know it“ (Jean Marie Guehenno). “Nation“ ist der politisch partizipierende Teil der Bevölkerung, dessen Partizipation – z. B. durch Wahlrecht – dem staatlichen Herrschaftsapparat die Legitimation seiner Existenz liefert. Das Wahlrecht als Paradigma der Partizipation hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ständig erweitert. Volkssouveränität als Doktrin muss nicht explizit Legitimierungsgrundlage des jeweils aktuellen Regimes sein, selbst wenn sich dieses selbst als „national“ kennzeichnet. Dies ist ein gar nicht seltener Fall bei konservativen oder autoritären Regimen (Franco-Spanien, Griechenland 1967 – 1974). Sie ist jedoch als impliziter Bezugspunkt unverzichtbar. Ein theokratischer Staat kann daher nie eine nationale Ideologie entwickeln und wird sich explizit dagegen aussprechen. Gleichheit (egalité, equality): Egalitarismus ist nicht irgendein politisches Ziel. Es ist ein emphatischer normativer Begriff, welcher anthropologisch eine politische Strategie und die Grundlage des politischen Projekts der Moderne darstellt. Die Spannung zwischen dem utopischen Endgehalt des Begriffs und der nüchternen und umstrittenen Verwirklichung im politischen Alltag macht das Pathos der Nation aus.

9 Identität: Person und Individuum als Einheit
René Descartes (1596 – 1650): Cogito, ergo sum Ich denke, also bin ich. Baruch de Spinoza (1632 – 1677): Hunderten von Definitionen, Festlegungen und Aussagen geben ein komplexes System der Welt. Doch auch er hängt dieses System am einzig sicheren Ich an die Wirklichkeit der Welt an. Erikson 1973: „Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: Der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. … So ist Ich-Identität unter diesem subjektiven Aspekt das Gewahrwerden der Tatsache, dass in den synthetisierenden Methoden des Ichs eine Gleichheit und Kontinuierlichkeit herrscht“ (18). „Menschen, die derselben Volksgruppe angehören, in derselben geschichtlichen Zeit leben oder auf dieselbe Art ihr Brot verdienen, werden auch gemeinsamen Vorstellungen von gut und böse geleitet. … Aus der Wahrnehmung, dass seine individuelle Weise, Erfahrungen zu verarbeiten (seine Ich-Synthese), eine erfolgreiche Variante einer Gruppenidentität ist und im Einklang mit der Raum-Zeit und dem Lebensplan der Gruppe steht, muss das heranwachsende Kind ein belebendes Realitätsgefühl ableiten können.“ (16 f.) Castells 1997: „Our world and our lives are being shaped by the conflicting trends of globalization and identity” (1). – “By identity … I understand the process of construction of meaning on the basis of cultural attributes, that is / are given priority over other sources of meaning. For a given individual, or for a collective actor, there may be a plurality of identities. Yet, such a plurality is a source of stress and contradiction of both self-representation and social action. This is, because identity must be distinguished from … roles, and role sets. … Roles … are defined by norms structured by the institutions and organizations of society. Their relative weight in influencing people’s behavior depend upon negotiations and managements between individuals and these institutions and organizations. Identities are sources of meanings by the actors, and by themselves, constructed by a process of individuation. Although … identities can also be originated by dominant institutions, they become identities only when and if social actors internalize them, and construct their meaning around this internalization. … Identities organize the meaning while roles organize the functions. I define meaning as the symbolic identification by a social actor of the purpose of her / his action. … Meaning is organized around a primary identity (that is an identity that frames the others), that is self-sustaining across time and space” (6 f.). “Legitimizing identity creates a civil society, that is, a set of organizations and institutions, as well as a series of structured and organized social actors which reproduce, although sometimes in a conflictive manner, the identity that rationalizes the sources of structural domination” (11). – Resistance identity: “Identities for resistance leads to the formation of communes or communities… This may be the most important type of identity-building in our society, … the exclusion of the exluders by the excluded“ (9). – Project identity Die erste Ausformung eines Identitätsbegriffes ergibt unter der Bezeichnung „Ich“ und „Selbst“ die Idee der persönlichen Identität. Der Individualismus der Moderne war damit vorgespurt. Er war eine Angelegenheit einer dünnen Intellektuellenschicht.

10 Gemeinschaft(lichkeit) versus Gesellschaft(lichkeit)
DO ut DES   o o o o   o o    Soziale-systemische Regulierung Face-to-face-Gruppe Mikrogruppe   Abstrakte Großgruppe Soziologie als Einzeldisziplin – im Gegensatz zu einer umfassenden Allgemeinen Sozialwissenschaft – hat sich an der Reflexion über die Spannung zwischen Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit entwickelt, wie immer die konkreten Benennungen dieser Aspekte gelautet haben. Gemeinschaft und Gesellschaft nennt Max Weber die zwei sich ergänzenden Dimensionen von sozialen Systemen. Er hat die Begriffe von Ferdinand Tönnies (1882) übernommen und meint damit Ähnliches, was Durkheim (1977 [1893]) unter die Begriffe mechanische und organische Solidarität fasst. Der entscheidende Punkt dieser analytischen Begriffe scheint zu sein, dass sie auch jeweils unterschiedliche Integrationsmechanismen charakterisieren. Max Weber (1976, 21; 212 ff.) hat Tönnies‘ Ideen ziemlich getreu übernommen. Er hat sie aber durch einige wenige Akzentverschiebungen in ihrem Stellenwert dann fundamental verändert. „Subjektiv gefühlte (affektuelle oder traditionale) Zusam-mengehörigkeit der Beteiligten“ kann sich im Verlauf des Entwicklungsprozesses von Großgesellschaften somit von „rational (wert- oder zweckrational) motivier-tem Interessenausgleich oder ... Interessenverbindung“ trennen. Vergemeinschaf-tung und Vergesellschaftung sind bei ihm Aspekte jeder Gesellschaft. „Vergemein-schaftung kann auf jeder Art affektueller, oder emotionaler, oder aber traditionaler Grundlage ruhen ... Den Typus gibt am bequemsten die Familienge­meinschaft ab. Die große Mehrheit sozialer Beziehungen aber hat teils den Charakter von Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung“ (22). Das widerspricht der Formulierung von Tönnies nicht, wohl aber dem Geist von dessen Ausführungen und seiner Klassifikation von Sozialsystemen in Gemeinschaften oder Gesellschaften.

11 Ethnizität: Zugehörigkeit und ihre Mystik
Zur Definition von Ethnizität Benennung Funktion genus proximum Soziale Identität als Integration objektiver Sinnzusammenhang differentia specifica “mechanische Solidarität” als Abgrenzung austauschbare Perspektive  1. Schar, Haufe; 2. Geschlecht, Volk, Volksstamm, Menschenklasse; NT [= im Neuen Testament]   Heiden„ (Gemoll – Griechisches Wörterbuch 1959) Moderne Ethnizität ist eine weitgehend abstrakte soziale, oder kollektive, in aller Regel durch Zuschreibung erworbene – in diesem Sinn „angeborene“– Identität.die sich auf größere soziale und / oder politische Einheiten bezieht; die Zugehörigkeit zu ihnen grenzt sie meist an bestimmten, aber beliebigen Merkmalen ab, wobei zu den Außenstehenden ein deutlicher sozial-mentaler Abstand gehalten wird. – Ethnizität ist eine Sinnwelt, über die ein Mensch seine Stellung in seiner Gesellschaft und deren Situation wahrnimmt. Ethnizität bezeichnet jenen Personenverband, "mit Beziehung auf den wir Subjekte einer gemeinsamen Umwelt sind ... Die dem sozialen Verband zugehörigen Personen sind einander gegeben als 'Genossen', nicht als Gegenstände, sondern als Gegen-subjekte, die 'mit'einander leben, verkehren, aufeinander bezogen sind" (Husserl 1984, 21 und 25). Nur dieses Gegen-Subjekt, dieser Genosse, der teilhat an der eigenen Lebenswelt, wird als voller, gleichwertiger Mensch anerkannt. Im erfolg-reichen Nationenaufbau gelang die Übertragung dieser Solidarität vieler kleinerer Einheiten auf eine größere. Damit musste das Gemeinschaftsgefühl abstrakter werden. Voraussetzung war die grundsätzliche Anerkennung der Zugehörigen als Gleiche. Nur ein solcher Grundkonsens über nationale Gleichheit wird als nationale Gerechtigkeit akzeptiert: "In einer gerechten Gesellschaft (gelten) gleiche Bürger-rechte für alle als ausgemacht; die auf der Gerechtigkeit beruhen­den Rechte sind kein Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer Interessensabwägung" (Rawls 1979, 20). Ethnizität konstituiert für die Angehörigen einer Ethnie eine Relevanzstruktur. Die unterschiedlichen Bedeutungswelten sind die Grundlage des Begriffes des "Fremden", "Anderen". Die Denkwelt des Anderen hat für "uns" zuwenig Bedeutung. Dieser Bedeutungsmangel – das Nicht-Verstehen – geht in eine Bewertung über, die den Anderen nicht mehr als vollwertig anerkennt. Der ethnische Lebenszusammenhang gibt dem Einzelnen den jeweiligen Idealtypus seines gesellschaftlichen Handelns vor. Ethnisches Handeln entsteht dann, wenn ein bestimmter Sinn- und Zugehörigkeitsbezug thematisiert wird: Ist das Du, auf das sich mein Handeln bezieht, mir “kulturell” (d. h.: ethnisch) gleich? Kann ich annehmen, dass der persönlich Andere grundsätzlich denselben Sinnbezug hat wie ich? Kenne ich ihn voraus? – Die Sinnbezüge innerhalb einer Ethnie sind “fraglos gegeben”; jene zwischen den Ethnien werden thematisiert, eine Differenz wird vorausgesetzt.

12 Nationale Identität als Trägerin des Politisches Projekt Nation
Aus einem Kampflied königstreuer preußischer Truppen 1848: “Das waren Preußen, schwarz und weiß die Farben … Da schnitt ein Ruf ins treue Herz hinein; ’Ihr sollt nicht Preußen mehr, sollt Deutsche sein.’ …Heil uns, sie wollen nicht mehr Preußen sein. Schwarz, Roth und Gold glüht nun im Sonnenlichte, der schwarze Adler sinkt herab entweiht … so treu wird keiner wie die Preußen sein.“ In der Berliner Revolution von 1848 standen sich Progressive und Konservativ-Reaktionäre gegenüber. Sie suchten jeweils nach anderen politischen Identitäten. Die Reaktionäre in Berlin, der Hauptstadt Preußens, nannten sich „Preußen“. Die Progressiven sprachen von sich als „Deutsche“. Die nationalen Identitäten symbolisierten also verschiedene politische Programme. Die Nation als politisches Projekt verband sich mit der Ethnie. Diese Verbindung von Staatsorganisation und -legitimität mit der linguistisch markierten Ethnizität einer aufstrebenden Elitengruppe – der Bürger und Intellektuellen, „Besitz und Bildung“ – wurde zum zentralen Prozess des Nationenbaus schlechthin. Er wird die Auffassung von Nation über die nächsten, d. h. die vergangenen zwei Jahrhunderte bestimmen. Nation wurde also jetzt zur Ethno-Nation. Selbst heute ist diese Auffassung noch herrschend. Die nationale Identität ist vom politischen Projekt abhängig. In der Revolution von 1848 in Berlin wollten die Progressiven „Deutsche“ werden. Die Konservativen und Reaktionäre wollten hingegen „Preußen“ bleiben. In der politischen Realität setzte sich unter Bismarcks Führung weitgehend das preußische Projekt durch, musste sich aber aus propagandistischen Gründen ein „deutsches Kleid“ geben: 1866 bis 1871 wurde das „Deutsche Reich“ gegründet. Doch die Volksschichten waren lokal und regional orientiert. Sie mussten ihre neue politische Identität erst lernen. Johann Gottlieb Fichte (1978, 22 und 145) : "Wir wollen durch diese neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden... Die Mehrheit der Bürger muss zu diesem vaterländischen Sinne erzogen werden." Er wendet er sich an die dünne Intellektuellenschicht, die er realistisch gleichzeitig zu "den" Deutschen schlechthin erklärt: "Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben... Mein Geist versammlet den gebildeten Teil der ganzen Deutschen Nation, aus allen den Ländern, über welche er verbreitet ist, um mich her... Ich erblicke diese Einheit schon als entstanden, vollendet, und gegenwärtig darstehend" (13 f.)

13 Nationalismus Nation Nationalismus Struktur Ideologie
„Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ Marx: Kritik der Hegel‘schen Rechtsphilosophie, 1843 Nation als spezifisches Verhältnis von Gesellschaft zu Staat, als moderne, staatlich organisierte und abgegrenzte, oder jedenfalls nach abgegrenzter staatlicher Organisation strebende Gesellschaft mit eigener Identität ist eine Legitimations-struktur. Der „nationalen Identität“ – nämlich eine (irgendwie) reflexiven Bewusstseins - bedarf es aber, um als solche funktionieren zu können. Doch Nationalismus und nationale Identität sind nicht dasselbe. Der Nationenbau der Französischen Revolution war universalistisch politisch motiviert. Die Franzosen sahen sich als Träger eines politischen Projekts – sie glaubten den Fortschritt der Menschheit insgesamt zu verkörpern. Als die reaktionäre Koalition (Habsburg, Preußen, Großbritannien) sie angriff, rutschte diese Haltung hin zum partikularistischen französischen Nationalismus. Der motivierte als Großmacht-Chauvinismus auch die Napoleonischen Kriege. Es wurde der herrschende Stil des früheren Nationalismus. Etwa ein halbes Jahrhundert später begann der emanzipatorische Aufbau kleiner Nationen. Der fand mental auf ethnonationaler Basis statt. Staat weiträumig konkurrierenden Nationalismen entstand nun ein Strauss defensiver, partikulär und exklusiv verstandener Einstellungen. Ihre ethnische Grundlage kannte nur zugeschriebene Identitäten. Sie suchten die unmögliche Rückkehr zu einer angeblich ursprünglichen Authentizität und wurden so politisch bald erzreaktionär. Es war die große Wende von Nation und Nationalismus. Panbewegungen (Pan-Slawismus, Pan-Germanismus, Pan-Turanismus, etc.) bildeten eine spezifische literarische und intellektuelle Form des Nationalismus. Sie verwechselten Sprachverwandtschaft mit ethnischer Zugehörigkeit. Damit wollten solche Gruppen Großmacht-Ambitionen auf „ethnischer“ (nämlich sprachlicher) Grundlage verwirklichen. Sie mussten folglich alle scheitern.

