Probleme der italienischen Etymologie

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Anzahl der ausgefüllten und eingesandten Fragebögen: 211
Advertisements

Elternfragebogen 2009 Die Auswertung ist da mit super Ergebnissen!
Vorlesung: 1 Betriebliche Informationssysteme 2003 Prof. Dr. G. Hellberg Studiengang Informatik FHDW Vorlesung: Betriebliche Informationssysteme Teil3.
Die Projektgruppe heißt Sie herzlichst willkommen
LS 2 / Informatik Datenstrukturen, Algorithmen und Programmierung 2 (DAP2)
Telefonnummer.
Modelle und Methoden der Linearen und Nichtlinearen Optimierung (Ausgewählte Methoden und Fallstudien) U N I V E R S I T Ä T H A M B U R G November 2011.
Französische Lexikologie und Lexikographie
Probleme der italienischen Etymologie (1)
Einführung in die romanische Sprachwissenschaft IX
1 JIM-Studie 2010 Jugend, Information, (Multi-)Media Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) Landeszentrale für Medien und Kommunikation.
= = = = 47 = 47 = 48 = =
Statistiken und Tabellen
Quantitative RT-PCR an nativen Prostatakarzinom-Biopsien: Etablierung der Technik und erste vergleichende Ergebnisse Medizinische Fakultät Universitätsklinikum.
EF: Standards + H2O red = H2O.
Rechneraufbau & Rechnerstrukturen, Folie 2.1 © W. Oberschelp, G. Vossen W. Oberschelp G. Vossen Kapitel 2.
Vorlesung: 1 Betriebliche Informationssysteme 2003 Prof. Dr. G. Hellberg Studiengang Informatik FHDW Vorlesung: Betriebliche Informationssysteme Teil2.
Differentielles Paar UIN rds gm UIN
Maxwell-Boltzmann Ausgewählte Themen des analogen Schaltungsentwurfs
Prof. Dr. Bernhard Wasmayr
Studienverlauf im Ausländerstudium
Datenstrukturen, Algorithmen und Programmierung 2 (DAP2)
Prof. Dr. Bernhard Wasmayr VWL 2. Semester
AWA 2007 Natur und Umwelt Natürlich Leben
Rechneraufbau & Rechnerstrukturen, Folie 12.1 © W. Oberschelp, G. Vossen W. Oberschelp G. Vossen Kapitel 12.
Prof. Dr. Günter Gerhardinger Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien Übersicht über die Lehrveranstaltung Grundlegende Bestimmungsfaktoren der Praxis.
20:00.
Im Zuge unserer Befragung gaben uns 260 Personen über ihr Leseverhalten Auskunft.
Zusatzfolien zu B-Bäumen
WIRTSCHAFTSLAGE NOCH SCHWIERIG
In der Schule.
Eine Einführung in die CD-ROM
GBI Genios Wiso wiso bietet Ihnen das umfassendste Angebot deutsch- und englischsprachiger Literatur für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Wir.
Dokumentation der Umfrage
für Weihnachten oder als Tischdekoration für das ganze Jahr
Where Europe does business Lück, JDZB | Seite © GfW NRW 252 a.
Kinder- und Jugenddorf Klinge Qualitätsentwicklung Januar 2005 Auswertung der Fragebögen für die Fachkräfte in den Jugendämtern.
Wir üben die Malsätzchen
Syntaxanalyse Bottom-Up und LR(0)
Addieren und Subtrahieren von Dezimalzahlen
Der Ablauf eines Clear Rex Klärzyklus
PROCAM Score Alter (Jahre)
