Diagnostiksysteme •S•S•A•M• Dr. med. Robert Hämmig

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 Präsentation transkript:

Diagnostiksysteme 2.10.2012 •S•S•A•M• Dr. med. Robert Hämmig Psychiatrie & Psychotherapie FMH Präsident Schw. Gesellschaft für Suchtmedizin Leitender Arzt Schwerpunkt Sucht Universitäre Psychiatrische Dienste Bern Direktion Psychiatrie •S•S•A•M•

Mensch Leib Seele Geist Was ist Leib ohne Seele / Geist? Was ist Seele / Geist ohne Leib?

Psychiatrie, Psychologie Psychiater: Facharzt für seelische Störungen und für Geisteskrankheiten aus: psyche „Hauch, Atem; Seele (als Träger bewusster Erlebnisse)“ & iatros „Arzt“ Psychologe: „Seelenkundiger; Forscher auf dem Gebiet der Seelenlehre“ aus: psyche & logos „Rede, Wort; Untersuchung usw.“

Sitz der Seele? Gehirn (Herz? „Sich etwas zu Herzen nehmen“) (Bauch? „Das bereitet mir Bauchschmerzen“) (Leber? „Was ist dir über die Leber gekrochen?“)

Neurowissenschaften Überwindung der “mind - brain barrier” Vom Molekül zu den menschlichen Gefühlen und dem Verhalten Entwicklung von Erklärungsmodellen

19. und 20. Jahrhundert Psychologie Soziologie Kulturelle Anthropologie Politologie Ökologie Moderne Psychiatrie

Emil Kraepelin (1856 – 1926) Grenze zwischen normal und abnormal Psychose Dementia praecox Manische Depression Symptommuster Biologie und Genetik

Jahrhundertwende Sigmund Freud Industrialisierte Medizin Individuum im Zentrum des Interesse Objekt der Medizin wird das Subjekt Industrialisierte Medizin

Eugen Bleuler (1857 – 1939) “Dementia praecox” Keine Demenz Nicht immer praecox Grenze zwischen normal und abnormal fliessend Erfinder des Wortes des 20. Jahrhunderts: Schizophrenie

Emil Kraepelin 1904 Transkulturelle Untersuchung Gleiche biologische und genetische Bedingungen in Java und Europa die lokale Kultur formt nur den variablen Inhalt, durch den sich die Erkrankungen manifestieren Begründung der transkuturellen Psychiatrie

Diagnose nach Kraepelin Genetische und biologische Grundlage Spezifisches Symptommuster -> heutige Forschung Neurowissenschaften Gentypisierung

Nutzen der Diagnose Kommunikation unter Fachleuten Einleiten einer spezifischen Behandlung Verhindern von Fehlbehandlungen Entlastung der Patienten und dadurch Förderung der Genesung

Arthur Kleinman (1961 - ) Krankheit = sickness Erkrankung = disease Kranksein = illness

disease Fehlfunktion von physiologischen und / oder psychologischen Prozessen

illness Psychosoziale Erfahrung und Bedeutung der wahrgenommenen „disease“ Umformung der „disease“ in Verhalten und Erfahrung

sickness Dichotomie von „disease“ und „illness“ Verständnis einer Störung in Bezug auf die makrosozialen Kräfte (Ökonomie, Politik, Institutionen).

Sickness, disease, and illness

Sickness, disease, and illness power of definitions!

Sucht Diagnose nach ICD-10 & DSM-IV TR einfach „Sucht“ ist in ICD-10 & DSM-IV TR nicht vorgesehen ICD-10: „psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen” “Addiction” als Begriff in Wissenschaft gebräuchlich Wiedereinführung in DSM-5 vorgesehen

ICD-10: psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F1X.YZ F = Kapitel V: psychiatrische Störungen 1 = psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen X = bezeichnet die Substanz (z.B. “1” für Opiate) Y = bezeichnet Störung näher (Intoxikation, schädlicher Gebrauch, Abhängigkeitssyndrom) Z = für Komplikationen (bei Intoxikation) oder Konsum / Behandlungssetting (bei Abhängigkeitssyndrom)

Diagnostik: ICD-10 Beobachtete Phänomene werden “theoriefrei” zu einer Kategorie zusammengefasst. Eine Kategorie entspricht nicht unbedingt einer Entität.

Abhängigkeitssyndrom Zwang zu konsumieren Verminderte Kontrollfähigkeit Körperliches Entzugssyndrom Toleranz Vernachlässigung anderer Interessen Konsum trotz schädlicher Folgen

Frei von Theorie? Zugrunde liegendes Menschenbild: Freie Entscheidung in Bezug auf Konsum Kontrolle behalten Interessiert sein Vernünftig sein in Bezug auf die Gesundheit

Addiction is a brain disease, and it matters. (A. I Addiction is a brain disease, and it matters! (A. I. Leshner, Science 1997) Sucht ist eine Hirnerkrankungen mit ausgeprägten psycho-sozialen Komponenten. Sucht hat eine ausgeprägte Tendenz chronisch zu verlaufen -> Rückfall ist eher die Regel als die Ausnahme. Einfaches Bio-psycho-soziales Modell

Phänomenologie Edmund Husserl (1859 - 1938): “zur Sache selbst”. Phänomenologie in der Psychiatrie: Ronald D. Laing (1927 - 1989)

Semiotik (nach Charles Sanders Pierce, 1839 - 1914) Patient Therapeut Referenz Interpretanz Repräsentanz Referenz Interpretanz Repräsentanz