14 Die Ausgeschlossenen von der Nation: Die Frauen
Olympe de Gouges stellte der Männerrechtserklärung schon 1791 eine Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte (Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne) gegenüber. Überall, wo in der Menschenrechtserklärung "hommes" steht, setzt Olympe de Gouges "femme" oder "femmes et hommes" ein, je nach Kontext: "La femme naît libre et demeure égale à l'homme en droits.“ 1792 Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman In ihrer intellektuell anspruchsvolle Abhandlung fordertdie britische Autorin Gleichberechtigung ein. Das Wahlrecht für Frauen kam überall sehr spät: Neuseeland 1893 Finnland 1906 (der Reichstag hatte aber keinerlei Bedeutung) Sowjet-Russland 1917 Österreich 1918 Deutsches Reich 1918 Großbritannien in Etappen zwischen 1918 und 1956 Schweiz (auf Bundesebene) 1971 Die Nation, d. h. immer: ihre berechtigten Sprecher, verstand sich anfangs keineswegs als Personalverband aller (erwachsenen) Staatsangehörigen. Frauen waren aus zwei Gründen ausgeschlossen: Zum einen war das Grundelement der Gesellschaft nicht die Person / das Individuum, sondern der Haushalt / die Familie inklusive aller nichtver-wandten Dienstboten, repräsentiert durch und beherrscht vom Mann, wie wir es schon bei Bodin lesen können. Nur der Haushaltsvorstand, der Hausherr, war sozial und in der Folge politisch berechtigt. Zum anderen wurden Frauen schlicht nicht als gleichwertig anerkannt. Der zweite Aspekt wurde manchmal durchbrochen, wenn die Frau in Ausnahmefällen selbst Vermögen im gesellschaftlich anerkannten Sinn (Grundbesitz z. B.) hatte – in diesem Fall konnte sie im Habsburgerstaat bis zum Ende des 19. Jahrhundert sogar das damals sozial höchst eingeschränkte Wahlrecht besitzen: „In der Wähöerklasse des großen Grundbesitzes (der Höchstbesteuerten) werden auch Frauenspersonen, welche eigenberechtigt, 24 Jahre alt und vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen sind, als wahlberechtigt behandelt“ (§ 9 Gesetz vom , RGBl 41, über die Wahl zum Abgeordnetenhaus). Erst mit der Individualisierung der modernen Gesellschaft ergab sich die Voraus-setzung, dass Frauen unmittelbar Mitglieder der Nation wurden, nicht erst über ihre Väter oder Männer. Es waren die progressiven Bewegungen, vor allem die Sozialdemokratie, welche die politische Gleichberechtigung der Frau einforderten. Die soziale Gleichstellung ist ein viel umfassenderes Thema, welches noch in der Gegenwart eine wesentliche Problematik darstellt, in diesem Sinn bereits eine „postmoderne“ Thematik ist. Geschlechtsidentität kann sich so mit nationaler / ethnischer Identität schlagen, oder aber auch ergänzen. Man zählt sie heute häufig u. a. als postmoderne Identität auf und meint damit nicht selten postnationale Identität.

15 Die Ausgeschlossenen von der Nation: Die Unterschichten
Dienstboten und Unselbständige überhaupt sind politisch rechtlos, weil sie ja nicht „unabhängig“ seien und daher keinen eigenen Willen hätten. Der Habsburgerstaat als Beispiel für politische Mitsprache und ihre Entwicklung: 1873: Das direkte Wahlrecht für den Reichsrat wird eingeführt, doch es gilt ein 10-Gulden-Zensus: Nur Menschen mit einer Steuerleistung von mindestens 10 Gulden dürfen wählen 1882: Auch „Fünf-Gulden-Männer“ dürfen wählen Wahlgesetz Cisleithaniens vom 14. Juli 1896 (RGBl 168): Der Zensus wird auf 4 Gulden Steuerleistung pro Jahr herab gesetzt, eine „allgemeine Kurie“, wo alle Männer über 21 Jahre Wahlrecht hatten, wird eingeführt. Die Zahl der Wähler verdreifacht sich. Bei der Wahl 1901 bedurfte es für 1 Mandate an Stimmen: In der Handels- und Gewerbekammer Wähler Großgrundbesitzer Wähler Städtische Kurie Wähler Landgemeinden Wähler Allgemeine Kurie Wähler 1845 Benjamin Disraeli schreibt den Roman: „Sybil or: The Two Nations“ Die erste frühnationale Revolution war die britische Republik Cromwells, das Direktorat. Es war eine Diktatur der besitzenden Mittelschichten. Die Unterschichten hatten an den Kämpfen Anteil genommen, waren jetzt aber ausgeschlossen. Die Digger und die Leveller, diejenigen, die „gruben“ (auf den Feldern arbeiteten) und die „gleich machen“ wollten, nahmen dies nicht hin. Sie argumentierten dabei nicht nur politisch, sondern griffen auf ein in England nie verschwundenes „ethnisches“ Argument zurück: Die Herrschenden sind fremder, normannischer, Herkunft und deswegen illegitim. Doch noch zwei Jahrhunderte hatten sie keine Chance. Erst Mitte des 19. Jh. forderten diese Schichten wieder hörbar Mitsprache. Die Eliten aus ganz Europa antworteten ihnen: Wir stellen „Besitz und Bildung“ dar und sind daher als einzige zur politischen Mitsprache befähigt. Nur wir haben ein essentielles Interesse an der Nation, die als Sicherheitsgemeinschaft unsere Lebensgrundlage und unsere Kultur schützen muss. Die Unterschichten sind hingegen von ihrem Lohn und damit vom Arbeitgeber abhängig. Sie können daher gar nicht unparteiisch über Allgemeininteressen entscheiden. Umso weniger können sie das, als sie die notwendige Vorbildung in Gymnasien und Hochschulen nicht genossen haben. Dieses Argument können wir auch bei „Radikalen“ wie J.-J. Rousseau finden. Die Sozialdemokraten, deren Führer fast ausnahmslos bürgerlicher Herkunft waren, griffen es später auf und drehten es um: „Bildung macht frei“ und „Wissen ist Macht“ waren die Losungen, mit denen sie für die Ausweitung der Grundbildung, für Volksbildung und für weiteren Zugang zur höheren Bildung eintraten.

16 Die Sprache und die Sprachen
Intellektuelle beginnen früh die Volkssprache zu nützen und zu reflektieren Dante Aleghieri: De vulgari eloquentia, um 1305 Joachim du Bellay : La défense et illustration de la langue française, 1549: Auch die Volkssprachen sind für Kultur und Literatur geeignet und « schön ». Die sprachliche Standardisierung, meist als Übersetzung heiliger Texte, war seit je das effizienteste Mittel der Sprachplanung. Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen der frühen Neuzeit (zumindest das „Neue Testament“) 1382 (88) Englisch: John Wycliffe und Schüler 1522 (NT) bzw (AT) Deutsch: Martin Luther 1530 Französisch: Jacques Lefèbre d’Etaples 1548 Finnisch: Mikael Agricola Um 1585 Slowenisch: Jurij Dalmatin Die winzige Intellektuellenschicht des Mittelalters sprach und schrieb in Westeuropa Latein als ihre lingua franca. In Südosteuropa spielte Griechisch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Rolle. Mit dem Aufbau gesonderter, partikularer, Identitäten entwickelten die regionalen Intellektuellengruppen ihre jeweils eigene Hochsprache bzw. „Nationalsprache“. Sie sollte auch dem Volk verständlich sein. Beispiel: Nach der Verselbständigung Griechenlands seit 1821 suchte die griechische Elite – an ihrer Spitze ein 1833 aus Mitteleuropa importierter bayrischer König – eine würdige Stammtafel für die griechische Nation. Sie fand sie im klassischen Griechenland. Doch die neue griechische Sprache hatte mit dem Altgriechischen nur mehr wenig zu tun, weder mit dem Attischen, noch mit der lingua franca des Hellenismus, der Koiné. Mit den Volksschichten wollte die neue Elite nicht verwechselt werden, und schon gar nicht mit den Banditen (Kleften), welche vor Ort den Unabhängigkeitskampf militärisch getragen hatten. Die Elite entschied sich für eine Sprache, die auf dem Altgriechischen aufbaute und ergänzt war mit Elementen der Gegenwart. Die Katharevousa („reine Sprache“) war dem Großteil des Volks nicht verständlich. Es kam zu einer Gegenbewegung: Intellektuelle mit einem stärker demokratischen Nationalprojekt (an ihrer Spitze Ioannis Psicharis, dessen Buch „Meine Reise“ 1888 als Startpunkt gilt) wollten die gesprochene Sprache, die Demotiki, die „Volkssprache“, zur National- und Literatursprache machen. Die demotische Bewegung war ein nationales Konkurrenzprojekt zur hegemonialen Elite. Die griechische Obristenjunta förderte in der Militärdiktatur 1967 bis 1974 die Katharevousa. Unmittelbar nach ihrem Zusammenbruch (1976) wurde erst die Demotiki zur Nationalsprache. Die Akzentsetzung wurde vereinfacht.

17 Volkssprache – Nationalsprache
J. G. Herder, Über den Ursprung der Sprache 1772: Es ist die ausgebildete Sprache, welche den Menschen vom Tier unterscheidet. Doch: Sprache gibt es in der Mehrzahl, es gibt Sprachen! Herder ist Universalist: „In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint, so ist's doch überall ein und dieselbe Menschengattung .“ (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1780 – 1790) Der Marquis de Condorcet (1743 – 1794), Aktivist der Französischen Revolution, wollte dagegen eine Universalsprache aufbauen. Sprache ist „quintessential symbol“ (J. Fishman) für die Nation und ihre Einheit. Die Nation wird im 19. Und 20. Jahrhundert fast überall (Ausnahme: Schweiz) zur Sprachnation. Junge Nationen glauben daher bis heute, sie müssten unbedingt eine eigene Sprache haben : Aus dem Serbokroatischen wurde so im letzten Jahrzehnt: das „Serbische“; das Kroatische“; das „Bosnische“, vielleicht bald das „Montenegrinische“ Bulgarisch unterscheidet sich politisch von Makedonisch; Rumänisch von Moldawisch Es gab Sprachwiederbelebungen: symbolisch in Irland (Gälisch), erfolgreich in Israel (Iwrid). Mit dem Beginn des nationalen Aufbaus diente die (Mutter-, Umgangs-, Amts-) Sprache als wesentlichstes Mittel zur Markierung der Zugehörigkeit im Inneren und der Grenzziehung nach außen. Sie symbolisierte auch das jeweils hegemoniale politische Projekt. Nationalsprachen sind vorrangig politische, erst an zweiter Stelle auch linguistische Tatbestände. „A language is a dialect, backed by an army.” Die jeweilige Sprachenwahl ist nicht zufällig, sondern trägt politische Absichten mit sich. Beispiel Norwegen: Nach einigen Jahrhundert dänischer Herrschaft und einem weiteren Jahrhundert konfliktreicher Union mit Schweden erlangte das Land im Jahr 1905 seine Unabhängigkeit. Ende des 19. Jahrhunderts war die Schriftsprache der gebildeten Schichten in Norwegen das Dänische, das Bokmål oder Riksmål, eine gemeinskandina-vische Hochsprache in dänischer Version, die auch den Schweden verständlich ist. Es war die Sprache der alten, in Christiania (Oslo) konzentrierten Oberschichten. In der Folge der Nationalisierung kam es zum Phänomen einer doppelten Staatssprache. Die neue Nation sollte nach dem Willen einer auf Unabhängigkeit bedachten Intellektuellen-gruppe auch ihre eigene Sprache mit Programmcharakter haben. Der Oberschichtsprache wurde also die Sprache der blutarmen norwegischen Bauern gegenüber gestellt. Doch die war je nach Gegend verschieden. Also entwickelte man eine neue Sprache aus Elementen dieser Dialekte, das Nynorsk. Die Devise war und ist bis heute: Sprich Deine Regionalsprache, aber schreib Nynorsk! Aus diesem Grund lässt sich auch nicht sagen, dass heute 20 % der Norweger „Nynorsk sprechen“. Etwa dieser Anteil erlernt aber das Nynorsk als erste Schriftsprache in der Schule, vor allem in Gemeinden des (süd-) westlichen Norwegens. Nicht wenige Menschen in Oslo haben mit diesen Eigenheiten politisch-mentale Mühe. Es gibt erhebliche Ressentiments gegen das Nynorsk. So wurde diese neue Nationalsprache zu einer inneren Konfliktlinie, nicht zum Einheitsinstrument. Der Versuch eines Kompromisses (Samnorsk) blieb im wesentlichen folgenlos.