Ertragsteuern, 5. Auflage Christiana Djanani, Gernot Brähler, Christian Lösel, Andreas Krenzin © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012.
Geometrische Aufgaben
Das ist die Geschichte eines kleinen Jungen aus der Schweiz.
Symmetrische Blockchiffren DES – der Data Encryption Standard
Retuschen.ppt Die folgende Schau zeigt die Möglichkeiten, mit PhotoDraw Digitalbilder zu retuschieren. Vergleichen Sie jeweils zwei Bildpaare durch fleissiges.
Szenisches Lernen Wie Theaterelemente den Unterricht bereichern
Zahlentheorie und Zahlenspiele Hartmut Menzer, Ingo Althöfer ISBN: © 2014 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Abbildungsübersicht / List.
MINDREADER Ein magisch - interaktives Erlebnis mit ENZO PAOLO
Bevölkerungsentwicklung und –struktur der Stadt Bozen
1 (C)2006, Hermann Knoll, HTW Chur, FHO Quadratische Reste Definitionen: Quadratischer Rest Quadratwurzel Anwendungen.
Parkplatz-Orga Diese Version ist vom finale Version!
Schutzvermerk nach DIN 34 beachten 20/05/14 Seite 1 Grundlagen XSoft Lösung :Logische Grundschaltung IEC-Grundlagen und logische Verknüpfungen.
Kamin- und Kachelöfen in Oberösterreich
Zusammengestellt von OE3DSB
Folie Beispiel für eine Einzelauswertung der Gemeindedaten (fiktive Daten)
PERUANISCHER BERGBAU 2006.
1 Arbeitsgemeinschaft Biologische Psychiatrie Verordnungsgewohnheiten von Psychopharmaka Statuserhebung 2005 W.Günther G.Laux T.Messer N.Müller M.Schmauss.
Unternehmensbewertung Thomas Hering ISBN: © 2014 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Abbildungsübersicht / List of Figures Tabellenübersicht.
Forschungsprojekt Statistik 2013 „Jugend zählt“ – Folie 1 Statistik 2013 „Jugend zählt“: Daten zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
3. Fachtagung im Projekt Pflegebegleiter am 24. November in Bad Honnef Projekt Pflegebegleiter 3. Fachtagung Ein Projekt fasst Fuß KURZVERSION DER PRÄSENTATION.
AGOF facts & figures: Branchenpotenziale im Internet Q2 2014: Parfum & Kosmetik Basis: internet facts / mobile facts 2014-I.
Es war einmal ein Haus
Folie Einzelauswertung der Gemeindedaten
Datum:17. Dezember 2014 Thema:IFRS Update zum Jahresende – die Neuerungen im Überblick Referent:Eberhard Grötzner, EMA ® Anlass:12. Arbeitskreis Internationale.
1 10 pt 15 pt 20 pt 25 pt 5 pt 10 pt 15 pt 20 pt 25 pt 5 pt 10 pt 15 pt 20 pt 25 pt 5 pt 10 pt 15 pt 20 pt 25 pt 5 pt 10 pt 15 pt 20 pt 25 pt 5 pt Wie.
Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Mikroökonomie und Wettbewerbspolitik Lothar Wildmann ISBN: © 2014 Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Sehen, Hören, Schmecken: wenn uns unsere Sinne täuschen
1 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest KIM-Studie 2014 Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) Landeszentrale für Medien und Kommunikation.
 Präsentation transkript:

Probleme der italienischen Etymologie 1. Sitzung am 12.04.2010

Themenübersicht WISSENSCHAFTSGESCHICHTE 19.04.10 Die vorwissenschaftliche Etymologie (Antike bis 18. Jahrhundert) 26.04.10 Die Etablierung der Etymologie als wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert 03.05.10 Die italienische Etymologie des 20. Jahrhunderts 10.05.10 Die italienische Etymologie des 20. und 21. Jahrhunderts 17.05.10 Etymologische Großprojekte – Max Pfisters Lessico etimologico italiano

Themenübersicht FALLSTUDIEN 31.05.10 Die Entstehung lexikalischer Einheiten: die Wortbildung und semantische Begriffsschöpfung 07.06.10 Die Entstehung lexikalischer Einheiten: die Entlehnung 14.06.10 Vorrömischer Substrateinfluss im Italienischen sowie in den italienischen Dialekten 21.06.10 Das Problem der Dubletten: lateinischer Erb- und Lehnwortschatz

Themenübersicht FALLSTUDIEN LEISTUNGSKONTROLLE (je nach Studiengang) 28.06.10 Germanischer Superstrateinfluss im Italienischen 05.07.10 Der Einfluss von Kulturadstraten im Italienischen LEISTUNGSKONTROLLE (je nach Studiengang) 12.07.10 Allgemeine Wiederholung 19.07.10 Abschlussklausur

Themenübersicht HEUTIGE SITZUNG 12.04.10 Allgemeine Einführung – Faktoren des etymologischen Arbeitens Der Etymologiebegriff Aufgabe der Etymologie Voraussetzungen des etymologischen Arbeitens

Der Etymologiebegriff Die Etymologie (gr. ἔτυμος étymos ‚wahrhaftig‘, ‚wirklich‘, ‚echt‘ und -logie) wird als Wissenschaftszweig der historischen Linguistik zugeordnet.

Allgemeine Einleitung Die Methodik etymologischer Forschung anhand gesamtromanischer BEispiele

Aufgaben und Voraussetzungen Der Wortschatz einer Sprache setzt sich aus drei Teilen zusammen Erbwörter Innersprachliche Derivate (Ableitungen und Zusammensetzungen) Lehnwörter

Aufgabe der Etymologie… Bestimmung der drei Elemente einer gegebenen Sprache Vergleich der Erbwörter mit den Wörtern verwandter Sprachen und Dialekte Zurückverfolgung der formalen und inhaltlichen Entwicklung bis in die Ausgangssprache

Aufgabe der Etymologie… Identifizierung von Ableitungen hinsichtlich ihrer Bestandteile Ihres Wortstammes und der Formantien (Suffixe, Präfixe)

Aufgabe der Etymologie… Erkennung und Beurteilung von Lehnwörtern nach phonetischen und chronologischen Gesichtspunkten

Aufgabe der Etymologie… Für die Beurteilung soziokultureller Hintergründe, welche die Entlehnung ermöglichten, ist es das Alter von Lehnwörtern zu bestimmen. Hinweise ergeben die Erstbelege oder auch phonetische Merkmale des Lehnwortes

Die Etymologie: Kunst oder Wissenschaft? Leo Spitzer [1925]: „Finde Etymologien, suche sie nicht! […]. Und wie das Kunstwerk, so trägt jede etymologische Arbeit ihre Eigengesetzlichkeit in sich – es gibt kein Schema, das sich in allen Fällen treffsicher anwenden läßt. Aus dem Grundsatz ‚jedes Wort hat seine eigene Geschichte‘ folgt der andere: ‚jede wortgeschichtliche Untersuchung ist auf eigene Art zu führen‘. Die etymologische Untersuchung muß sich elastisch ihrem Gegenstand anpassen. Jeder Rigorismus ist vin Übel.“

Bedingungen etymologischer Forschung 1. Umfangreiche Materialsammlung, die im Idealfall alle erreichbaren Belege umfasst. Alle historisch fassbaren Dokumente der Schriftsprachen und der Dialekte Nur auf einer breiten Materialbasis ist in Zeit und Raum die Vitalität eines Wortes feststellbar

Bedingungen etymologischer Forschung 2. Genaue Kenntnis der lautlichen Entwicklungen in den Schriftsprachen wie auch in den Dialekten, die ermöglicht, Wortstamm und Wortbildungselemente zu erkennen und zu interpretieren und Erbwörter von Lehnwörtern zu trennen

Bedingungen etymologischer Forschung 3. Sachkenntnisse und Vorstellungskraft, die erlauben, von der Wortdefinition aus die Verbindung mit der außersprachlichen Realität herzustellen. Dabei sind vor allem bei Bezeichnungen von Geräten, Techniken, Tieren und Pflanzen Fachkenntnisse erforderlich, auch um eventuell vorkommende Metaphern oder Übertragungen interpretieren zu können.

