Johannes Gutenberg – Universität Institut Politikwissenschaft HS: Parteien und Wahlen der Weimarer Republik Leitung: Univ.-Prof. Dr. Jürgen Falter Sommersemester.

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Johannes Gutenberg – Universität Institut Politikwissenschaft HS: Parteien und Wahlen der Weimarer Republik Leitung: Univ.-Prof. Dr. Jürgen Falter Sommersemester 2010 29.Juni 2010 „Ging die Weimarer Republik an ihrem Wahlsystem zugrunde?“ - Die Hermens-Debatte -

Aus dem Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen...“ Aus dem Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918

Gründe für Verhältniswahl: Gilt als modernstes & gerechtestes aller Wahlverfahren Modern, da es durch höchstmögliche Verteilungsgerechtigkeit die Repräsentierung aller relevanten Gruppen im Parlament versprach (& das Bürgertum vor der sich rasch ausbreitenden sozialistischen Bewegung zu bewahren schien) Gerecht, da den abgegebenen Stimmen mehr Gewicht zuzufallen schien Forderung vor allem der SPD, die sich aus dem Wahlsystem des Kaiserreichs ergab tolerierbare Lösung für andere Parteien, die sich dadurch eher eine gesicherte Teilhabe an der parlamentarischen Machtausübung versprachen

Ausformung des Wahlgesetzes: Gleiche, geheime, direkte & allgemeine Wahl „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ Ausdehnung des Wahlrechts auf 20jährige Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen Einteilung des Reichsgebietes in 35 Großwahlkreise (ab 1920) Mandate werden nach dem Verhältnis auf starre Parteilisten verteilt Ein Mandat pro 60.000 Stimmen Reststimmen werden zunächst auf der Ebene der Wahlkreisverbände und dann auf Reichsebene verrechnet

„Schönheitsfehler“ der Wahlverfassung: Parteien erhielten trotz der Reststimmenverwertung kein Mandat, obwohl sie reichsweit 60.000 Stimmen erhalten hatten Je nach Zahl der Wahlberechtigten & Wahlbeteiligung schwankte die Anzahl der Abgeordneten des Reichtages beträchtlich (459/1920-647/1933) Größere Parteien werden in der Reststimmenverwertung bevorzugt (e.g.: SPD 60.000 Stimmen/Mandat - DDP mehr als 66.000 Stimmen/Mandat im Jahr 1930)

Mögliche Alternativen: Relative Mehrheitswahl (nach englischem Vorbild) Wahlgebiet in einige hundert Ein-Mann-Wahlkreise eingeteilt Derjenige Kandidat ist gewählt, der eine relative Mehrheit der Stimmen erringt Nachteile: bei 4 Kandidaten reichen 25% + 1 Stimme für ein Mandat => Verlust von ca. 74,99% der Stimmen Mandatsbonus für stärkste Partei - Zweitstärkste oft nur unterrepräsentiert Absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl (romanisches System; im Kaiserreich bis 1918) Einige hundert Ein-Mann-Wahlkreise (ca. 400 im Kaiserreich) Im ersten Wahlgang ist derjenige gewählt, der mehr als 50% der gültigen Stimmen erreicht Wo das nicht glückt, ist derjenige gewählt, der im 2. Wahlgang die relative Mehrheit der gültigen Stimmen erringt

Die theoretischen Grundlagen der VW Grundelement der VW: Repräsentativversammlung → Repräsentation ≠ Aufgabe Volksvertretung → das Element, welches repräsentiert werden soll existiert nicht Erste Voraussetzung: Repräsentation Fehlen des 3. Faktors der Repräsentation Vielfalt der Interessen & Meinungen: Verkleinerter Maßstab ↔ „e plurius unum“ Kein Schiedsrichteramt Zweite Voraussetzung: „nichts zu repräsentieren“ gerechte und statistisch reine nicht Repräsentation möglich ≠ feste politische Blocks mit eindeutigen Merkmalen und Trennungslinien dynamischer Prozess

Die Dynamik der VW 1) Die Verhältniswahl und die Parteizersplitterung MW: fördert die Konzentration von Parteien i.d.R. Einigung auf einen Kandidaten Fusion politischer Blöcke Entwicklung Zweiparteiensystem VW: erleichtert, gar schafft Parteien Parteigründungen, da keine Mehrheit für Sieg mehr nötig Veränderung politische Landschaft mit Verschärfung politischer Meinungsverschiedenheiten

Radikalisierung der Parteien Definition: Hermens definiert hier radikal in der Wahl der Mittel nicht mit der Zielsetzung MW: Instrument der Mäßigung Grenzwähler, keine Parteimitglieder, können den Parteien ihren Willen aufzwingen Resultatfreiheit vernichtender Schlag für radikale Parteien Unzufriedenheit der Wähler Unzufriedenheit politischer Führer Anschluss gemäßigte Parteien mit einsetzender Mäßigung der radikalen Einstellungen politische Belästigung VW: Radikalisierung VW ermöglicht das Erringen von Parlamentssitzen VW hält Radikalen am Leben Gegnerschaft Diäten Immunität Sammlung von Proteststimmen in Krisensituationen Gegenseitige Förderung unter den radikalen Parteien