18 Kleine und große Vaterländern
Intellektuelle wollen riesige Nationen haben, nicht lokale Gesellschaften Ernst Moritz Arndt Was ist des Deutschen Vaterland? (1813, von 1841 stammt ein Zusatz) Was ist des Deutschen Vaterland? Ist´s Preussenland ? ist´s Schwabenland? Ist´s, wo am Rhein die Rebe blüht? Ist´s, wo am Belt die Möwe zieht? O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer seyn. Was ist des Deutschen Vaterland? Ist´s Baierland ? ist´s Steierland? Ist´s, wo des Marsen Rind sich streckt? ist´s, wo der Märker Eisen reckt? O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer seyn. Was ist das Deutsche Vaterland? So nenne endlich mir das Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es seyn! Das, wackrer Deutscher, nenne dein. Das ist das Deutsche Vaterland, Wo Eide schwört der Druck der Hand, Wo Treue hell vom Auge blitzt Und Liebe warm im Herzen sitzt, Das soll es seyn ! Das, wackrer Deutscher, nenne dein. Das ist das Deutsche Vaterland, Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand, Wo jeder Franzmann heißet Feind, Wo jeder Deutsche heißet Freund, Das soll es seyn ! Das ganze Deutschland soll es seyn! Nationen des 19. Jahrhunderts waren zwar regional partukarisiert; doch sie waren als Großgesellschaften konzipiert: Engels’ Diktum in einem Brief an Marx lautete: "Eine Nation, die bis Mann [an Truppen] höchstens stellt, hat nicht mitzusprechen" (MEW 27, 268). Nur eine Großmacht, nur ein großes „Vaterland“, kann wirklich eine Nation sein! Politisch bedeutete dies eine Hierarchie von Staaten und Nationen. Am Berliner Kongress 1878 wurde über die politische Situation auf dem Balkan entschieden. Doch die unmittelbar Betroffenen, die Staaten des Südost-Balkans, waren nur zur Auskunft eingeladen, nicht als gleichberechtigte Teilnehmer. In Griechenland bezeichnet man heute noch dieses Faktum – in Verkennung der Lage und in der für Hellas fast grotesken Illusion einer „autochthonen Entwicklung“– als den „ausländischen Faktor“ (ο ξένος παράγοτας). Kleine Nationalstaaten waren und sind hauptsächlich Objekte und nicht Subjekte der Politik. Die „kleinen Nationen“ waren Völker, welche ihre Nationenbildung in der Abhängigkeit einer politischen und wirtschaftlichen Peripherie durchliefen, von Menschen anderer Sprache und d. h. im damaligen Verständnis anderer nationaler Zugehörigkeit beherrscht. Als „kleine Nationen“ (Hroch 2000 [1985]) entstanden und politisch selbständig wurden – die Finnen, die Norweger, die Tschechen, die Völker des Balkan, die baltischen Nationen – bedeutete dies einerseits eine Ethnisierung von Politik, andererseits einen Demokratisierungsschub. Nationale Selbstbestimmung erhielt zum ersten Mal einen politischen Inhalt.

19 Chauvinismus: „Auserwählung“ – Außenfeind
„Somit ist unsre nächste Aufgabe, den unterscheidenden Grundzug des Deutschen vor den andern Völkern germanischer Abkunft zu finden, gelöst. Die Verschiedenheit ist sogleich bei der ersten Trennung des gemeinschaftlichen Stamms entstanden, und besteht darin, daß der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache.“ „Naturgemäßheit von deutscher Seite, Willkürlichkeit und Künstelei von der Seite des Auslandes sind die Grundunterschiede. ... Alle die Uebel, an denen wir jetzt zu Grunde gegangen, [sind] ausländischen Ursprungs .“ Der „ertödtende Geist des Auslands“, die ständige „Ausländerei“ ist die Wurzel allen Übels. Johann Gottlieb Fichte 1808: Reden an die Deutsche Nation Integraler Nationalismus existierte jedoch in allen europäischen Nationen: Frankreich: Maurice Barrès (1862 – 1923) und Charles Maurras (1868 – 1952) Italien: Giovanni Pascoli (1855 – 1912) und Enrico Corradini (1865 – 1931) Griechenland: Ion Dragoumis (1878 – 1920) und Athanasios Souliotis-Nikolaides (*1878) Norwegen: Knut Hamsun (1859 – 1952); Usw. Integraler Nationalismus macht die Nation zum „letzten Sinnziel“ (Parsons). Hier paart sich Auserwählungsglaube an eine „offenkundige Bestimmung“ (manifest destiny) mit nativistischen Kommunalismus (Fremdenfeindlichkeit) und Autoritarismus. Die Suche nach Sinn in der sozialen Transzendenz hat sich also mit dem Nationalismus verbunden. Die integralen Nationalisten waren auch jene Kreise, welche den Krieg im Jahre 1914 als „Ausweg“ (woraus?) suchten. Der Populärphilosoph J. G. Fichte (1772 – 1814) entwickelt im Hass auf die Franzosen und insbesondere Napoleon einen nationalistischen Mythos und eine Mystik, die in frappierender Weise an Nazi-Theorien erinnert. Dieser nationalistische Chiliasmus bekämpfte die "Ausländerei", nämlich den französischen Rationalismus und den englischen Utilitarismus. Es ist nicht politischen Theorie, sondern pure Ideologie. Das ist allerdings nicht ein „deutsches Modell“ der Nation. Der integrale Nationalismus war innerhalb der vielen Ausdrucksformen des Nationalismus eine europaweite Strömung, welche diesen Zug auf nahezu pathologische Weise ausprägte. Ein beträchtlicher Teil der pubertierenden Oberschicht-Jugend und der Adoleszenten dieser Zeit in Europa fanden in den kranken Hirnen überspannter und eifernder Nationalisten ein Idol – wie bei M. Barrès in Frankreich. Darüber hinaus fanden sich genug Erwachsene aus der Elite, welche diesen Gedanken Einfluss auf die offizielle staatliche Politik verschafften. Die deutlichste Formulierung solcher Haltungen findet sich in Hitlers Programmschrift „Mein Kampf“. Diese Stilistik teilt der Nationalismus mit manchen anderen „jungen“ Bewegungen, sie kennzeichnet nicht nur Nationalismus als solchen.

20 Nationale Homogenisierung – ethnische Säuberung
... und nach der ethnischen Säuberung durch die türkischen Truppen 1974 Zyprern vorr... 1915 Genozid an den Armeniern Ab 1921 „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der neuen Türkei<

21 Nationenbau: ein Zentralisierungsprozess
Nationenbau ist auch ein Zentralisierungsprozess bisher unverbundener lokaler und regionaler Kleingesellschaften, in politischer wie in sozialer Hinsicht. "Eine ungeheure Zentralgewalt [hat] in ihre Einheit alle Bestandteile von Einfluss und Autorität an sich gezogen und verschlungen... Nicht nur die Provinzen gleichen einander mehr und mehr, sondern es werden auch in jeder Provinz die Menschen der verschiedenen Klassen, zumindest alle diejenigen, die außerhalb der Masse des Volkes stehen, trotz aller Standesunterschiede einander immer ähnlicher... Durch die noch vorhandenen Verschiedenheiten schimmert die Einheit der Nation hindurch; die Gleichförmigkeit der Gesetzgebung lässt dies erkennen" (Tocqueville 1978 [1861], 25 und 87). "Es leuchtet ein, dass die Zentralisierung der Regierung eine gewaltige Macht erhält, wenn sie sich mit der Verwaltungszentralisierung verbindet. Solcherweise gewöhnt sie die Menschen daran, von ihrem Willen vollkommen und beständig abzusehen; nicht nur einmal und in einem Punkt, sondern durchwegs und täglich zu gehorchen... Sie gibt sie der Vereinzelung preis und bemächtigt sich daraufhin jedes Einzelnen in der allgemeinen Masse. Diese beiden Arten der Zentralisierung [der Regierung und der Verwaltung] stützen sich wechselseitig, sie ziehen sich gegenseitig an; aber ich kann nicht glauben, daß sie untrennbar sind." (Tocqueville 1978 [1861], 98 f.) Nation funktioniert als Integrationssystem und stellt eine Großgesellschaft über den Aufbau einer gemeinsamen pseudogemeinschaftlichen Identität her. K. W. Deutsch (1953) nannte dies Kommunikationsgemeinschaft. Deutsch zählt als allgemeine Strukturen der Nation bzw. des Nationenbaus vorwiegend soziale und erst an zweiter Stelle auch politische Prozesse auf: 1. Der Übergang von einer Subsistenz- zu einer Tauschwirtschaft. – 2. Die Mobilisierung der ländlichen Bevölkerungsgruppen in Zentren dichter Besiedlung mit intensiviertem Tausch. – 3. Das Wachstum der Städte. – 4. Das Entstehen eines Kommunikationsnetzes, welches die zentralen Orte eines ausgedehnten Gebiets für Transporte, Wanderungen und Reisen miteinander verbindet. – 5. Die gleichzeitige Akkumulation und Konzentration von Kapital und Ausbildung, der Eintritt weiterer sozialer Schichten in den Mobilisierungsprozess. – 6. Das Entstehen des Interessens-Begriffs und die wachsende Bereitschaft, in einem selbstbewussten Entscheidungsprozess sich spezifischen Gruppen anzuschließen, welche durch Sprache und Kommunikationsgewohnheiten verbunden sind. – 7. Das Verschmelzen ethnischen Bewusstseins mit dem Aufbau eines politischen Zwangsapparats (eines Staats) und manchmal mit dem Versuch, das eigene „Volk“ (die eigene Spracheinheit, ...) darin zu einer privilegierten Klasse zu machen. Nationenbau läuft vorrangig als Prozess der politischen Zentralisierung ab, welcher insbesondere der lokalen und regionalen Ebene Steuerungsfunktionen entzieht. Daher kommt es immer wieder zu Gegenreaktionen, zum Regionalismus, zum subnationalen Partikularismus auf ethnosprachlicher Grundlage, usw..

22 „Postnation“: Ziel oder Illusion?
„Tod der Nation“? Die liberale Schule will zuerst Assimilation der „Unterentwickelten“ (J. St. Mill), dann eine universelle Gesellschaft, denn sie ist gegen „Partikularismus“. Der Marxismus stellt die Klassenidentität über die nationale Identität. Die neuere politische Theorie schließlich konstatiert ein Kongruenzproblem: Die Reichweite des nationalen Staats fällt nicht mehr mit der Regelungsnotwendigkeit für soziale und politische Probleme zusammen – es bedarf daher supranationaler Institutionen (Zürn). Problem: Kann ein Staat, auch ein supranationaler, für seine Legitimität, Kohäsion und seine Umverteilungsprozesse auf den gemeinschaftlichen Aspekt verzichten? Politische Identitäten sind auch in Westeuropa (EU) – noch? – vorrangig national bestimmt: Nationale und europäische Identität: EU-15, 2003 (Eurobarometer) In der Nahen Zukunft, sehen Sie sich da ... (in %) Gesamt ... nur als (Nationalität) 40 ... als (Nationalität) und als Europäer/in 45 ... als Europäer/in und als (Nationalität) 8 ... nur als Europäer/in weiß nicht Zusammen “Experience proves that it is possible for one nationality to merge and be absorbed in another: and when it was originally an inferior and more backward portion of the human race the absorption is greatly to its advantage. Nobody can suppose that it is not more beneficial to a Breton, or a Basque of French Navarre, to be brought into the current of the ideas and feelings of a highly civilised and cultivated people – to be a member of the French nationality, admitted on equal terms to all the privileges of French citizenship, sharing the advantages of French protection, and the dignity and prestige of French power – than to sulk on his own rocks, the half-savage relic of past times, revolving in his own little mental orbit, without participation or interest in the general movement of the world. The same remark applies to the Welshman or the Scottish Highlander as members of the British nation” (John St. Mill, On Representative Government, Ch. XVII, 1864). „An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. ... Die Arbeiter haben kein Vaterland. ... Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse “ (Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1847). Aber: „Neither compact nor promise upon which compacts rest are sufficient to assure perpetuity, that is, to bestow upon the affairs of men that measure of stability without which they would be unable to build a world for their posterity“ (Hanna Arendt, On Revolution 1973).

23 Eine vornationale Struktur: Das Osmanische Reich
Die Reformen des Osmanischen Reichs im 19. Jh. (Tanzimat) waren bis 1839 traditionaler Transformismus; dann wurden sie zu einem reformistischen Transformismus. Sie wollten das System retten, indem sie die Personen austauschten und durch weniger korrupte Menschen ersetzten. Reformistischer Transformismus modelt weniger wichtige soziale Beziehungen und Institutionen um. Nationenbau ist eine Revolution, sie will einen fundamentalen Umbau, den modernen Staat. Das Osmanische Reich war unreformierbar. Es konnte den Anforderungen einer globalisierten Welt nicht standhalten. Es war ein System gegen die Modernisierung. Das Geschehen ruft politische Prozesse der Gegenwart in Ländern der Dritten Welt heute in Erinnerung. Ständig intervenierten die damaligen Großmächte in die inneren Angelegenheiten. Die wichtigsten Reformerlässe, das Hatt-i şerif von Gülhane 1839 und das Hatt-i hümayun 1856, waren durch äußere Abläufe veranlasst und wandten sich an die Großmächte Frankreich und Großbritannien. Auf ihr Wohlwollen kam es an. Die Europäer sollten das modernisierte osmanische Rechtssystem akzeptieren und auf die „Kapitulationen“ (Eingriffsrechte) verzichten. Neben dieser politischen Abhängigkeit wurde wirtschaftliche Abhängigkeit hergestellt nahm die Pforte (der Sultan und seine Regierung) eine Auslands-Anleihe auf. Bis 1875 war die Außenschuld auf 200 Mill. Pfund angewachsen, der Schuldendienst, Zinsen und Amortisation, machten mit 12 Mill. Pfund mehr als die Hälfte des osmanischen Volkseinkommens aus. Die Pforte war in der Weltwirtschaftskrise 1873 nicht mehr imstande, sie zu bedienen; sie wurde unter ökonomische Vormundschaft gestellt. Die OPDA (Ottoman Public Debt Administration) wurde zur Nebenregierung durch Briten und Franzosen. Regelmäßig lassen sich eine Anzahl von Geburtsstunden bei der „Geburt einer Nation“ an führen. Der jungtürkische Putsch von 1908 ist eine mögliche. Die wichtigere ist die Gründung der Republik zwischen 1921 und Am 20. Jänner 1921 wurde ein Grundgesetz beschlossen, welche die Souveränität in die türkische Nation verlegte. Im Lausanner Vertrag (Juli 1923) erlangte die Türkei die heutige territoriale Gestalt. Am 29. Oktober 1923 wurde die Türkei Republik, Mustafa Kemal Staatspräsident. Am 3. März 1924 wurde das Kaliphat (religiöse Spitze des Islam) abgeschafft. Hintergrund des Prozesses war der Abstieg des Osmanischen Reichs. Das Osmanische Reich war keine Nation. Aber es kannte ethnisch-religiöse Strukturen mit Selbstverwaltung (milet). Der miletbaşi / Ethnarch der Orthodoxen Christen war der Patriarch von Konstantinopel / Istambul.

