Sabine Maasen HS 2008 Wissen, Wissenschaft, Wisenschaftsgesellschaft

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Dritter Interdisziplinärer Politischer Salon „Zeit für Allmende“
Advertisements

Grundbegriffe der Pädagogik: Bildung, Sozialisation, Erziehung
Das E-Portfolio – essentielles Instrument zukünftiger Wissensarbeit? 27. Community-Treffen der PWM, 23. Februar 2007 Paul Meinl GF, factline Webservices.
(Susanne Fink, Lernen vor Ort, LK OVP) Diskussionsrunde 4
Das Lebensfach Ernährung und Haushalt Tagung der LehrerInnen für WE / EH in Mattersburg,
Projektumfeld Gesellschaftliche Strömungen Strukturen/ Gliederung
Migration, Ethnizität und Informalität in der Global-City-Debatte von Saskia Sassen Tagung am Institut für Geographie, Hamburg, 27. Juni 2003.
Modelle der Sozialstrukturanalyse
Leitbild Schule intern Schule & Entwicklung Schule & Partner.
Was ist Globalisierung?
Barbara Wörndl Hochschule Merseburg (FH)
9. Jan: Klassen und Schichten
2. Das Stichwort der 90er Jahre: Globalisierung
Vorlesung: Einführung in die Soziologie – WS 2009/10 Prof. Dr
Was soll unter Bildung verstanden werden?
I. (Post-)Moderne Gesellschaft und ihre Strukturen als Kontext des sozialethischen Diskurses Niklas Luhmann Franz-Xaver Kaufmann.
BERATUNG KANN MEHR FRAUENSPEZIFISCHE BERATUNGSFORMEN ZWISCHEN LÖSUNGSORIENTIERUNG UND THERAPIE PROF. DR. SABINE SCHEFFLER ZENTRUM FÜR ANGEWANDTE PSYCHOLOGIE.
George Herbert Mead Soziale Handlungen: das Verhalten eines Individuums stellt einen Reiz für ein anderes dar, um in einer bestimmten Weise wiederum auf.
Qualitative Forschung
MBFJMWVLW Ökonomische Bildung am Gymnasium, Ökonomische Bildung am Gymnasium in Rheinland-Pfalz.
Dr. Valentin Aichele, LL.M.
Sozialraumorientierung als moderne Maxime für Professionalität in der Sozialen Arbeit - Gesellschaftspolitische, fachliche und organisatorische Umsetzungsbedingungen.
Akzeptierende Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen
Nachhaltigkeit am Beispiel des Projekts Reform der beruflichen Bildung Marokko 1. Ganzheitlicher Ansatz Zieldimension: Qualifikation der Auszubildenden.
Bundesfachgruppe Statistische Ämter des Bundes und der Länder.
Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Sports –
Gliederung der Präsentation
Nordrhein- Westfalen Individuelle Förderung in der OGS im Primarbereich Die Schule – vermittelt die zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags.
SFB 522 Umwelt und Region Universität Trier, Trier gefördert durch: Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung,
Berufsstruktur.
Kapitel 1 Einleitung Originale (englisch) von Iordanis Petsas
Was ist Natur? 1. Definition
Peter Wehling: Wissen und Nichtwissen
Nico Stehr Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens
Übersicht: Individualisierung & Globalisierung
Individual-, Organisations- Professionsethik
Urban Audit und Indikatoren der regionalen Disparitäten
MUSEALISIERUNG VON MIGRATION Annäherung an eine Aushandlung gesellschaftlicher Praxis.
Institut für Unternehmensführung Adrian Sidler Grüezi Energie aus Biomasse als Chance für die Region.
Energiegenossenschaften als Protestbewegung
Eidgenössisches Departement des Innern EDI Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG Geschlechtergleichstellung als Querschnittsaufgabe im.
Perspektive Gemeinwesen? Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Digitale Aufklärung Warum uns das Internet klüger macht
Fachtag „Integration und Versöhnung“
Zwei Themenkreise Top down: Validierung von Bildungsleistungen bzw. "andere Qualifikationsverfahren" (aQV: BBG, Art. 33), meist kombiniert mit Nachholbildung.
Interkulturelle Kompetenz
Sabine Maasen Die Öffentlichkeit der Wissenschaft – Die Wissenschaft der Öffentlichkeit Forum Wissenschaftsjournalismus, Wien, 14. Juni 2007.
Referat „Soziale Wandel“
Sozialwissenschaften
Von Unternehmen und Unternehmern
Advocacy Coalitions Carina Greil und Alena Lauchs.
Öffentliche Internet-Zugangs- und Lernorte als Bestandteil der sozialen Stadtteilentwicklung Olaf Schroth TU Hamburg-Harburg.
Leben in einer fremden Heimat
Evaluationen sind nicht nur technische Vorgänge, sondern immer auch soziale Prozesse. Bei der Gestaltung von Evaluationen muss auf beides geachtet werden,
GK/LK Sozialwissenschaften
Lernen in Zeiten der Globalisierung
Heike Bergmeyer-Szuba
Standortsysteme im Postfordismus
Dr. Petra Bendel Vorlesung: Einführung in die Politische Wissenschaft Vorlesungsteil Internationale Politik II: Empirischer.
Modulforum „Christlicher Glaube in säkularer Gesellschaft“
Politik in der Demokratie - Leben ist nicht Schicksal Einige Thesen zur Reflexion und Diskussion über Politische Bildung von Andi Gross Pädagogische Hochschule.
Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen
Anhang 2 aus den Rahmencurricula: Beschreibung der Kompetenzen
Workshop 1: Entwicklungstendenzen von Beruflichkeit in Ausbildungsberufen und im Studium Prof. Dr. Georg Spöttl, ITB, Universität.
Fachtagung der Bundesvereinigung Lebenshilfe: Migration und Behinderung: Zugangsbarrieren erkennen – Teilhabe ermöglichen 29.–30. September 2015 in Berlin.
Oliver W. Lembcke (HSU-HH) PS-1: Neo-Institutionalismus Ansätze und theoretische Zugänge Vorlesung im Wintertrimester 1/2012 Neo-Institutionalismus Ansätze.
Verwaltungslehre Ist Bürokratie eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Kapitalismus?
Der Subjektorientierte Bildungsansatz der Jugendarbeit Neue Anregungen für Globales Lernen in der Freizeit.
Folie 1 Kulturelle Vielfalt: eine ethische Reflexion Peter Schaber (Universität Zürich)
Univ. Prof. Dr.-Ing. Heribert Nacken Die Rolle der (Wasser-) Bildung im Wasserressourcenmanagement Univ.-Prof. Dr.-Ing. Heribert Nacken.
 Präsentation transkript:

Sabine Maasen HS 2008 Wissen, Wissenschaft, Wisenschaftsgesellschaft I Martin Heidenreich: Die Debatte um die Wissensgesellschaft II Uwe H. Bittlingmayer: ‚Spätkapitalismus‘ oder ‚Wissensgesellschaft‘? Sabine Maasen HS 2008 Wissen, Wissenschaft, Wisenschaftsgesellschaft

Wissensgesellschaft nicht: Informationsgesellschaft (definiert durch ihre technologische Basis) nicht: Dienstleistungsgesellschaft (definiert durch eine statistische Grösse) Sondern? ... Noch nicht entschieden! Vier Bedeutungen lassen sich derzeit unterscheiden: Die Bedeutung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien Neue Bedeutung von Wissen - neben Kapital und Arbeit Die Bedeutung wissensbasierter Dienstleistungen und Produktionsprozesse Die Bedeutung lernender Organisationen

I Martin Heidenreich: Die Debatte um die Wissensgesellschaft

These Heidenreichs Wir leben nicht mehr in der Industriegesellschaft Weitgehend nationalstaatlich reguliert Massenproduktion und Massenkonsum Sondern in der Wissensgesellschaft Grenzüberschreitende Informations-, Kommunikation, Waren- und Finanzströme Starke Innovationsdynamik Gliederung des Aufsatzes Wissen Klassiker der Wissensgesellschaft Rekonstruktion der Debatte um die Wissensgesellschaft Vier zentrale Merkmale der Wissensgesellschaft in der aktuellen Debatte

Wissen und seine Institutionalisierungsformen Als Wissen werden ‚lernbereite Deutungsschemata‘ bezeichnet, die den natürlichen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen einen Sinn geben und die ihr praktisches Verhalten regeln Intersubjektiv überprüfbar Änderbar (lernen ist möglich) Enttäuschbar (wenn sich der Widerstand der Realität geltend macht) Stabilisierbar (bestätigte kognitive Erwartungen) Zwischen Wissen und Institutionalisierung besteht ein enger Zusammenhang: Die Institutionalisierung von Verhaltens- und Beziehungsmustern können als ‚geronnene Form von Wissen‘ bezeichnet werden Beispiel: organisatorische Routinen, Grussrituale Heidenreich: Wissensgesellschaft definiert sich durch die Bedeutung kognitiver Erwartungsmuster, d.h. durch die Bereitschaft, eingelebte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster infrage zu stellen (29).

