Vorlesung Geschichte der Ethnologie

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 Präsentation transkript:

Vorlesung Geschichte der Ethnologie Prof. Dr. Helene Basu 8. 11. 06

Programm 08. 11. Soziologie der Moderne: Durkheim, Weber, Simmel 15. 11. Die Gründer der modernen Ethnologie: Boas, Malinowski, Radcliffe-Brown, Marcel Mauss 22. 11. Anthropology in den 1930er Jahren: Institutionalisierung in Großbritannien: Oxford, LSE 29. 11. Anthropology in den 1930er Jahren II: Institutionalisierung in den USA: Columbia, Chicago 13. 12. Social Anthropology nach dem 2. Weltkrieg 20. 12. Cultural Anthropology nach dem 2. Weltkrieg 10. 01. 07 Die 1950er und 1960er Jahre in Paris I (Claude Lévi-Strauss) 17. 01 Die 1950er und 1960er Jahre in Paris II (Louis Dumont) 24. 01. Die 1970er Jahre: Marxismus, Feminismus, Ethnizität 31. 01. Die 1980er Jahre: Praxis, Krise der Repräsentation 07. 02.Die 1990er Jahre: Globalisierung / Alternative Modernen

Soziologen der Moderne Émile Durkheim (1858 – 1917) Max Weber (1864 - 1920) Georg Simmel (1858 - 1918)

Inhalte der Vorlesung heute: Der theoretische Ansatz von Émile Durkheim: Fokus: Arbeitsteilung und Individualisierung Georg Simmel „Das Geld in der modernen Kultur“ (1896) Fokus: Geld und Individualisierung in der Moderne

Émile Durkheim 1887 Lehrstuhl für Sozialwissenschaft in Bordeaux Später Lehrstuhl für Soziologie an der Sorbonne in Paris Definition ‚Soziologie‘: Gesellschaft, soziale Gesetzmäßigkeiten, kollektive Vorstellungen, soziale Tatsachen

Ausgewählte Schriften von Émile Durkheim (1893). De la Division du Travail Social. Paris dt. (1988) Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt/M: Suhrkamp (1895). Les règles de la méthode sociologique. Paris dt. (1961) Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt/M: Suhrkamp (1897 /1983). Der Selbstmord. Frankfurt/M: Suhrkamp (1909 /1969).& M. Mauss Primitive Classification. 'transl. from the French and ed. with an introduction by Rodney Needham.', London: Cohen & West (1912 / 1981). Die elementaren Formen des religiösen Lebens.Frankfurt/M: Suhrkamp

Soziologie der Durkheim-Schule: Soziologie umfasst alle Gesellschaften, nicht nur die moderne/eigene, sondern auch die 'primitiven' oder 'einfachen' Gesellschaften Grundlage ist der Vergleich sie schließt Ethnologie ein Studium von Institutionen & sozialen Tatsachen

Was sind soziale Tatsachen ? Wirklichkeiten, die außerhalb des Individuums liegen und ihm vorgeordnet sind Äußerlichkeit & Zwang Soziale Tatsachen müssen wie Dinge behandelt werden objektive soziale Wirklichkeit folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten

Arbeitsteilung = soziale Tatsache Analyse nach den Regeln der soziologischen Methode: Bestandshypothese: funktionaler Wirkungszusammenhang Entwicklungshypothese: kausaler Entstehungszusammenhang Beurteilungshypothese: ihre normalen und pathologischen Folgen

Arbeitsteilung im Sinne Durkheims Ökonomische und nicht-ökonomische Phänomene Differenzierte soziale Beziehungen Zusammenhalt / Bande der Gesellschaft Begriff der Arbeitsteilung korreliert mit Solidarität, Moral, Kollektivbewußtsein

Definition Kollektivbewußtsein "Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen" (1988: 128)

Zwei Seiten der positiven Solidarität: „... Man sieht Gesellschaft nicht vom gleichen Blickwinkel aus. Im ersten handelt es sich bei dem, was man mit diesen Namen (Solidarität) bezeichnet, um eine mehr oder weniger organisierte Gesamtheit von Glaubensüberzeugungen und Gefühlen, die allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind: das ist der kollektive Typ. Die Gesellschaft dagegen, der wir im zweiten Fall verpflichtet sind, ist ein System von verschiedenen und speziellen Funktionen, die bestimmte Beziehungen vereinigen. Diese beiden Gesellschaften bilden im übrigen nur eine. Es handelt sich um die zwei Gesichter ein und derselben Wirklichkeit, die aber gleichwohl verlangen, unterschieden zu werden." (1988: 181)

Arbeitsteilung und Gesellschaftstypen: Mechanische Solidarität: einfache / segmentäre Gesellschaften Organische Solidarität: moderne Industriegesellschaften Mechanische Solidarität: Prinzip der Ähnlichkeit, Individuen nicht von Gesellschaft geschieden Organische Solidarität: funktionale Differenzierung, Sonderrole der Individuen, wechselseitige Abhängigkeit Gegensätzliche Bewußtseinszustände von Individualität