24 Polen: gescheiterter Staatsaufbau – später Nationenbau
Ein mittelalterliches „Reich“ von Mieszko (10. Jh.) bis zu Ladislaus Wasa (17. Jh.) Die „Goldene Freiheit“ des 17. Und 18. Jahrhundert ist Adelsanarchie und führt zu den Teilungen 1772, 1793 und 1795 zwischen Russland, Preußen und Habsburg. Im 19. Jahrhundert entsteht eine polnische Nation im Protest gegen Russland und Preußen in einer kleinen Gruppe von Intellektuellen: „Until the very end of the [19th] century, the ‘Polish question’ concerned only a minority of those we might categorize as Polish, with few peasants demonstrating any interest in independence “ (Porter, zit. in: Auer 2004). Die erste polnische Republik (von polnischen Historikern als „zweite Republik“ bezeichnet) von 1918 bis 1938 scheiterte in der pseudofaschistischen Militärdiktatur des Jozef Piłsudski, lang bevor die Nazis das Land überfielen und in Besitz nahmen. Die zweite polnische Republik (1952: Volksrepublik Polen) begann ihre Existenz 1945 in Abhängigkeit von den Sowjets, die jedoch im Land keine große Unterstützung hatten – eine Existenz in Abhängigkeit. Die dritte polnische Republik begab sich selbst in Abhängigkeit, und zwar in eine potentiell konfliktreiche, nämlich einerseits der USA (in der NATO) und andererseits der EU. Der Staatsaufbau in Mitteleuropa war ein Prozess der politischen Entmachtung und zivilisatori-schen Zähmung des Adels. Am Verlust des Fehderechts für die Freien und den Adel glaubte daher Otto Brunner den staatlichen Herrschaftsaufbau des Endmittelalters darstellen zu können: „Die Fehde abschaffen heißt nicht, eine staatliche Maßnahme ergreifen wie tausend andere auch, sondern heißt, die Struktur von Staat und Recht grundlegend ändern“ (1980 [1939], 33 f.). In Westeuropa brachte der Aufbau des absolutistischen Staats einen politisch-administrativen Apparat und damit das Hauptmerkmal des modernen Staats hervor. So wurde der westeuropäische Absolutismus zum Vorbild des Staats, in der höfischen Form aus Frankreich, wie in der britischen Form, welche von Heinrich VIII. mit der Einführung des Staatskirchentums über Elisabeth I. bis zur Diktatur Cromwells im Protektorat. (Die moderne Form dieses Prozesses läuft häufig im Kemaliusmus ab.) Polen hat diese Schritte nicht mitgemacht. Der Aufstand des Zebrzydowski (rokosz Zebrzy-dowskiego, 1606 – 1609) steht dafür. „Der König hatte schon auf dem Reichstag von 1607 versichert, er denke an keine absolute Herrschaft. Für die weitere innere Entwicklung hatte der Zebrzydowski-Aufruhr bedeutende Folgen. Jegliche Form des Absolutismus erschien nunmehr in Polen / Litauen unmöglich, und der in anarchischer Weise, oft ohne große bewaffnete Stärke geführte Aufruhr wurde zu einem nahezu legitimierten Mittel der inneren Politik“ (Rhode 1980, 268). Die „Goldene Freiheit Polens“ ist nichts Anderes als Adelsanarchie. Polen – bemerkt ironisch der polnische Soziologe Jerzy Jedlicky (in: Auer 2004, 22) – “has always been returning to Europe, although it has actually never been there.” Diese “Rückkehr nach Europa” war in der Politik aller osteuropäischer Länder seit 1989 eine stehende Redewendung.Dies drückt den Mythos eines politischen Programms aus.

25 Zentrum und Peripherie: Das neue Weltsystem
Westeuropa Mittel-, Nordeuropa; europäisierte Außenposten Osteuropa Lateinamerika Arabische Welt China Indien Afrika „Zeitzonen“ ist ein metaphorischer Ausdruck Ernest Gellners, welcher die langsame Verbreitung des politischen Modells Nation und ihren Ausbau sinnfällig machen soll Seit dem 15./16. Jahrhundert entstand ein Weltsystem. Es strebte zuerst offen nach Ressourcentransfer aus dem Rest der Welt (d. h. Ausbeutung) nach dem Zentrum Westeuropa, war also wirtschaftlich betont. Handelskolonien und Imperien waren die bevorzugten Mittel. Paradigmen sind zuerst Portugal und Spanien, und dann England mit dem „Britischen Empire“. Das aber konnte nur politisch-militärisch geschehen. Das heutige politische Weltsystem entstand schließlich durch Imitation der Staaten Westeuropas. Ihre politischen Strukturen wurden zuerst in Osteuropa nach geahmt, früh in Russland, viel später in Lateinamerika und auf dem Balkan. Durch Kolonialismus und teils durch einen „abgeleiteten Diskurs“ winziger indigener Eliten wurden die administrativen Strukturen in andere Erdteile ex- bzw. importiert. Die Modelle waren europäisch und später US-betont. Diese Euro-US-Hegemonie ist nicht zuletzt kulturell und ideologisch markiert. Bildungssysteme und –inhalte tragen sie weiter. Durch ihren wirtschaftlichen und politischen Erfolg im Zentrum sind sie attraktiv. Militärisch gesicherte politische Dominanz erhält den seit 200 Jahren massiv ausgebauten Vorsprung Europas und der USA weitgehend aufrecht. Die Politikgestaltung der abhängigen Länder erfolgt so im Interesse des Zentrums (Freihandel und Neoliberalismus). Auf der anderen Seite verhindert wirtschaftliche Schwäche selbstbestimmte und -bewusste Politik. Die souveräne Nation war dabei ein eminent erfolgreicher europäischer Exportartikel. Einerseits diente sie der Modernisierung nach europäischem und US-Muster. Auf der anderen Seite blieb die Abhängigkeit und ihre Struktur erhalten. Heute ist die Welt erschöpfend in ein Netz von Nationalstaaten aufgeteilt, die jedoch wirtschaftlich, politisch und kulturell in einem hierarchischen System geordnet sind.

26 Großbritannien: Die erste bürgerliche Nation
Das feudale England verleibt sich schon im 12./13. Jh. Wales ein, erobert dann Irland und verein-nahmt schließlich, endgültig 1706, Schottland. So entsteht im 18. Jahrhundert, eine anglobritische Nation aus einer Koalition von aristokratischem Landbesitz sowie der Handels- und Industriebourgeoisie. Die Existenz am Rand Europas, abseits der großen Gegensätze, ermöglichte Großbritannien das Überleben in einer Reihe von Existenzkrisen. Zuerst gestattete diese Position im Schatten des kontinentalen Spätfeudalismus einen beschleunigten Strukturwandel. Die erste frühbürgerliche Revolution (Oliver Cromwell, 1599 – 1658) scheiterte zwar schließlich (Restauration 1660). Doch ihr kurzfristiger Erfolg veränderte Gesellschaft und Politik auf Dauer. Die Oberschichten-Nation des 19. Jahrhunderts genoss die Früchte ihre globalen ökonomischen und politischen Hegemonie. Nicht zuletzt ihr Widerstand gegen stärkere polit-soziale Inklusivität leitete den rapiden Abstieg ein. Der relative Verlust an Wohlstand (gemessen am BIP p.c.), die Fragmentierung des nationalen Zusammenhangs in einem zentrifugalen Regionalismus sowie die politische Randständigkeit bei Aufrechterhaltung hoher politisch-militärischen Aufwands (Militärausgaben) kennzeichnet die Gegenwart. Fehlende Fähigkeit zu eigenständigem Handeln wird kompensiert durch imperiale Rhetorik und ostentative Gegenläufigkeit zur kontinentalen Politik. Im 19. Jh. wird England Zentrum des Weltsystems. Das 20. Jahrhundert bringt den schnellen Abstieg der parassitären Macht. In der Gegenwart existiert die britische Nation aus der historischen Erinnerung sowie als europäischer Lakai der USA.

27 Der deutsche Sprachraum: Ein Gegenprojekt zur Moderne verkleidet sich als Nation
Modernisierung im revolutionären Frankreich Reaktion in Preußen und im Habsburgerreich: Koalitionskriege („Freiheitskriege“) 1792 bis Die siegreiche Heilige Allianz gestaltet Europa bis 1848 Zwei konkurrierende Projekte in Mitteleuropa: „Deutsche Republik“ Preußen-Deutschland 1848 / 1849 Die „Deutsche Republik“ steht auf und geht unter 1866 – 1871 Preußen-Deutschland wird kontinentaler Hegemon 1914 – 1918 Preußen-Deutschland will die Weltherrschaft und bricht zusammen. Doch die alten Eliten bleiben weiter dominant: „Das Reich zerfiel, die Reichen blieben.“ 1933 – 1945 Nazi-Deutschland stilisiert sich zur Fundamentalalternative zur sozialen Moderne 1945 – 1991 Wieder konkurrieren zwei Paradigmen: Die BRD geht siegreich aus der System-Konkurrenz hervor und wird so zur Deutschen Nation. Die Alternative DDR scheitert und verschwindet weitgehend diskreditiert. Gegenwart: Die Berliner Republik wird (wieder) zum Nationalstaat mit einem „Mittelmachtkomplex“. Seit Mitte des 18. Jh. entsteht in Literatenkreisen ein deutsches Bewusstsein. Es steht in Opposition zum höfischen Frankreich, aber auch zum aufgeklärten, rationalen Paris. Als 1789/91 die Revolution erfolgreich ist, beschließen Preußen und Habsburg, die „Ordnung“ in Frankreich wieder her zu stellen (Erklärung von Pilnitz). In den folgenden Kriegen stellte sich ein Großteil der deutschen Intellektuellen auf die Seite der Reaktion: Das deutsche Nationalbewusstsein entstand so aus Opposition gegen Modernität und sozialen Wandel. In der Zeit der Heiligen Allianz schien nochmals ein demokratisches deutsches Nationalprojekt Unterstützung und Chancen zu haben. Mit dem Scheitern der Revolutionen auch im deutschen Sprachraum ging dieses Projekt faktisch unter. Die Erweiterung Preußens zum „(Nord-) Deutschen Bund“ und dann zum „Deutschen Kaiserreich“ (1866 – 1871) brachte eine autoritäre und reaktionäre „deutsche“ Nation unter preußischer Dominanz. Sie scheiterte zuerst im Ersten Weltkrieg und dann im Nazismus an ungezügeltem äußerst brutalen Weltherrschaftsstreben. Die nationale Punze dieses irrationalen Projekts machte in Deutschland schon den Begriff der Nation verdächtig. Die BRD wurde 1949 – 1991 zur „Postnation“ unter US-Hegemonie („Westbindung“). Die DDR wollte zuerst a-national und später die bessere deutsche Nation sein, scheiterte aber an ihrer Kombination von mangelnder Wirtschafts-Leistung und verweigerter Demokratie. Sie schloss sich schließlich dem erfolgreicheren Deutschland an. Die Berliner Republik ist gekennzeichnet von „Normalisierung“: Der größte Staat Westeuropas entwickelt nicht nur nationales Selbstbewusstsein, sondern auch mit interventionistischen Ambitionen das (noch?) typische Gehabe der regionalen Großmacht. Gleichzeitig pflegen die politische Klasse und die Intellektuellen dieser wieder zur Nation gewordenen Einheit eine penetrant ausgeprägte nachnationale Rhetorik, die tatsächlich mit Hegemoniestreben in der EU verknüpft ist.

28 Frankreich: Nation als Folge von politischen Projekten
1789 – 1795 „Franzose“ ist jeder (Maskulinum!), der die Revolution als politischen Entwurf mitträgt, er mag kommen, woher er will, zumindest, solange er weiß ist. Doch: Der loyale Franzose spricht Pariser Französisch, nicht etwa Bretonisch u. dgl. 1799 – 1812 Die Grande Nation lebt mit Napoleon aus ihrem (militärischen) Erfolg Ende des 19. Jahrhunderts sind zwei Nations-Konzepte im Widerstreit: Ernest Renan 1882: „La nation est une plebiscite de tous les jours“ Maurice Barrès: „Le culte de moi“+“l‘âme de la terre“+ Autoritarismus Es ist eindeutig Barrès, der die Oberhand behält und den Ton angibt 1914, 1938, 1944 „Vive la France!“ Doch dazwischen liegt 1941 – 1944: Marschall Petain und sein Vichy 1945 – 1958 Ein gewöhnliches Frankreich verliert den Großmachtstatus 1958 – 1979 De Gaulles Frankreich entsteht aus einem Staatsstreich und formiert sich zum legalen autoritären Nationsprojekt, das mit Gesten der Eigenständigkeit erneut die Grande Nation fingiert. 1980 ff.: Frankreich „normalisiert“ sich Gegenwart: Die Franzosen zwischen Nation und Postnation Henri IV. (*1553, 1588 – 1610) fand mit dem Edikt von Nantes einen Kompromiss, welche den Religionsstreit im Inneren ruhen lässt. Nun konnte man den Staatsaufbau in aller Energie angehen. Der Absolutismus zentralisierte und professionalisierte (vergleichsweise!) die Verwaltung (die Kardinäle Mazarin und Richelieu unter den Königen Ludwig XIII. und XIV.). Den Abschluss dieses Prozesses bildete 1682 die Aufhebung des Edikts von Nantes. Dies leitete, zusammen mit den Eroberungskriegen Ludwig XIV., eine lange Periode der Stagnation und schließlich der Krise ein. Die Große Revolution sowie das Empire zentralisiert weiter und appeliert nun an Zugehörigkeit, Partizipation und Motivation, an französischen Nationalismus sohin. Die Restauration, das juste milieu, das Zweite Kaiserreich treiben den Zentralisierungsprozess weiter, abzulesen am Sprachgebrauch. Die Dritte Republik (1870 ff.) ist d8ie eingeschränkte bürgerliche Nation in Aktion. Der Widerstand gegen die deutsche Hegemonie wird zum französischen Chauvinismus. Das Militär ist eine ständige Bedrohung (Affären Boulanger und Dreyfuss). Der Chauvinismus kennzeichnet auch den mühsam errungenen Sieg im Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit. Der Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg führt einerseits zum Provinzfaschismus des Vichy-Regimes, andererseits zur Resistance und ihren Mythos. Aus ihm wird die Nation im Wiederaufbau neu begründet. Der Militärputsch von 1958 resultiert schließlich in einem Autoritarismus mit legalem Gesicht. Unabhängigkeitsgesten gegen die US-Hegemonie und Großmachtstreben kennzeichnen den gaullistischen Nationalismus. Mitterand und Chirac moderieren und modernisieren diese Politik, behalten aber den imperialen Stil bei. Die heutige französische Nation unterscheidet sich strukturell nicht vom Rest Westeuropas, lebt aber noch teils in einer nationalistischen Rhetorik.