Veränderung der Parteistruktur MW: ≠ Raum für starre Programme Koalitionsregierung zwingt zur Programmmäßigung Grenzwähler bewertet Leistungen & Personen und nicht Programme VW: Grenzziehung zwischen Parteien Herausstellen der Unterschiede Starres Dogma Alleinige Stimmenmaximierung

Entstehung von Interessengruppen und ihre Folgen für die Politik   MW: Entstehung nicht in reiner Form Keine großen Erfolgsaussichten Betrachtung ihrer Anliegen im Hinblick auf die Volksgemeinschaft als Ganzes Kandidat Interessengruppe selbst VW: Durchdringung der Politik Parteigründungen mit irgendwann gewissem Rückhalt Durchdringung Politik mit den Konsequenzen: Keine Volksbindung ≠ nationales Interesse Meinungslos in nationalen Fragen Wirtschaftliche Abhängigkeit Erpressung/ Tauschgeschäfte

Verschlechterung der politischen Elite durch Interessengruppen Anhänger der VW unterschätzen Wichtigkeit des politischen Personals und überschätzen die Parteiprogramme MW: Kandidat für den Durchschnittswähler im Wahlkreis Annehmbarkeit für den Durchschnittswähler Allgemeine politische Bildung Keine Verbindung zu wirtschaftlichen Interessen „self-mademan“ VW: Kandidat für bestimmte Berufs- oder Einkommensgruppe Annehmbarkeit für bestimmte Berufs- oder Einkommensgruppe Mehr Spezialisten

Interessengruppen und die verbleibenden demokratischen Parteien   Diese nur konkurrenzfähig mit entsprechenden Vertretern auf der eigenen Liste Kuckuckseier der Interessenverbände Im Konfliktfall: 1. Verpflichtung gegenüber wirtschaftlicher Gruppe 2. Verpflichtung gegenüber der Partei →Partei ist keine Einheit mehr, sondern wird zur Dachschaft

Das Listensystem und eine undemokratische Parteiorganisation MW: demokratische Parteiorganisation Demokratische Beziehung Wähler – Kandidat: Einmannwahlkreise Enge, persönliche Bindung und Loyalität beiderseits Abstrafung des Kandidaten durch Wahlverhalten Demokratische Beziehung Abgeordneter – Parteiführer: Im Konfliktfall starke Stellung des Abgeordneten durch Wählerschaft Eher Überredung statt Zwang VW: Mit dem Listensystem der VW, ist die Parteiorganisation nicht mehr demokratisch Keine demokratische Organisation: ≠ Einmannwahlkreise Große Wahlbezirke → keine volkstümliche Grundlage mehr Möglichkeiten der politischen Einflussnahme der Wähler geringer Keine persönliche Identifikation und Verantwortlichkeit Wahl der Liste als Ganzes Keine demokratische Beziehung Abgeordneter – Parteiführer: Landesparteiführer: Auswahl der Kandidaten

Verlust der Vitalität als Folge der VW MW: Vitalität der Kandidaten Bedingung Durchsetzung gegen Parteirivalen Körperliche & geistige Vitalität Beibehaltung der Aktivität VW: Vitalität der Kandidaten keine Bedingung Wechsel des politischen Personals Durch Listenplatz kein Durchsetzungsvermögen nötig Viele welche sich einem Kampf im MWS nicht gestellt hätten Keine politischen Kämpfer mit Tendenz zur Unterwerfung im Konflikt Parteiführer → eigene Versicherungsgesellschaft Alterung und Erstarrung des politischen Personals Abwandern der Jugend

Die VW und die politische Erstarrung MW: Verhältnisse im Fluss Änderung Sitzverteilung Änderung politisches Personal VW: politische Erstarrung Verschiebung Stimmen und Sitze gering Beibehaltung des politischen Personals

Regierungsbildung unter den Bedingungen der VW Problematik der Regierungsbildung: Kabinett gleich einer internationalen Konferenz  Mehrheitsbildung erschwert/bis unmöglich gemacht Lange Koalitionsverhandlungen Kabinettspostenvergabe Gefühl des Verrats an der Parteiprogrammatik Autorität der Regierung geschwächt Parlamentarier stehen mehr hinter der Partei als hinter der Regierung Premierminister ≠ politische Führer Folgen: Regierungsunfähigkeit Verzögertes Handeln Tatkraft eingeschränkt Keine brauchbaren Kompromisse Stillstand   →Notverordnungen

Die VW und das Recht der Parlamentsauflösung VW entwertet eine der wichtigsten Waffen der Regierung gegen widerspenstige Parteien Parlamentsauflösung durchaus demokratisch, da der Streit dem Volk vorgelegt wird   MW: Parlamentsauflösung wirkungsvoll Geringe Stimmenverschiebung = große Sitzveränderungen Keine Wiederwahlgarantie Kosten Mehr Handeln im Kollektiv VW: Parlamentsauflösung nicht wirkungsvoll Keine große Stimmenverschiebung Abgeordnete und Parteiführer stehen weiter auf der Liste → Wiederwahl Nach Wahl mehr oder wenig gleichen Zustände als zuvor → Abstumpfung