Mechanische Solidarität und Individualität: "Im Bewusstsein eines jeden von uns gibt es zwei Bewusstseinszustände; den einen, den wir mit der ganzen Gruppe gemeinsam haben und der folglich nicht uns gehört, sondern der lebendigen und in uns wirkenden Gesellschaft; den anderen, der im Gegenteil dazu in uns das repräsentiert, was uns persönlich und unterscheidbar eigen ist und uns dadurch zu einem Individuum macht. Die (mechanische) Solidarität, die aus den Ähnlichkeiten entsteht, erreicht ihr Maximum, wenn das Kollektivbewusstsein unser ganzes Bewusstsein genau deckt und in allen Punkten mit ihm übereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualität gleich Null. Sie kann nur entstehen, wenn die Gemeinschaft weniger Platz in uns einnimmt. (...) In dem Augenblick, in dem diese Solidarität wirkt, löst sich unsere Persönlichkeit definitionsgemäß sozusagen auf; denn dann sind wir nicht mehr wir selbst, sondern das Kollektivwesen." (Durkheim 1988: 182)

Organische Solidarität und Individualität Das Kollektivbewußtsein muss ... einen Teil des Individualbewusstseins freigeben, damit dort spezielle Funktionen entstehen, die es nicht regeln kann. Je größer diese Region ist, um so stärker ist die Kohäsion, die aus dieser Solidarität entspringt. Tatsächlich hängt einerseits jeder um so enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andererseits ist die Tätigkeit eines jeden umso persönlicher, je spezieller sie ist. Natürlich ist sie, wie eng umschrieben sie auch immer sei, niemals ganz eigenständig. Selbst in der Ausübung unseres Berufes passen wir uns den Gewohnheiten und Praktiken an, die wir mit unserer ganzen Berufsgruppe gemeinsam haben. Aber selbst in diesem Fall ist das Joch, das wir tragen, viel weniger schwer, als wenn die ganze Gesellschaft auf uns lastet, und es belässt dem freien Spiel unserer Initiative viel mehr Platz. Also wächst hier die Individualität des Ganzen zur gleichen Zeit wie die Individualität der Teile. Die Gesellschaft wird fähiger, sich als Ganzes zu bewegen, während zugleich jedes ihrer Elemente mehr Eigenbewegung hat.

Kollektives Leben und Individualität: Das kollektive Leben wird nicht aus dem individuellen Leben geboren, sondern es verhält sich vielmehr umgekehrt. Nur unter dieser Bedingung kann man sich erklären, wie sich die persönliche Individualität sozialer Einheiten bilden und erweitern konnte, ohne die Gesellschaft zu zersetzen. Da sie ja in diesem Fall innerhalb eines schon bestehenden Milieus entsteht, trägt sie notwendigerweise dessen Merkmale; sie bildet sich auf eine Weise, welche diese kollektive Ordnung, mit der sie solidarisch ist, nicht zerstört; sie bleibt dieser angepasst, obgleich sie sich von dieser löst. Sie hat nichts Antisoziales, weil sie ein Produkt der Gesellschaft ist. Es handelt sich bei ihr nicht um jene absolute Persönlichkeit der Monade, die sich selbst genügt und ohne den Rest der Welt auskommen könnte, sondern um ein Organ oder einen Teil davon, der seine bestimmte Funktion hat, der sich aber vom Rest des Organismus nicht trennen kann, ohne in Todesgefahr zu geraten. (1988: 339-40)

Religion = sozialer Tatbestand Kollektive Vorstellungen / Repräsentationen besitzen soziale Funktionen drücken kollektive Wirklichkeiten aus

Menschliche Denken ist religiösen Ursprungs Wissenschaft aus Religion hervorgegangen, die in ihrem einfachsten zustand selbst Wissenschaft ist Philosophische „Kategorien des Urteilsvermögens“(Zeit, Raum, Substanz, Qualität, Aktivität, Leiden, Verhalten usw.) bilden das Gerüst der menschlichen Intelligenz und finden sich gleichermassen in primitiven und komplexen Gesellschaften

Durkheim: "Wenn man die primitiven religiösen Glaubensüberzeugungen methodisch analysiert, begegnet man zwanglos den hauptsächlichsten dieser Kategorien. Sie sind in der Religion und aus der Religion entstanden; sie sind das Produkt des religiösen Gedankens" (Formen des religiösen Lebens, S. 28)

Georg Simmel Privatdozent an Berliner Universität Kultursoziologie (1896/1995) „Das Geld in der modernen Kultur“, in: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt/M: Suhrkamp

'Das Geld in der modernen Kultur' 1896 Gegensatz soziale Bindungen Mittelalter /moderne Zeit: Mensch in Gemeinschaft eingebunden Moderne: Einheit Persönlichkeit/Gemeinschaft löst sich auf Trennung von Subjekt & Objekt durch Geldwirtschaft: "Sie schiebt zwischen die Person und die bestimmt qualifizierte Sache in jedem Augenblick die völlig objektive, an sich qualitätslose Instanz des Geldes und Geldeswertes" (S. 79)

Folgen: Auflösung von Lebensgemeinschaften führt zu neuer Sachlichkeit, aber dadurch wird Subjekt von einengenden Bindungen befreit Unpersönlichkeit und "Farblosigkeit" des Geldes leistet Dienste : es verbindet Individuen und Gruppen, die ansonsten vollständig getrennt voneinander sind Ursache für diese von Geld hergestellten "Verschlingungen„: Arbeitsteilung Geld ermöglicht Teilung der Produktion, bindet so Menschen aneinander, jeder arbeitet für den anderen. Indem Geld ein in der Naturalwirtschaft unbekanntes gemeinsames Interessen-Niveau hergestellt hat, hat es zugleich zur Ausweitung von Gleichheit und zwar insbesondere von der Vorstellung des „Allgemein-Menschlichen“ geführt