29 Die USA: Nation als Gegenentwurf zu Europa – der Vertragsstaat
“When in the Course of human events, it becomes necessary for one people to dissolve the political bands which have connected them with another, and to assume among the powers of the earth, the separate and equal station to which the Laws of Nature and of Nature's God entitle them, a decent respect to the opinions of mankind requires that they should declare the causes which impel them to the separation. .... These United Colonies are, and of Right ought to be Free and Independent States; they are absolved from all Allegiance to the British Crown, and all political connection between them and the State of Great Britain, is and ought to be totally dissolved; ...“ Der Gesellschaftsvertrag erhält in der Geschichte der USA eine eigene Wirklichkeit. In der Entstehung keiner anderen Nation waren explizite Vertragselemente so wichtig, vom Mayflower Compct über die Unabhängigkeitserklärung bis zur Verfassung als Vertrag zwischen den Einzelstaaten.Der europäische Beitrag zum Aufbau dieser Nation bestand einerseits in der Idee der Menschenrechte (Thomas Paine), andererseits aus Machtüberlegungen und Rachesentimenten in der militärischen Unterstützung zur Schwächung Großbritanniens (Lafayette, etc.). Diese „Nation von Einwanderern“ entstand einerseits durch ethnische Säuberungen und Völkermord; andererseits durch einen impliziten Einwanderungsvertrag: Den Neuankommenden galt das Versprechen, sie – oder zumindest ihre Nachkommen – zu integrieren. Dafür erwarteten die dominanten Gruppen der schon Anwesenden eine individuelle Integration, „a new race“ (Israel Zangwill im „Melting Pot“), nicht etwa die Bildung neuer subnationaler ethnischer Gruppen. Wo letzteres in Ansätzen sich andeutete, kam die Reaktion in Nativismus, der US-Version von Xenophobie und Chauvinismus. Bis heute betont die offizielle Ideologie die Vertragselemente. In der politischen Wirklichkeit setzen jedoch alle hegemonialen Kräfte auf Kommunitarismus, die Integration durch unbefragte Loyalität zur herrschenden Ordnung. Kampagnen wie „English Only“, Sprachnationalismus nach „alteuropäischem Vorbild“, sollen dies gewährleisten.Den US-Totalitarismus drückte am besten Präs. G. W. Bush 2001 aus: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“

30 Nationale und ethnische Minderheiten – Was heißt „nationale Homogenität“?
Macht Ohnmacht Mehrzahl MEHRHEIT UNTERWORFENE Minderzahl ELITE MINDERHEIT Auch Mehrheitsentscheidung bedeutet Herrschaft und muss folglich legitimiert sein. Die Existenz von Minderheiten stellt demokratische Legitimität in Frage. „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. ... Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhaltes bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 1976, 28). In modernen Gesellschaften sind die einzelnen sozialen Teilsysteme autonom und ausdifferenziert, folgen einer jeweils eigenen „Handlungslogik“. Die sozialen Mikrosysteme des Alltags (Familie und Haushalt) und der Berufswelt (Arbeitsstätte, Verein; usf,); der Wirtschaft (Markt: Einkommens- und Gewinnmaximierung) und der Politik (Machtgewinn und -erhalt) sind in der Machtverteilung aber ungleichmäßig und unsymmetrisch. Das politische System funktioniert in Demokratien in der Entscheidungsfindung nach der Mehrheitsregel. Wo danach Entscheidungen getroffen werden, gibt es Minderheiten. Zum Problem wird dies weniger bei politischen Minderheiten: Sie können rechnen, irgendwann auch die Mehrheit zu stellen. Wenn aber das Merkmal vorgegeben ist („zugeschrieben“), dann ist dies innerhalb übersehbarer Zeiten nicht mehr möglich: Es entstehen „ewige Minderheiten“. Eine Minderheit ist nicht sosehr durch ein Zahlen- als vielmehr durch ein Herrschaftverhältnis definiert. Nicht jede kleine Gruppe ist auch eine „Minderheit“ und nicht jede Minderheit ist eine ethnische Minderheit: Es gibt religiöse, weltanschauliche, kulturelle, verhaltensmäßige (z. B. sexuelle) und politische Minderheiten. Luhmann 1975, 8; 11, 12, 14: Macht ist “die Übertragung von Selektions-leistungen ... Macht ordnet soziale Situationen mit doppelter Selektivität...; ist Beschränkung des Selektionsspielraumes des Partners; ... Die Funktion der Macht liegt in der Regulierung von Kontingenz...Macht ‘ist’ eine codegesteuerte Kommunikation.” “‘Power’ in this heighly generalized sense means ‘transformative capacity’, the capability to intervene in a given set of events so as in some way to alter them Domination is expressed as nodes of control ... Relatively stable forms of control are types of rule” (Giddens 1987, 6 ff.) .

31 Nordeuropa zwischen erster und dritter „Zeitzone“: Schweden – Dänemark; Norwegen – Finnland
Schweden-Dänemark: ein frühneuzeitliches Großreich, die Kalmarer Union (1397 – 1523), wandelt sich – zwei Nationen enstehen 1523 wird Schweden unabhängig und entwickelt sich im 17. Jahrhundert zur Großmacht Im Dauerkrieg gegen Russland steigt es wider zum nun friedlichen Kleinsaat ab. 1809 – 1815 Finnland, nämlich die “schwedischen Ostgebiete” wird zaristisches Großherzogtum und entwickelt im 19. Jahrhundert eine eigene, schließlich finnische Identität Dänemark verliert 1814 Norwegen an die schwedische Krone und wird zum Kleinstaat Norwegen wird zuerst zur schwedischen Peripherie und entwickelt dabei eine eigene nationale Identität wird das Land mit britischem Wohlwollen unabhängig. Schweden konzentriert sich im 19. Jahrhundert langsam auf sich selbst, entdeckt dabei die Vorteile des vergleichsweise Kleinen (im regionalen Zusammenhangjedoch Hegemons) und steigt dabei zum sozialen und wirtschaftlichen Musterland Europas auf. Dänemark, Finnland und Schweden ordnen sich der EG / EU unter. Norwegens Bevölkerung wählt gegen den Willen der eigenen politischen Klasse die Selbständigkeit und bezahlt dafür allerdings einen erheblichen Preis in Form von der EU erzwungenen Transfers. Skandinavien macht die Erfahrung des Übergangs vom vornationalen Zeitalter zum westfälischen System souveräner, aber hierarchisch geordneter Nations-Staaten als Region ziemlich eigenständig.

32 Die „Dritte Zeitzone“ – Lateinamerika; der Balkan
Der Balkan war die erste Großregion in Europa, in der „kleine Nationen“ nach nationaler Selbstbestimmung suchten und Staaten gründeten. Etwas vorher ging ein ähnlicher Prozess in Lateinamerika vor sich. „Balkanisierung“ wurde zum Schimpfwort, vergleichbar dem heutigen englischen „tribalism“. Die Großmächte und ihre Ideologen können und konnten in der nationalen Selbstbestimmung kleiner Nationen nur Rückschritt erkennen. Todorovna: „Die Erfindung des Balkan“ war ein Akt der Abwertung nichtwestlicher Nationen. Lateinamerika löste sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts, unterstützt von britischen Handelsinteressen, von Spanien und Portugal. Die Idee einer einzigen „kolumbianischen“ Nation scheiterte schnell. Simón Bolívar, 24. Juli 1783 Caracas – 17. Dez Santa Marta (Kolumbien): El Libertador wollte die Einheit des ehemaligen Spanisch-Südamerika erhalten. Noch vor seinem Tod zerfiel Großkolumbien, das ohnehin nur aus Peru und Venezuela bestand. Die Erfahrungen der osmanischen Herrschaft mit ihrer archaischen politischen Struktur bildete den Hintergrund für die Entwicklung. Die Orientierung auf die Orthodoxie und ihre Abwehrhaltung gegenüber dem lateinischen Westen gab eine weitere gemeinsame Komponente vor. Da diese Orthodoxie aus dem byzantinischen Erbe heraus gewachsen war, spielte die griechische Sprache als Kirchen- und Bildungssprache eine Rolle, die nicht unähnlich jener des Lateins im Westen war. Diese Sprache war aber gleichzeitig die Sprache einer Bevölkerungsgruppe. Sie war auch die Sprache der Teilnehmer an einem ausgedehnten Kaufmanns- und Handelsnetz, der griechischen Diaspora. Auch im „Westen“, d. h. in Triest, Wien, Marseille, Korsika, und anderswo hatte sie ihre Stützpunkte. Von den dort ansässigen griechischen Gemeinschaften kamen die Ideen der fortgeschrittenen Intellektuellen zu den hellenischen Zentren. „Griechische“ Intellektuelle hatten oft einen anderen sprachlichen Hintergrund. Jedenfalls stredbteb sie soziale, kulturelle und politische Entwicklung nach westeduropäischen Vorbild an. Sie führten einen vom französischen Geistesleben abgeleiteten Diskurs. Es war eine Handvoll Intellektueller mit verschiedenem ethnischem Hintergrund. Iossipos Moisiodax (ca – 1800) war walachischer Herkunft, auch Rigas Velestinlis-Feraios (+ 1798), ein „griechischer Nationalheld“. Andere kamen aus der wohlhabenden kleinasiatisch-griechischen Kaufmannschaft, wie Adamantios Korais (1748 – 1833). Diese „Partei der Humanität“ war eine vereinheitlichte südosteuropäische Bewegung, welche sich jedoch hauptsächlich literarisch in griechischer Sprache ausdrückte. Sehr bald allerdings setzte die Aufspaltung in einzelne Sprachgruppen und die nationale Zuordnung ein. Die kleinen Nationen des Balkans begannen zu entstehen.

33 Die erste „kleine Nation“ des Balkans: Griechenland – Westeuropa erfindet eine Nation
1814 In Athen und Odessa werden Geheimbünde (Filiki Etiria) gegründet und organisieren Aufstände gegen die Osmanen. Sie hoffen auf russische und britische Unterstützung. 1822 Der Nationalkongress in Epidauros proklamiert die griechische Unabhängigkeit. Philhellenen im Ausland feiern diese Proklamation. Insbesondere Lord Byron wird dabei zur Symbolgestalt. 1826 wird die vernichtende griechische Niederlage bei Misolunghi zum entscheidenden politischen Sieg für die Aufständischen. Die westeuropäischen Mächte Frankreich und Großbritannien greifen gegen die Massaker ein. 1827 Sie schlagen die ägyptisch-türkische Flotte bei Navarino vernichtend. 1830 Der unabhängige griechische Staat wird auf der Londoner Konferenz anerkannt. 1832 Otto I., Sohn König Ludwig I. von Bayern, wird zum König von Griechenland gemacht 14. Jänner 1844: Rede des Ioannis Kolettis in der Nationalversammlung: „Megali idhea“: Die Grundidee eines expansiven griechischen Nationalismus will Istambul wieder als Hauptstadt. Der griechische „Universalismus“ ist ein besonders weit gedehnter Herrschaftsanspruch. Die griechische Verfassung wird verabschiedet. Bis zum Ersten Weltkrieg dehnt Hellas sein Gebiet ständig aus. „Greece emerged from the Ottoman empire not as a Western nation with a long history but as a commercial class and a provincial peasantry in a Middle Eastern scheme of society“ (A. Toynbee, zit. in Spiliotis 1998, 67). - Ständige Aggressionen gegen die Pforte 1912 Im 1. Balkankrieg gewinnt das Bündnis Serbien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro gegen die Pforte. Diese soll im Londoner Frieden 1913 alle ägäischen Inseln abgeben. 1924 Nach einer vernichtenden Niederlage griechischer Truppen in Kleinasien wird der Vertrag von Lausanne geschlossen und ein „Bevölkerungsaustausch“, d. h. gegenseitige Vertreibung von Griechen und Türken vereinbart. 1936 General Metaxas bildet durch einem Staatsstreich eine faschistische Regierung („Regme des 1. August“). 1941 Das Deutsche Reich erobert Griechenland. Georg II. flieht nach London und gründet eine Exilregierung. 1967 Die Armee putscht. General Papadopoulos wird Ministerpräsident. Die Obristenjunta bricht 1974 zusammen 1981 Griechenland wird Mitglied der Europäischen Gemeinschaft Griechenlands Existenz als Nationalstaat und Nation begann “So far as the Greeks were concerned the question was whether Greece should become an annex of Russia or even conceivable of Austria; a colony of Britain or France; a private empire of Ali Pasha of Iannina; or whether it even should remain, by virtue of the mutual cancellation of contending forces, a province of a salvaged Ottoman empire. The last thing anybody contemplated was an independent nation-state. It was disputed in the early 19th century whether there even was such a people as the Greek” (Woodhouse 1998, 124). Was war also früher, der griechische Nationalismus oder die griechische Nation? Diese Formulierung wurde – in allgemeines Form – durch Ernst Gellner prominent und hatte Anfang der 1980er Jahre einen provokativen und stimulierenden Wert. Es gab zumindest zwei konkurrierende nationale Zentren für die griechische Nation. Das eine bildete der griechische Staat und, symbolisch gesehen, die Stadt Athen, der Sitz der griechischen Regierung. Das andere geistige Zentrum war Konstantinopel / Istambul, der Sitz des orthodoxen Patriarchen. Diese beiden Städte symbolisierten zwei konkurrierende Nationalprojekte: Das eine war liberal, säkularisiert, progressiv; das andere war konservativ, klerikal, nach rückwärts gerichtet. Der griechische Staat war nach Innen und nach außen schwach. Der Staatsaufbau kam nur mühsam voran. Die griechische Gesellschaft war unterentwickelt, Dritte Welt in Europa.