ICD Vorläufer systematische Einteilungen der Krankheiten in Klassen im 18. Jahrhundert: Francois Bossier de Lacroix ("Sauvages") (1706-1777): Nosologia Methodica Carl von Linné ("Linnaeus") (1707-1778): Genera morborum William Cullen (1710-1790): Synopsis Nosologiae Methodicae aus: Genera morborum

Geschichte ICD Internationales Statistisches Institut ISI Bertillon’sche Klassifikation der Todesursachen (BCCD) als International List of Causes of Death (ILCD) (1893) ILCD, Revision 1 (1900) (+ statistisches Krankheitsverzeichnis) ILCD, Revision 2 (1909) (+ statistisches Krankheitsverzeichnis) Völkerbund, Hygiene Sektion ILCD, Revision 3 (1920) ILCD, Revision 4 (1929) (+ statistisches Krankheitsverzeichnis) ILCD, Revision 5 (1938) Erst ab Revision 6: integrierte Internationale Klassifikation der Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen

ICD der WHO & DSM der APA 1948: ICD-6 1955: ICD-7 1967: ICD-8 1952: DSM-I 1968: DSM-II 1980: DSM-III 1987: DSM-III-R 1994: DSM-IV 2000: DSM-IV-TR 2013: DSM-5

Geschichte der Begriffe 19th century Opium / morphia habit, opium disease, morphinism, morphinomania 20th century Narcotic addiction 1920ies Physical dependence 1930ies Drug addiction, drug habituation

Klassifikationssysteme 1949 1952 ICD-6 DSM I Drug addiction part of sociopathic personality disorders 1957 ICD7 Drug addiction, drug habituation 1968 ICD8 Drug dependence DSM II 1978 ICD9 Drug dependence, nondependent abuse of drugs 1980 DSM III Drug dependence, drug abuse 1992 ICD10 Drug dependence syndrome, harmful use

DSM-5: Substance Use and Addictive Disorders abuse & dependence: one single disorder 11 abuse/dependence criteria: -failure to fulfill obligations -hazardous use -social / interpersonal substance-related problems -tolerance -withdrawal -persistent desire / unsuccessful efforts to cut down -using more or over for longer than was intended -neglect of important activities -great deal of time spent in substance activities -psychological/physical use-related problems -craving mild: 2 – 3; moderate: 4 - 5; severe: 6 or more

DSM-5 Substance-Induced Psychotic Disorder Substance-Induced Bipolar Disorder Substance-Induced Depressive Disorder Substance-Induced Anxiety Disorder Substance-Induced Obsessive-Compulsive or Related Disorders Substance-Induced Sleep-Wake Disorder Substance-Induced Sexual Dysfunction Substance-Induced Delirium Substance-Induced Neurocognitive Disorder

DSM-5, z.B. R 00-04 Alcohol-Related Disorders R 00 Alcohol Use Disorder R 01 Alcohol Intoxication R 03 Alcohol Withdrawal R 04 Alcohol-Induced Disorder Not Elsewhere Classified R 05-07 Caffeine-Related Disorders R 05 Caffeine Intoxication R 06 Caffeine Withdrawal R 07 Caffeine-Induced Disorder Not Elsewhere Classified The Caffeine-Related Disorder Not Elsewhere Classified category is for disorders associated with the use of caffeine that are not classifiable as Caffeine Intoxication, Caffeine Withdrawal, Caffeine-Induced Anxiety Disorder, or Caffeine-Induced Sleep Disorder.

DSM-5: Should non-substance “addictions” be included? Gambling disorders YES, others need more research sexual (sexual use disorders workgroup) eating (eating disorders workgroup) shopping (minimal data) physical exercise (minimal data) work (minimal data) internet/video gaming (no consensus)) from a presentation by Deborah Hasin, PhD, Columbia University at the ISAM meeting in Oslo (08.09.2011)

DSM-5 Recommended for Further Study in Section III of the DSM-5 Caffeine Use Disorder Internet Use Disorder Neurobehavioral Disorder Associated with Prenatal Alcohol Exposure

Standardfragen Welche Substanz wird: wann von wem wie wie oft wo in welcher Dosierung zusammen mit wem warum mit welcher Einstellung und mit welcher Erfahrung konsumiert?

Funktionen des Drogenkonsums (A. Blätter, 1995) Religiöse Funktionen Medizinische Funktionen identitätsbildende und gruppenkohäsive Funktionen hedonistische Funktionen Kompensations- und Ventilfunktionen ökonomische und kommerzielle Funktionen politische Funktionen

Medikation - Selbstmedikation Michael Krausz, Hamburg 1998

Erklärungsmodelle

Konzept der Rolle des Kranken (nach Talcott Parsons) Privileg: nicht schuldig oder verantwortlich für die Krankheit Privileg: Zugeständnis einer Pause von der normalen Beschäftigung Verpflichtung: Gesundzuwerden Verpflichtung: Hilfe zu akzeptieren

Konzept der Rolle des Kranken bei chronischer Erkrankung Verweigertes Privileg: Für die Krankheit verantwortlich gemacht. Verweigertes Privileg: Keine Pause von der üblichen Beschäftigung Frustrierende Anforderung: Anforderung gesund zu werden, obschon es unrealistisch ist. Frustrierende Anforderung: Verpflichtung, Hilfe zu suchen trotz Versagen der Behandlung.