Bedingungen etymologischer Forschung 4. Verschiedendlich hilft erst eine vertiefte Kenntnis der untersuchten Sprache oder des betroffenen Dialekts, ein Lexem in seinen soziokulturellen Kontext einzuordnen und soziolinguistische Komponenten oder konnotative Elemente zu erfassen.

Bedingungen etymologischer Forschung 5. Ohne Findigkeit und Phantasie können keine Etymologien entdeckt werden. Viele etymologische Wörterbücher sind individuelle Einzelleistungen Max Leopold Wager hatte große Bedenken gegenüber Teamarbeit

Wichtige Tätigkeiten etymologischer Forschung Datierung und Feststellen der Erstbelege Überprüfen der Erstbelege in ihrem Kontext und Eruierung ihrer Bedeutung Sprachgeographische Interpretation dialektaler Formen

Faktoren wissenschaftlicher Etymologie Lautliche, morphologische und morphosyntaktische Gegebenheiten Lautliche Entwicklung Diez [1853]: „Im gegensatze zur unkritischen methode unterwirft sich die kritische schlechthin den von der lautlehre aufgefundenen principien und regeln, ohne einen fußbreit davon abzugehen, sofern nicht klare thatsächliche ausnahmen dazu nöthigen…“

Die Rekonstruktion der romanischen Ursprache Meyer-Lübke: Die lateinische Sprache [1888] Hugo Schuchardt, Vokalismus des Vulgärlateins [1866-1868] Seit dem 1. Jh. n. Chr. Indizien für einen Wandel des lat. Vokalismus in Inschriften, z.B. ĭ statt ē: rĭgna statt rēgna mĭnsis statt mēnsis prĭndere statt prēndere

Erscheinungsformen und Phasen des Lateinischen

Die Rekonstruktion der romanischen Ursprache Übergang vom Quantitätensystem zum Qualitätensystem Der roman. Vokalismus geht auf offene und geschlossene Vokale des Vulgärlateinischen zurück: vlat. [e] (< klat. ĭ, ē, oe) wird in freier und betonter Stellung zu afrz. [éj] (> nfrz. wa): klat. tēla > vlat. *tela > afrz. teile > nfrz. Toile vlat. [] (< klat. ĕ, ae) wird in freier und betonter Stellung zu afrz./nfrz. [jé]: klat. pĕdĕ(m) > afrz. piet > nfrz. pied

Der vlat. Vokalismus (das sog. italische Vokalsystem)

Konsonantismus: die intervok. Plosiva Lat. intervokalisches [-p-] entwickelt sich zu: > frz. [-v-] săpĕre > savoir rĕcĭpĕre > recevoir > sp. [--] săpĕre > saber rĕcĭpĕre > recibir > it. [-p-], [-v-] săpĕre > sapere rĕcĭpere > ricevere

Erb- oder Lehnwort? Lat. apis (Akk. apem) Lat. Diminutiv apĭcŭla(m), *apicla > *apecla Frz. abeille Okz. abelha Sp. abeja Pg. abelha It. ape, pecchia

Faktoren wissenschaftlicher Etymologie Lautliche Entwicklung Der Konflikt zwischen den Anhängern und Gegnern der Lautgesetze hat der etymologischen Forschung hinsichtlich ihrer Weiterentwicklung zunächst geschadet

Faktoren wissenschaftlicher Etymologie Lat. apicula(m) führt nicht automatisch zu frz. abeille, d.h. die Abweichung muss erklärt und begründet werden. Vgl. sp. abeja, pg. abelha, kat. abella (vgl. it./tosk. pecchia) Lat. apis / Akk. apem > afrz. ef. Weitere mfr. Formen waren avette und mouche à miel

Faktoren wissenschaftlicher Etymologie Etymologie und lautliche Entwickung am Beispel von frz. abeille Nfrz. abeille (vgl. lat. apicula „Bienchen“) kann mittels lautlicher Kriterien als okzitanisches Lehnwort identifiziert werden (< abelha) Cf. mfrz. aveille intervokal. [p] wird im Norden der Galloromania nicht nur bis zur Stufe [b] sonorisiert (wie im Okzitanischen), sondern (gesetzmäßig) bis zur Spirantisierungsstufe [v].