34 Serbien, Bulgarien: „Historische“ Ethnonationen gegen die „Türken“
1804 Befreiungskrieg der Serben des Georg Petrovič, genannt Karadjordje, gegen die Türken 1817 Serbien unter Miloš Obrenovič autonom, d. h. quasi-selbständig 1878 Serbien wird vom Berliner Kongress als unabhängig anerkannt – 1918 Als Sieger im Ersten Weltkrieg kann Serbien die Kroaten und die Slowenen vom Sinn eines gemeinsamen Staats überzeugen: Jugoslawien entsteht. 1876 Der Aprilaufstand der Bulgaren wird von den Osmanen blutig nieder geschlagen 1878 Berliner Kongress: Ein Teil Bulgariens ist unabhängig, der andere untersteht völkerrechtlich weiterhin dem Sultan, wird aber 1885 von Zar Alexander II. an Bulgarien angeschlossen – 1913 Bulgarien besiegt in einer Koalition mit Griechenland, Serbien und Montenegro die Osmanen (Erster Balkankrieg). Bei der Aufteilung der Beute kommt es zum Streit. Im Zweiten Balkankrieg wird Bulgarien von seinen bisherigen Verbündeten geschlagen. 1914 – 1918 Bulgarien schließt sich den Mittelmächten (Deutsches Reich, Habsburgerstaat) und gehört zu den Verlieren. Im Vertrag von Neuilly verliert es Gebiete und muss hohe Reparationen auf sich nehmen. Sowohl Serben wie auch Bulgaren bezogen ihre nationale Identität in der jüngsten Geschichte aus der Erinnerung an eine „große serbische“ bzw. „bulgarische“ Vergangenheit. Im Hochmittelalter hatte die Fürstendynastie der Nemanjiden ein mächtiges ethnisch-serbisches Gemeinwesen gegründet. Es ging mit der Niederlage gegen die Osmanen auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, im Jahr 1389 zugrunde. Auch ein Großbulgarisches Reich war schon vorher (gegen die Serben) zugrunde gegangen. Es hatte sein Zentrum lange in Ohrid an der heutigen makedonisch-albanischen Grenze, gehabt. Die Bulgaren des Frühmittelalters hatten übrigens eine Turk-Sprache gesprochen, bis sie im Zuge der Christianisierung von ihren eigenen Khanen (Fürsten) slawisiert worden waren. Der Prozess der Ethnogenese in vormodernen, vornationalen Gesellschaften ist ein von wechselnden politischen Kräfteverhältnissen angetriebener Prozess der ständigen Verschmelzungen, Abspaltungen, neuerlichen Fusionen, Umgruppierungen und Neuformierungen von sozialen Bezugseinheiten und Zugehörigkeitsgruppen. Engere Kontakte werden nach strategischen Interessen eingegangen, aber bei Bedarf auch wieder gelöst. Eine längere Tradition von ethnisch klar gekennzeichneten Kerneinheiten ist zumindest in außereuropäischen Verhältnisse eher die Ausnahme als die Regel. Nur verhältnismäßig gut organisierte und durch herrschaftliche Bande zusammen gehaltene Zentralgruppen konnten eine Kontinuität über längere Zeit hin aufbauen, welche auch durch einen Namen gekennzeichnet ist und weitergegeben wird. Im übrigen ist es erst im nachhinein sagbar, ob wir uns bei einer bestimmten Gruppe vor einer solchen Kerngruppe befinden.

35 Rumänien und die Erfindung einer langen Tradition in Abhängigkeit
1861 Einigung der „Donaufürstentümer“ Moldau (Hauptstadt Iaşi) und Walachei (Hauptstadt Bukureşti) unter Alexandru Ioan Cuza 1878 Auf dem Berliner Kongress unter Auflagen – Bürgerrechte auch für Juden – unabhängig. 1881 Karl von Hohenzollern erklärt sich zum König 1914 – 1918 Im Ersten Weltkrieg erleiden rumänische Truppen zwar eine schwere Niederlage. Doch sie stehen auf Seite der Sieger. 1918/19 können sie also ihr Ziel Großrumänien (mit dem Anschluss von Siebenbürgen, der Bukowina und der Moldau) durchsetzen. „Jene Deutung, wonach alle soziale Unruhe im Europa der Zwischenkriegszeit vom Versailler Vertrag ausgegangen sei, geht für Rumänien fehl“ (Heinen 1986, 40) Vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt das Land mit der „Legion Erzengel Michael“ bzw. der „Eisernen Garde“ seinen eigenen Faschismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt das Land unter sowjetischen Einfluss. In einem zähen Bemühen kann es sich wesentlich mehr Handlungsfreiheit erringen als die anderen Sowjetsatteliten. 1989 Als einziges Land der sowjetischen Einflusszone erlebt Rumänien eine Art Revolution. Der Staats- und Parteichef wird in einem Kurzprozess zum Tode verurteilt und, mit seiner Frau zusammen, erschossen. Nationalhistorische Konstruktionen – wie historische Konstruktionen überhaupt – können auch dann realpolitische Wirkungen entfalten, wenn sie weitgehend fiktiv sind. Rumänische Intellektuelle behaupteten Mitte des 19. Jahrhunderts ihre römische Herkunft („dakorumänische Theorie“). So sollte denn auch Rumänisch eine romanische Sprache sein. Zu dieser Zeit wurde diese Sprache kyrillisch geschrieben, stimmte im Lautbestand mit der hauptsächlich slawischen Umgebung überein (Balkan-Sprachbund), und war vom Vokabular her zumindest zur Hälfte nicht romanisch. Nun begann man sie lateinisch zu schreiben und den Wortbestand zu „reinigen“. Der slawische Teil wurde bis heute auf weniger als die Hälfte reduziert. Rumänisch wurde nun tatsächlich zur romanischen Sprache, auch wenn vieles ungewohnt für den klingt, der westromanische Sprachen gewohnt ist. Ähnlich Griechenland wurde auch Rumänien eine Nation, die ihre wichtigsten ideologischen Bestandteile aus dem Westen importierte. Die rumänische Nation wurde in den 1840er Jahren von Studenten aus der Moldau und der Walachei in Paris erfunden und zurück in die „Donaufürstentümer“ importiert. Die Revolution von 1848 nach französischem Vorbild scheiterte. Doch bald begannen die Protagonisten (Vasile Alecsandri, M. Kogalniceanu) eine nationale Einheit zu behaupten. Sie hatten politischen und persönlichen Erfolg. In der jüngsten Vergangenheit war das Ceausescu-Regime wiederum abhängig von ideologischem Import, diesmal des Marxismus, der in seiner rumänischen Form mit faschistischen Elementen versetzt war. Heute sucht das Land seine Stellung zwischen zwei Abhängigkeiten, von der USA in der NATO und von Westeuropa in der EU.

36 Der Berliner Kongress: Das europäische Konzert der Großmächte
Das internationale System Europas war auch im 19. Jahrhundert zwischenstaatlich stark reguliert: Der Berliner Kongress war eine Konferenz zwischen Vertretern des Deutschen Reiches, Russlands, Österreich-Ungarns, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und des Osmanischen Reiches vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 in Berlin. Der habsburgische Außenminister Gyula Andrássy ergriff nach den Wirren am Balkan die Initiative und lud die europäischen Großmächte zu einer Konferenz. Den Vorsitz führte der deutsche Reichskanzlers Otto von Bismarck. Der Kongress ersetzte die in San Stefano festgesetzten Beschlüsse durch die Berliner Kongressakte. Bismarck gelang es als „ehrlichem Makler”, von Russland Zugeständnisse zu erhalten (Berliner Frieden vom 13. Juli 1878). Serbien, Rumänien und Montenegro erlangten ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Das Gebiet, das ihnen im Vertrag von San Stefano zugesichert worden war, wurde jedoch erheblich verkleinert. Bulgarien wurde in ein autonomes Fürstentum im Norden und eine osmanische Provinz geteilt. Neben den armenischen Gebieten Batum und Kars erhielt Russland das rumänische Bessarabien (Moldau). Als Ausgleich wurde Rumänien das türkische Territorium des südlichen Dobrudscha zugesprochen. Die beiden osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina wurden Österreich-Ungarn, Zypern der britischer Verwaltung unterstellt. Nationen bilden seit je ein internationales Netz gleichartiger Strukturen, obwohl alle ihre Einmaligkeit behaupten. Das „Europäische Konzert“ vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg – das zwischendurch einmal fast zusammen brach, nämlich im Krimkrieg – war eine informelle, intensive Zusammenarbeit von sechs Großmächten, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Preußen / Deutschland, dem Habsburger-Staat und dem Zarenreich; nach 1870 wurde Italien berücksichtigt. Das Osmanische Reich war „halbes“ Mitglied. Die meisten der gemeinsamen Aktionen dieses Konzerts bezogen sich am Ende des Jahrhunderts auf die „Orientalische Frage“. Die Hohe Pforte war dabei mehr Objekt als Subjekt der Politik, als Großmacht nicht ernst genommen. In dieser Organisation des „Europäischen Gleichgewichts“ standen auch zwei multinationale und multiethnische Gebilde (Österreich-Ungarn und das Zarenreich). Es waren bis zum Ersten Weltkrieg nur die Großmächte, welche offen unbeschränkte Souveränität geltend machten bzw. die Souveränität der Kleineren einschränkten. Sie verkörperten „den Willen Europas“ gegen die Kleinstaaten, wie der habsburgischen Außenminister Goluchowski zur griechischen Angriffspolitik gegen die Pforte 1896 / 97 meinte. Kleine Nationalstaaten waren Objekte und nicht Subjekte der Politik. „Dieses Recht der großen nationalen Gebilde Europas auf politische Unabhängigkeit, anerkannt von der europäischen Demokratie, … bedeutete … die Anerkennung des gleichen Rechts auf eigene nationale Existenz für andere große, zweifellos lebensfähige Nationen. … Doch diese Anerkennung und die Sympathie mit den nationalen Bestrebungen beschränkten sich auf die großen und genau definierten historischen Nationen Europas; das waren Italien, Polen, Deutschland und Ungarn; Frankreich, Spanien, England, Skandinavien. …“ (Engels 1866 über Polen; in MEW 16, 156 ff.; die Kursive stammen von mir – AFR). Mit dem Grundprinzip der „europäischen Demokratie“, mit Selbstbestimmung, hat dies nichts mehr zu tun.

37 Der Erste Weltkrieg: Imperialismus als Nationalismus
Der Erste Weltkrieg ist nicht aus „nationalen Konflikten“ entstanden, wie häufig behauptet wird. Er entstand aus der Konkurrenz zweier Gruppen von Mächte um Märkte und Herrschaft. „Co-existent empires following each its imperial career of territorial and industrial aggrandisement are natural necessary enemies“ (J. A. Hobson, Imperialism, 1902) „Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll ‚fortgeschrittener‘ Länder geworden, ... Die die ganze Welt in ihren Krieg um die Teilung ihrer Beute mit hineinreißen“ (Lenin, Imperialismus 1916/17 [Werke 22, 195]) „Die Ideologie des Imperialismus .... blickt auf das Gemenge der Völker und erblickt über ihnen allen die eigene Nation ... Die nationale Idee [ist] als Triebkraft in den Dienst der Politik gestellt“ (Rudolf Hilferding, Finanzkapital, 1910, 458 f.). Imperialismus als politisches Dominanzstreben und Expansion hat es immer wieder gegeben. Doch Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert wurde Imperialismus zur Strategie der Durchsetzung wirtschaftlicher, kapitalistischer Interessen. Dazu instrumentalisierte er den Nationalismus: Aus einer Demokratiebewegung wurde eine rassistische Herrschaftsstrategie.

38 Europa in der Zwischenkriegszeit: „Kleine Nationen“ werden selbständig
Die übernationalen Gebilde werden durch ihre Niederlage im Weltkrieg zerschlagen: Habsburgerstaat, Zarenreich, Osmanisches Reich. Es entsteht eine größere Anzahl von Kleinstaaten, welche „nationale Homogenität“W anstreben und dazu zugespitzt nationalistische Politik betreiben: Finnland, die Baltischen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, ... (in Westeuropa übrigens auch Irland. Im Lauf von ökonomischen Krisen übernehmen in den meisten dieser Staaten (Ausnahme: Tschechoslowakei, Finnland) durch Staatsstreiche und ähnliche Mittel faschistische Parteien und Diktatoren die Macht. Der Völkerbund (League of Nations) löste das „Europäische Konzert“ ab und sollte eine weltweite Friedensordnung garantieren. Er war zwar vom US-Präsident Wilson initiiert worden, doch aus kleinlichen innenpolitischen Motiven verhinderte der Kongress schließlich den Beitritt der USA. Als eine Reihe von Staaten faschistisch wurden und Angriffskriege zu führen begannen, traten sie aus dem Völkerbund aus (Italien, Japan, Deutsches Reich). Doch haben Demokratisierungsprozesse innerhalb dieser zwei Lager stattgefunden, welche zur Entwicklung neuer Ethnonationenvor allem an den Rändern Europas führten. Die Verlierer des Ersten Weltkriegs wurden bald revanchistisch (Deutsches Reich, Ungarn). Aber auch in den meisten anderen Staaten brachten die alten sozialen Elite den Demokratisierungsprozess zum Scheitern. Es entstanden Faschismen und Militärdiktaturen: 1920 Monarcho-faschistische Diktatur in Ungarn 1922 Marsch der italienischen Faschisten auf Rom und Machtübernahme 1926 Staatsstreich und Militärdiktatur Pilsudskis in Polen 1926 Diktatur des Antanas Smetonas in Litauen 1934 Präsidialdiktatur des Konstantin Päts in Estland 1934 Diktatur des Karlis Ulmanis in Lettland 1933 Königsdikatur in Jugoslawien 1936 Faschismus in Griechenland 1939 Sieg der Franco-Diktatur im Spanischen Bürgerkrieg, u.a. Die meisten dieser Regime nannten sich „national“. Damit wurde der Ausdruck irreparabel beschädigt, denn mit demokratischer Selbstbestimmung hatten diese Regime nichts zu tun.