Frühe Analysen der wissensbasierten Gesellschaft Die Geschichte der Industriegesellschaft wird auch als Geschichte eines systematischeren, rationelleren Umgangs mit Wissen betrieben mit Hilfe der jeweils verfügbaren ‚intellektuellen Technologen‘ Marx: die Systematisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung des Wissens gilt ihm als Mittel kapitalistischer Herrschaft Sombart: Sombart betont die Planmässigkeit der Wirtschaftsführung, die Zweckmässigkeit bei der Wahl der Mittel, die Berechnung und Registrierung aller Ereignisse. Weber: betont insbesondere die Rolle der Bürokratie (Fach- und Prozesswissen) als Grundlage der Wissensbasierung der modernen Gesellschaft Schumpeter: verlangt von einer Wissensgesellschaft, dass sie Raum für kreative, ausseralltägliche Persönlichkeiten lässt, die neue Möglichkeiten durchsetzen und erkennen Lernbereitschaft durch: Wissenschaft & Technologie, Organisation, Bürokratie, Persönlichkeiten

Die Debatte über die Wissensgesellschaft der 1960er & 70er Sie wurde als verwissenschaftlichte, dienstleistungszentrierte, akademisierte Gesellschaft konzipiert. Drucker: ‚knowledge workers‘ Ellul: Technologische Gesellschaft Bell: The Coming of Post-Industrial Society Das damalige Verständnis lässt sich so zusammenfassen: Expansion staatlicher und privater Forschungsaktivitäten als Grundlage der Verwissenschaftlichung zahlreicher Industriezweige Mit der Expansion des Dienstleistungssektors nehmen auch wissensbasierte Wirtschaftsaktivitäten zu Die Berufsstruktur der Wissensgesellschaft ist durch professionalisierte, akademisch qualifizierte Wissensarbeiter gekennzeichnet

Aktuelle Positionen (Übersicht S. 38) Neben wissenschaftlichem Wissen gewinnen auch erfahrungsbasiertes, technisches oder organisatorisches Wissen an Bedeutung Auch nicht-wissenschaftliche Organisationen sind Orte der Wissensproduktion Der globale Charakter des ökonomischen Wettbewerbs bringt neuen Wissensströme zur Geltung Neue Diskussionen betonen Die Bedeutung des Nichtwissens Die Bedeutung unterschiedlicher Wissensperspektiven in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen

Zwischen Globalisierung und Regionalisierung Luhmann zum Zusammenhang von Globalisierung („Weltgesellschaft“) und Wissensbasierung („lernende Anpassung“): Die Herauslösung aus nationalstaatlichen Regulationsstrukturen gehe mit einer Verschärfung der wirtschaftlichen, technischem und wissenschaftlichen Konkurrenzen einher Und befördere so die Lernbereitschaft der gesellschaftlichen Teilsysteme Die heutige Wissensgesellschaft ist eine innovationszentrierte Weltgesellschaft

Zwischen grenzüberschreitendem Lernen & Berechenbarkeit: Die heutige Wissensgesellschaft zeichnet sich durch lernende, vielfach grenzüberschreitend tätige Organisationen aus, die ihre eigenen Strukturen permanent auf den Prüfstand stellen, um ihren Bestand in einer turbulenten Umwelt sicher zu stellen. Organisationen können Perspektiven verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche verbinden Sie können die Handlungsmöglichkeiten zahlreicher Personen durch die Setzung von Entscheidungsprämissen koordinieren Sie können sich grosse Indifferenz gegenüber unbekannten Voraussetzungen und nicht-beabsichtigten Nebenfolgen ihrer Entscheidungen leisten

Zwischen funktionaler Differenzierung und struktureller Kopplung Die Wissensgesellschaft ist durch die Spannung von ‚Entbettung‘ und ‚Einbettung‘ gekennzeichnet Entbettung: durch z.B. leistungsfähige Kommunikations- und Transportsysteme werden soziale Beziehungen aus ihren lokalen Bindungen herausgelöst Einbettung: es gibt aber auch Chancen neuer struktureller Kopplungen, bspw. Werden Wissenschaft und Wirtschaft durch die technische und ökonomische Umsetzbarkeit des Wissens gekoppelt. Die Wissensgesellschaft ist aus dieser institutionellen Perspektive durch die beschleunigte Massnahmen der Deregulierung und Neuregulierung gekennzeichnet.