39 Eine „vierte Zeitzone“: Die Dritte Welt
„16. bis 18. Jh.: Europäische Mächte suchen nach Schätzen im Rest der Welt und finanzieren ihren so Luxusbedarf die Entwicklung von Unterentwicklung beginnt und führt zur Aufteilung der Welt: Vertrag von Tordesillas 1494 (Spanien und Portugal lassen sich vom Papst die Welt teilen) Usw. 19. Jh., zweite Hälfte: Imperialismen teilen sich die Welt neu auf Widerstand Kleine Elitengruppen führen in der arabischen Welt, Indien, China und schließlich auch im subsaharischen Afrika einen von der europäischen Politik abgeleiteten Diskurs: Modernisierung, Nationenbau und Nationalismus, Entwicklung heißt das Thema. „Nationale Befreiungsfronten“ vom Indischen Nationalkongress über die algerische FLN (Front de Liberation Nationale) bis zur vietnamesischen FLN setzen auf europäische Modelle und indigenes Engagement . Der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Große Sprung in die Europäische Zukunft nimmt in Süd- und Westeuropa unterschiedliche Formen an: Die iberischen Mächte Spanien und Portugal suchen in der neuen Welt von vorneherein nur ihre Beutegründe. Sie überspielen damit eine Zeitlang die Krise des Feudalismus in ihren Ländern, fallen aber danach umso stärker zurück. Diese Tendenz gibt es im „Norden“ auch. Doch insbesondere aus Großbritannien wandern hochmotivierte Gruppen religiöser Minderheiten aus. Sie suchen den Baugrund für ihr Neues Jerusalem. Daraus entstehen schließlich neue Nationen mit europäischen Traditionskernen (USA, Kanada, Australien). Die erste Tendenz teilt jedoch mehrmals unter sich die Welt auf. Sie betrachtet die einheimische Bevölkerung als Arbeitsvieh. Der Widerstand ist zersplittert, schwach uud desorientiert. Auf der theoretischen Suche nach höherer Effizienz findet er das Vorbild der europäischen Zentren. Dies bedeutet jedoch einen schmerzhaften Bruch mit der eigenen Tradition. Das Model Nation scheint einen Ausweg zu bieten: Es ist eine Revolution, welche ihren mentalen Bezug in einer oft fiktiven eigenen Großen Vergangenheit findet. Man will europäische Technik (Produktions-, Handels-, Herrschaftstechnik) mit einheimischem „Geist“ verbinden. Doch: Technik ist nicht „kulturfrei“. Und weiters: Die einheimische „Kultur“ besteht nicht selten in überholten Herrschaftsstrukturen. Daher schlugen viele dieser Ansätze katastrophal fehl. Nationenbau in der Dritten Welt erwies sich als – allerdings unumgehbarer – Hochrisikoprozess.

40 Die Türkei: Kemalismus als Nationenbau von oben Nationalismus als „abgeleiteter Diskurs“
Mustafa Kemal „Atatürk“ (1881 – 1938), General, nationalistischer Führer, führte den Widerstand gegen den Vertrag von Sévres, erster Präsident der Republik Türkei (1923 – 1938). Den Namen Atatürk („Vater der Türken”) nahm er 1934 an. Kemalismus ist das Paradigma einer abhängigen Entwicklung (Dependenz). Sie sieht ihr höchstes Ziel in der schnellen Übernahme westlicher Techniken, ökonomischer und sozialer Strukturen und sogar Kleidung. Das Atatürk’sche Fez-Verbot war vom osmanischen Wechsel vom Turban zum Fez in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgebildet worden. Heute spiegelt sich dies im Verbot des islamischen Kopftuchs in türkischen Universitäten. Es ist ein Prozess abhängiger Modernisierung, welcher seine Legitimität auch durch eine Anreicherung mit indigenen Elementen gewinnen möchte, die allerdings oft nicht indigen sind. Es ist ein „abgeleiteter Diskurs“, der aber – im Gegensatz zum bengalisch-indischen Diskurs, welchen Partha Chatterjee (1986 und 1993) glänzend analysiert – kein Fragezeichen mehr hinter die Ableitung und Übernahme stellt. Die indigenen (auch nativistischen) Elemente sind „falsch-authentisch“. Selbst ihre Entwicklung ist gelernt aus dem westlichen Vorbild, welche eine kulturalistische Fundierung der Nation fordert und Folklore zur Identitätsbildung einsetzt. Kemal legte seine Politik im Programm der PPP von 1931 fest und übernahm sie in die Verfassung von Populismus sollte die organisierte Unterstützung des Volks sein. „Volkshäuser“ sollten die neue politische Kultur flächendeckend in die Dörfer Anatoliens tragen. Nationenbau ist ein von oben dirigierter Aufbau von Nationalbewusstsein. Heute führt eine „islamistische“ Regierung (Islamisch-Demokraten) eine Politik des Kemalismus, gemildert durch Partizipation. Damit hat sich das national­politische Projekt Türkei in einem wesentlichen Punkt geändert. Die Bevölkerung wird zum ersten Mal in ihrer Geschichte einbezogen. Nicht geändert hat sich das Ziel, die Verwestlichung, die „Europäisierung“. Dem nationalen Projekt, das die politische Führungsgruppe tabuisiert hatte, steht in der EU ein supranationales Projekt gegenüber. Es widerspricht in vielem dem türkischen Projekt und dürfte mit ihm kaum kompatibel sein. Ist diese Inkompatibilität eine Zeitfrage oder ein dauernder Antagonismus? Die sechs Prinzipien des Kemalismus: Nationalismus Laizismus: Der Islam darf keine politische Rolle mehr spielen Republikanismus Populismus: Mobilisierung der Massen, Revolutionismus: gewaltsame wie gewaltfreie gesellschaftliche Umgestaltung Etatismus: Der Staat gibt ein politisches Entwicklungsprogramm vor und setzt es durch

41 „Arabische Nation“? Karte: arabophone Welt
Die europäischen Nationen des 19. Und 20. Jahrhunderts verstanden sich als Sprachnationen. Das Modell wanderte in den Nahen Osten. Ein sprachnationaler Ansatz lag dort nahe, wo die herrschenden Personen andersprachig waren. Die gesamte arabophone Welt war seit dem 16. Jahrhundert zumindest nominell dem osmanischen Sultan untertan. Effektive Herrschaft übte er Mitte des 19. Jahrhunderts aber nur mehr über den Nahen Osten aus. Ägypten war faktisch (schon und noch) unter einem turkophonen „Vizekönig“ selbständig. Der Westen Nordafrikas stand unter französischer Kolonialherrschaft. Doch im Nahen Osten waren die Paschas und ihr Verwaltungspersonal türkisch. Schmale Intellektuellengruppen, teils aus religiösen Traditionen, teils in der Verwaltung tätig (die „Effendis“) versuchten die allgemeine Unzufriedenheit mit der osmanischen Herrschaft und Ausbeutung zu kanalisieren. Der Erste Weltkrieg war der Wendepunkt. Großbritannien versprach den Arabern die Unabhängigkeit. Gleichzeitig allerdings versprach es den Juden eine „nationale Heimstätte“ auf arabischem Boden (Balfour-Deklaration). Doch in der Zwischenkriegszeit übernahmen wieder Frankreich und das UK eine koloniale Rolle („Völkerbund-Mandatsgebiete“) und setzten ihnen genehme Könige und Regierungen ein. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Staaten selbständig, auch, indem Offiziersgruppen die Marionetten-Könige stürzten: 1952 Ägypten; 1958 Irak; 1969 Libyen (Syrien war ein ähnlicher Fall). Eigene Nationen entwickelten sich. Ideologisch bezogen sie sich aber alle auf das „arabisch-islamische Vaterland“ Die „arabische Nation“ wurde so zur pan-ethno-nationalen Ideologie vor allem von Intellektuellen, aber auch den Regierungen, die nach außen (antiwestliche) Unabhängigkeitsrhetorik demonstrierte.

42 China: „Kulturkreis“ oder Nation?
Karte: China mit Provinzgrenzen Bevölkerung 2000: 1,3 Mrd., davon rund 1,2 Mrd. Han-Chinesen: Menschen die eine Variante des Chinesischen sprechen und nicht zu Minderheitren gehören. Wie große kann eine Nation sein? China hat als Staat eine Tradition von mehr als 2 Jahrtausenden. Es zerfile immer wieder in Teile und wurde wieder vereinigt. Kann die Bevölkerung eines so riesigen Staats eine Nation darstellen? Die faktische Bindekraft staatlicher Penetration („Durchdringung“ mit Infrastruktur, usw.) und Integration mit einer einheitlichen Regierung und Verwaltung scheint ein Zusammengehörigkeitsgefühl her zu stellen, das einer nationalen Identität zumindest nahe kommt. Es wird von mehreren Seiten in Frage gestellt: Beträchtliche Teile mehrerer Minderheiten (Uiguren, Tibeter) wehren sich entschieden, sich als Chinesen zu sehen. Dies ist für europäische Augen vertraut. Schreiende wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten stellen die nationale Einheit zumindest dort in Frage, wo sie auch einen regionalen Aspekt aufweisen. Der breite „Küstenstreifen“ steht dabei gegen die dünn besiedelten westlichen Regionen. Kein Problem scheint hingegen der Sprachunterschied zwischen Nord und Süd, zwischen Mandarin und Kantonesisch dar zu stellen. Wäre nicht der einheitliche politisch-staatliche Raum gegeben, so wäre China mit der Entität (West-) Europa statt mit einem Nationalstaat zu vergleichen.

43 Indien: Religiöser oder nationaler Kommunalismus?
Karte: Südasien Bevölkerung 2000: Indien 1,02 Mrd., Pakistan: 131 Mill., Bangla Desh: 123 Mill., Nepal: 23,2 Mill., Bhutan: 1,02 Mill., Sri Lanka: 17 Mill. Indien wurde stets als Kontinent betrachtet: Jambudvipa, „Der Kontinent des Rosenapfelbaums“. Heute denken wir bei Indien nur an einen Staat, die Region als Ganzes bezeichnen wir mit Südasien. Auch Indien verfügt über lange staatliche Traditionen, sogar noch längere als China, mit vielen Teilungen und Einigungen. Als sich die britische Königin Victoria nach der „Großen Meuterei“ 1857/1858 zur „Kaiserin von Indien“ machen ließ (1876), wurde damit auch die Grundlage für einen nationalen Staat gelegt. Für einen? Der Indische Nationalkongress (gegründet 1885) strebte eine große indische Nation an, ohne Unterschied der religiösen Zugehörigkeiten. In ihm waren vorerst auch Muslime vertreten. Muslime waren vor der britischen Herrschaft die dominante Gruppe in Indien gewesen. In einem demokratischen Indien war eine solche Stellung ausgeschlossen. So entstand langsam die Zielvorstellung eines eigenen islamischen Staats erklärte schließlich Mohammed Ali Jinnah (1876 – 1948) kategorisch: „I want India divided or destroyed!“Er bekam beides. Heute leben in der Indischen Union (Bharat Juktarashtra) noch immer etwa 100 Mill. Muslime, als Minderheit. Sie sind ständiges Hassobjekt für extremistische Hindus. Auch in den letzten Jahren hat es mehrfach antiislamische Pogrome mit Tausenden von Toten gegeben. Diese indische Version von europäischem Mehrheits-Nationalismen nennt man Kommunalismus. Darüber hinaus gibt es an der indischen Peripherie, vor allem im Nordosten, aber auch im Nordwesten, Sezessionismen von nicht hinduisierten Bevölkerungsgruppen, auf die das indische Zentrum mit harter Hand reagiert.

44 Die Erfindung neuer Nationen und alter Traditionen: Ghana, Mali, Zimbabwe

45 Die Sowjetunion bis 1989: Ein a-nationaler Ansatz
Sowjetunion (UdSSR) 15 Unionsrepubliken: RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) Ukraine, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Moldau; Kasachstan, Turmenien, Usbekistan, Kirgisien, Tadjikistan; Armenien, Georgien, Aserbaidjan. Darin inkorporiert, der Großteil in der FSFSR: 20 Autonome Sozialistische Republiken (16 davon in der RSFSR, eine in Usbekistan, 2 in Georgien und eine in Aserbaidjan); weiters 8 Autonome Gebiete und 10 Autonomen Bezirken. Art. 72 der (Breschniewistischen) Verfassung von 1977 stipuliert ein Sezessionsrecht: „Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR gewahrt.“ Dieses theoretische Recht erscheint bereits in der Verfassung von 1924, mit welcher die Sowjetunion als föderale Struktur begründet wurde, und auch in der Stalin‘schen Verfassung von 1936. Der „Realsozialismus“, die sowjetisch-autoritäre Version des Marxismus ist ein Versuch, ein nichtnationales Entwicklungs- und Modernisierungsmodell zu formulieren. Die Integration in die neue Gesellschaft sollte auf individuelle Weise erfolgen. Das „sowjetische Volk“ war keineswegs als nationale Kategorie gedacht, war keine Dachnation, aber sollte eine Dachgesellschaft sein. Im nichtnationalen Entwurf hatten die Nationen ihren Platz, sollten aber eine untergeordnete Rolle spielen. (1) Eine Integration passierte wesentlich von oben her zu einer Zeit, in welcher diese top-down-Bewegung nicht mehr als legitim gilt. Die sowjetischen Systeme stützten sich nicht auf nationale Souveränität. Ihrem Anspruch auf Volkssouveränität lag ein Volksbegriff zugrunde, der nicht ethnonational, sondern sozial verstanden war. (2) Die Bedingung der Moderne in der Politik ist die Legitimierung „von unten“. Sie muss auch in diesen Systemen institutionalisiert sein. Ein Ansatz war die „Selbstverwaltung“ in Jugoslawien. Teils spielten auch die nationalen Parlamente der Teil-Republiken die Rolle. (3) Das internationale System musste dies nicht nur zulassen, sondern sogar fördern. Die war unter der Bedingung der Systemkonkurrenz gegeben („Jalta“). Es gab einen Dualismus im sowjetischen Staatsaufbau. Die KPdSU spielte die zentrale politische Rolle. Sie verkörperte das „sowjetische Volk“. Sie stellte die Gemeinsamkeit der Herrschenden im Apparat her. Die nationale Komponente wurde von der formalen Regierung repräsentiert. Daraus leitet sich eine Doppelgewalt mit einer Priorität des Parteipersonals, dessen Spitzen bisweilen vom Zentrum entsandt waren, in den Unions-Republiken ab. Da die Partizipation (die Demokratie) mangelte, entwickelte das „sowjetische Volk“ außerhalb der Partei keine integrative Kraft; es hatte nur eine beschränkte sozio-politische Wirklichkeit. Die Parteifunktionäre waren mit imperialen Kadern des britischen Kolonialreichs zu vergleichen, die nicht Bürger, sondern Untertanen verwalteten. They „saw themselves as fitted to rule any nation and any people, because they saw peoples as subjects and not as citizens“ (Kamenka 1993, 83).

46 Jugoslawien 1945 – 1990: Kompromiss zwischen a-nationalem Programm und nationalen Ambitionen

47 Europa nach 1945: Spaltung und globale Lager drängen nationale Politik in den Hintergrund
4. – 11. Februar 1945 „Yalta“: Die Sieger des Weltkriegs teilen Europa und tendenziell die Welt in Einflusssphären auf – nationale Konkurrenz wird zur Störung des Weltsystems Die meisten der Staaten aus der Zwischenkriegszeit (Ausnahme: Die Baltischen Länder) entstehen wieder. Doch sie sind nunmehr in die „Systemkonkurrenz“ eingebunden. Ihre Politik wird bestimmt von den globalen Hegemonialmächten, der „Supermächten“. Das System der UNO mit der zentralen Institution Vereinte Nationen und vielen Fachorganisationen, die organisatorisch selbständig sind (UNESCO, UNIDO, FAO, ILO, ...) löst den Völkerbund ab und wird zum Ausdruck des internationalen Systems. Die Bildung zweier antagonistischer politischer Lager und ihre Konkurrenz untereinander unterdrückte zwischen 1945 und 1989 weitgehend nationale Rivalitäten innerhalb dieser Lager, im Bereich der NATO und des Warschauer Paktes. Die Hegemonialmächte USA und UdSSR dulden keine inneren Konflikte in ihrem jeweiligen Lager. Auch Minderheiten werden hauptsächlich als Störenfriede wahrgenommen. Minderheitenschutz soll nur in der individuellen Integration statt finden. In diesem Sinn beginnt in Europa das postnationale Zeitalter. Das Abkommen von Yalta hatte die Zuordnung zu den Lagern geregelt. In Westeuropa hielten sich auch die oppositionellen kommunistischen Parteien daran, trotz ihrer anderen Rhetorik. Nur in Griechenland funktionierte dies nicht, und in einem blutigen Bürgerkrieg wurde die KP mit US-Hilfe zur Raison gebracht. – Während die BRD ab 1949 zum Muster einer Politik der Unterordnung unter den Hegemon USA wurde, versuchte Frankreich, eigene nationale und auch europäische Interessen zu formulieren und zu wahren. In Osteuropa wird das sowjetische System eingeführt, meist gegen eine Mehrheit der Bevölkerung (Ausnahmen: Jugoslawien, Tschechoslowakei). Für vier Jahrzehnte gibt es kaum nationale Konflikte. Vereinzelte Versuche einer Verselbständigung werden schnell unterdrückt: DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968. Die Innenpolitik dieser Staaten ist nicht nationalistisch, sondern versucht die sowjetischen Regelungen nach zu vollziehen. Ausnahmen bilden in gewissem Grad Rumänien, wo ein rumänischer Ethnonationalismus zur Variante des Kommunismus dieses Landes gehörte; vor allem aber Bulgarien, wo in den 1950er und 1980er Jahren eine Welle von politischen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Türken getroffen werden, die teilweise vertrieben werden.

48 EWG / EG / EU: Regionale Integration – postnationale Struktur
9. Mai 1950 Schuman-Plan: Die Blaupause für die EGKS und die EWG allgemeiner 1952 EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – „Montanunion“ 25. März 1957 Römer Verträge: Die EWG startet mit 6 Mitgliedern Anfang 1958 1986 Einheitliche Europäische Akte (einheitlicher Binnenmarkt) 1991 Maastrichter Vertrag legt die Einrichtung der „Europäischen Union“ mit 1. Nov fest 1998 Vertrag von Nizza 2003 Europäischer „Verfassungsvertrag“ entworfen Die westeuropäische Integration sieht es als ihr explizites Ziel, nationale Zugehörigkeiten zu einer ähnlich wenig verpflichtenden Beziehung zu machen. Der Hintergrundentwurf sieht offenbar vor, nationale Grenzen zu Verwaltungsgrenzen zurück zu stufen. Nationale Loyalität und Solidarität sollen jedenfalls ihrer normativen und sozialen Bedeutung entkleidet werden. Der z. B. über den EuGH ausgeübte Strukturdruck hat in dieser Richtung tatsächlich Ergebnisse erbracht. Begonnen in einer eigenartigen Mischung weitgespannter politischer Rhetorik auf oft vornationaler Grundlage und realistischer engbegrenzter Entwürfe erfasste die westeuropäische Integration eine gegebene Strukturtendenz und organisierte sie. Großregionalisierung wurde zum wichtigsten Mittel der Politik der Globalisierung. Im Verlauf weniger Jahre entwickelte sich daraus eine Institution mit supra-nationalen Ansprüchen und teilweise auch Ergebnissen. Das Fehlen eines europäischen Demos auf Massenbasis spiegelt das Fehlen eines europäischen Ethnos. Dem technokratischen Gebilde fehlt die demokratische Legitimation für seine wichtigsten Strategien und Ziele allerdings keineswegs wegen des Fehlens von entsprechenden formalen Strukturen. Diese sind vorhanden. Das „Demokratiedefizit“ würde sich aber durch eine Stärkung des EP nur erhöhen. Denn diese Institutionen wirken hoch entfremdet und entfremdend, weil sie eine ideologische Fiktion voraus setzen: Das Eliten-Unternehmen EU entspricht keineswegs dem Wunsch und Bedürfnis weiter Bevölkerungskreise. Die Osterweiterung (1. Mai 2004) mit 10 neuen Mitgliedern deutlich geringeren Wohlstands und wenig entwickelter demokratischer Kultur verschärft diese Tendenz. Sie muss zudem zu einer Informalisierung der Entscheidungsfindung („Zwei Geschwindigkeiten“) führen und damit die bereits vorhandenen demokratischen Strukturen noch stärker entwerten und gefährden als bisher.

49 Europa nach 1989 Demokratisierung und Nationalisierung gingen in Ost- und Südosteuropa Hand in Hand. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Idee des Nationalstaats in Osteuropa als Gegenentwurf wieder neu belebt. In Westeuropa haben allerdings postnationale Strukturen Kraft gewonnen. „What has tended to alter the basic conditions for national homogeneity – by imposing new conditions for ‘homeness’ and belonging – are European, transnational, and globalizing processes and the new types of identity formation, boundary confusion, and ethnic politics that follow in their wake. ‘Globality’ … spells significant changes in the cultural landscapes of belonging, not because it supplants the nation-state and the forms of homeness outlined so farbut because it changes the contexts (politically, culturally, and geographically) for them, situates national identity and belonging differently and superimposes itself on ‘nationality’ as a new frame of reference, values, and consciousness, primarily for the globalized elites, but increasingly for ‘ordinary citizens’ as well” (Hedetoft / Hjort 2002, XV – der letzte Satz ist empirisch nicht belegt). Nationalismus will eine Deckung / Kongruenz des politischen Verbandes (des Staates) mit der an spezifisch kulturellen Markern (Sprache, etc.) abgezirkelten Gesellschaft (der Nation). Identität sollte den Strukturgrenzen der Nation folgen und diese eventuell auch in mancher Weise modifizieren (das politische Projekt in inhaltlicher und räumlicher Hinsicht). Wenn aber „die Kongruenz der sozialen und politischen Räume“ (Zürn 1998, 10) aufgehoben wird, weil die Regelungskapazität des national-territorial begrenzten Staats nicht mehr an die Probleme heran kommt, zieht dies der nationalen Politik den Boden unter den Füßen weg. Nation will gerade diese Kongruenz herstellen. „Nur wenn der Kreis der Betroffenen (bisher: die Nation) einigermaßen mit dem Raum des zu regelnden Handlungszusammenhanges (bisher: der Territorialstaat) übereinstimmt, kann die Regelung ihre Ziele erreichen“ (Zürn 1998, 17).

50 „Symbolische Nationalität“: Die Zukunft der Nationen?
Gans 1985: „Da die strukturellen Funktionen von ethnischen Kulturen und Gruppen an Bedeutung abnehmen und Identität die hauptsächliche Weise ist, in der man ’ethnisch’ ist, bekommt Ethnizität eher eine expressive als eine instrumentale Funktion im Leben der Menschen, wird so mehr und mehr zu einer Freizeit-Aktivität und verliert an Relevanz z. B. für die Regulierung des Familienlebens oder den Lebensunterhalt. Expressives Verhalten kann viele Formen annehmen; es beinhaltet meist auch die Nutzung von Symbolen eher als Zeichen denn als verhaltensleitenden Mythen …“ Wird in analoger Weise die europäische Nation zur Verwaltungseinheit ohne Integrationskraft? Nationale Identität war in Europa bisher Voraussetzung für Integration, für demokratische Selbstbestimmung, und für politisch konsensfähige Umverteilung in einer Sicherheits- und Wohlfahrtsvergemeinschaftung (fast) Aller. Bisher ist keine supranationale Struktur erkennbar, die dies auch schaffen könnte. Der „liberale“ Zugang hat seit je einen Bedeutungs-Verlust des Ethnischen behauptet. Später hat man auf die vielen ethnischen Konflikte hingewiesen und diese „liberal fallacy“ der Blindheit bezichtigt. Unbestritten ist der Rückgang struktureller Bedeutung ethnischer Grenzen. Gleichzeitig gibt es eine sogar steigende Kraft des Ethnischen als mentaler Bezugsrahmen. Das Konzept symbolischer Ethnizität in der Formulierung von Gans behauptet daher die strukturelle Irrelevanz ethnischer Zugehörigkeit.. In Westeuropa drückt sich dieser Wandel als symbolische Zweisprachigkeit aus. Mehr-sprachigkeit wird in der heutigen Rhetorik der Diversität von Seiten der Mehrheiten hoch gewertet. Sie darf aber keine politischen und strukturellen Folgen haben. Minderheiten akzeptieren dies in vorauseilendem Gehorsam weitgehend. Identitätskonstruktionen werden in der Postmoderne immer mehr zu persönlichen Zusammenstellungen disparater Identitäts-Elemente aus unterschiedlichen Kontexten. Kann die Transformation von sozialer Identität die postmoderne Ethnizität tatsächlich soweit optional machen, dass sie als Wahlmöglichkeit nicht nur historisch analysiert, sondern auch sozial und politisch wahrgenommen wird? Die Verallgemeinerung städtischer Lebenssituation durch eine ständig steigende Mobilität macht dies wahrscheinlich.

51 Literatur in Auswahl Aus der Fülle der Literatur werden hier nur wenige analytische Beiträge angeführt. Da Nationalismus eine Intellektuellenbewegung war, sind wesentliche Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert als Zeugnisse angeführt. Aus Dokumentationsgründen ist es schließlich nötig, einige in den Präsentationen erwähnte Werke anzuführen, auch wenn diese nicht als erstrangig bedeutsam zu betrachten sind. Chatterjee, Partha (1986), Nationalist Thought and the Colonial World. A Derivative Discourse? Minneapolis: Minnesota University Press. Deutsch, Karl W. (1953), Nationalism and Social Communication. New York: Wiley Deutsch, Karl W., Nationalismus – Nationalstaat – Integration. Düsseldorf: Bertelsmann, 1973. Eisenstadt, S.N./Rokkan (1973), Stein, eds., Building States and Nations. Models and Data Resources. 2 Vol. Beverly Hills/London: Sage. Gellner, Ernest, Nations and Nationalism. London: Blackwell, 1983 (Deutsche Ausgabe im Wagenbach oder Rotbuch-Verlag). Hobsbawm, Eric J. (1990), Nations and Nationalism since Programme, myth, reality. Cambridge: University Press. Hroch, Miroslav (2000 [1985]), Social Preconditions of National Revival in Europe. A Comparative Analysis of the Social Composition of Patriotic Groups among the Smaller European Nations. New York: Columbia University Press. Kedourie, Elie (1986), Nationalism. London: Hutchinson. Kohn, Hans (1962), Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution. Frankfurt/M.: Fischer. Lemberg, Eugen (1964), Nationalismus, I: Psychologie und Geschichte. II: Soziologie und politische Pädagogik. Reinbek: Rowohlt. Reiterer, Albert F. (1998), Soziale Identität. Ethnizität und sozialer Wandel: Zur Entwicklung einer anthropologischen Struktur. Frankfurt/M.: P. Lang. Renan, Ernest (1992 [1882]), Qu'est-ce qu'une nation? et autres essais politiques. Textes choisis et présentés par Joël Roman. Paris: Presses Pocket. Rokkan, Stein/Urwin, Derek W. (1982), eds., The Politics of Territorial Identity. Studies in European Regionalism. London: Sage. Schnapper, Dominique (2003), La communauté des citoyens. Sur l’idée moderne de la nation. Paris : Gallimard. Smith, Anthony (1971), Theories of Nationalism. New York: Harper & Row. Tamir, Yael (31995), Liberal Nationalism. Princeton, N. J.: Princeton University Press. Tilly, Charles (1975), ed., The Formation of National States in Western Europe. Princeton, N.J.: Princeton University Press. Thiesse, Anne Marie (1999), La création des identités nationales. Europe xviiie – xxe siècle. Paris: Editions du Seuil. Ziegler, Hans Otto (1931), Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. Tübingen: Mohr. Historisch einflussreiche Literatur: Bauer, Otto (1907), Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien: Verlag der Volksbuchhandlung. (Auch in: Werke. Hg. von H. Pepper. Wien: Europa Verlag, 1966). Bluntschli, Johann Kaspar (1965 [1886 bzw. 1852]), Lehre vom modernen Staat. 3 Bände. Band 1: Allgemeine Staatslehre. Aalen: Scientia (Reprint). Fichte, Johann Gottlieb (1978), Reden an die Deutsche Nation. Hamburg: Meiner. Mancini, Pasquale Stanislao (1978 [1873]), Diritto Internazionale. Prelazioni con un Saggio sul Machiavelli. Vaduz/Liechtenstein: Topos Verlag. Renner, Karl ["Springer Rudolf"] (1902), Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Erster Theil: Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage. Leipzig/Wien: Deuticke. Stalin, Josef (1976), Marxismus und nationale Frage [1913]. In: Werke, Band 2, 1907 – 1913, 266 – 333. Dortmund: Roter Morgen. – Welche Auffassung hat die Sozialdemokratie von der nationalen Frage? [1904] In: Band 1. – Noch einmal zur nationalen Frage [1925]. In: Band 7. – Zur nationalen Frage in Jugoslawien [1925]. In: Band 7.


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