Zwischen Wissen und Nichtwissen Die Wissenschaft transformiert Ignoranz (als Nichtwissen des Nichtwissens) in Ungewissheit und Unsicherheit (Wissen des Nichtwissens) (45) Die Wissensgesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie dieses Verfahren in immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineinträgt. Krohn: die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft der Selbst-Experimentation Alle Funktionssysteme werden lernbereit; dies steigert die kognitive Dynamik der Gesellschaft Die normative Dynamik scheint oft ‚nicht mithalten‘ zu können (vgl. Konflikte um Stammzellforschung, Grüne Gentechnik, ...) Zusammenfassung des Arguments auf S. 46ff.

II Uwe H. Bittlingmayer: „Spätkapitalismus“ oder „Wissensgesellschaft“?

Argumentativ: Bittlingmayer stellt die Frage, ob es sich tatsächlich um einen veritablen Wandlungsprozess handelt, der sich insbesondere auszeichnet durch eine bereits durchgesetzte Leistungsgerechtigkeit & gesamtgesellschaftlich gestiegene Handlungsfähigkeit durch eine tendenzielle Nivellierung sozialer Unterschiede ob es sich tatsächlich um einen ob es sich tatsächlich um einen epochalen, unumkehrbaren Wandlungsprozess handelt

Wissensgesellschaft: epochaler, unumkehrbarer Wandlungsprozess ? Okönomie: unmittelbarer Produktionsfaktor 1: in Organisations- und Managementprozessen gespeichertes Wissen 2: informationelle Ressource für wirtschaftlichen Erfolg Politik: Bedeutung von Expertise/Experten Deregulierung, Eigenverantwortliche Steuerung Bildung & Wissen: Ausdehnung & Aufwertung von Bildung These B.: ‚prägt wesentlich die Zuteilung von Lebenschancen‘ (17) Kultur: Enormes Angebot, insbesondere durch Digitalisierung

Wissensgesellschaft: Zutiefst ambivalente Wirkungen (18,1): Z.B. IKT: Verschärfung von Konkurrenz in der Ökonomie versus Abbau von Hierarchien in der kulturellen Kommunikation 3 zentrale Defizite: Kultursoziologische Reflexionen auf Wissensgesellschaft Handlungsebene der Akteure Verständnis für die Re/Produktion von sozialer Ungleichheit in Wissensgesellschaften  „Zwingend ist deshalb ein Perspektivenwechsel, der die Ebene des makrostrukturellen Wandels wieder stärker mit der Perspektive der handelnden Akteure verbindet“ (18,2).

Individuelle Teilnahmevoraussetzungen für Wissensgesellschaften: Wegfall einer stabilen lebenslangen Berufs- und Arbeitsperspektive Ständig zu erweiternde Kompetenzprofile Flexibles Zeitmanagement Für alle Aspekte gilt: Es mehren sich Chancen zur Optionssteigerung, aber auch für Marginalisierungsprozesse

Soziale Polarisierung durch Wissen Investition in Bildungsabschlüsse: Unabdingbar, aber tendenzielle Entwertung Verschärfte Einkommensungleichheit zwischen Akademikern und Nichtakademikern Sozialstrukturelle Daten zeigen: Armutsrisiko ist deutlich stärker mit Herkunft als mit Bildung korreliert (20) Auch die weiteren mit der Wissensgesellschaft verbundenen Optionssteigerungen bleiben sozial ungleich verteilt.

Kultur als enthierarchisierte Sphäre der Wissensgesellschaft? Lebensstile (z.B. Freizeitaktivitäten) sind ebenfalls nach wie vor deutlich stärker mit der sozialen Herkunft als mit den neuen Möglichkeiten des Internet o.ä. korreliert (21). Die ungleichen Startbedingungen der Akteure forcieren ungleiche Chancen des Zugangs zu und des Umgangs mit den Optionen der Wissensgesellschaft.

… oder Spätkapitalismus? B. votiert deshalb für Adorno‘s Differenzierung (abgewandelt): Die gegenwärtige Gesellschaft sei nach dem Stand der technischen Entwicklung eine Wissensgesellschaft, nach dem Stand der ökonomischen und politischen Struktur hingegen eine kapitalistische Gesellschaft.