Afrz. Formen für „Biene“

Die Etymologie von abeille in frz. Wb. DDM = A. Dauzat, J. Dubois, H. Mitterand, Nouveau dictionnaire étymologique et historique, Paris 1964. Picoche = J. Picoche, Nouveau dictionnaire étymologique du français, Paris 1971. BlWbg = O. Bloch, W. von Wartburg, Nouveau dictionnaire étymologique de la langue française, Paris 51968 (11932).

APIS und APICULA

Interpretation Zunächst „lautgesetzliche Entwickung“ in Nordfrankreich: Lat. Akk. apem > ef, é; Pl. apes > és (phonetisch schwaches Wort), bisweilen auch wés Vgl. lat. aucellus „Vogel“ > ézé (Pl. ézés) (lautliche Ähnlichkeit mit és „Bienen“) Ungenauigkeit insbes. in syntaktischen Konstruktionen wie le vol des és vs. le vol d‘ezés

Interpretation wés „Wespe“ (< lat. vespa) vs. és/wés „Bienen“ (Homophonie) In einigen Gegenden Nordfrankreichs wurde és unter dem Einfluss von wep (< lat. vespa) zu ep, insbes. in der Gegend um Paris; guêpe (< lat. vespa x fränk. wespa) Verstärkung oder Ersetzung von é, és, éf, ép etc. durch mouche („Fliege“) oder mouchette („kleine Fliege“) mouche à miel

Zur Etymologie der frz. Bezeichnungen für „Biene“

Zur Etymologie der frz. Bezeichnungen für „Biene“ avette < vlat. *apitta (?) essaim < lat. examen essette < Abl. von es (-ette) mouche < lat. mŭsca mouchette < Abl. von mouche

Die lautliche und semantische Entwicklung von lat. ĕxāmĕn ĕxāmĕn, -ĭnĭs (n) (< indoeur. *eks-ag-smen „das Heraustreiben“) → examinare „die Waage ins Gleichgewicht bringen“ → examinatio „Prüfung“ → examinator „Prüfer“ Schwarm (z.B. ĕxāmĕn apium „Bienenschwarm“) „Schar“, „Haufen“, „Menge“ das Zünglein an der Waage (eigentlich: „das Heraustreiben aus der Ruhelage“) Metonymie: „Prüfung“ Mlat. „Urteil“, „Gottesurteil“

Erbwort: mündliches Kontinuum    ĕxāmĕn sciame [ame] essaim [es̃] enjambre [eambre]

Die lautliche und semantische Entwicklung von lat. ĕxāmĕn Lat. ĕxāmĕn „Bienenschwarm“ > frz. essaim [es̃] (essaim d‘abeilles „Bienenschwarm“) → essaimer „(aus)schwärmen“, „sich zerstreuen“, „Niederlassungen gründen“ > it. sciame [ame] „Bienenschwarm“ → sciamare „(aus)schwärmen“ > sp. enjambre [eambre] „Bienenschwarm“, (fig.) „große Menge“ → enjambrar „schwärmen“, „schwärmende Bienen einfangen“ > kat. eixam „Bienenschwarm“ > okz. eisa „Bienenschwarm“ > pg. enxame „Bienenschwarm“

Buchwort: Entlehnung aus schriftlich überlieferten Texten  esame examen examen [] [] EXAMEN examen [eze]

Dubletten

Die Darstellung im REW (31935)

Die Erstdatierung von Erb- und Lehnwörtern frz. essaim [1160] vs. frz. examen [1307] sp. enjambre [1335] vs. sp. examen [1438] it. sciame [frühes 14. Jh.] vs. it. esame [1. isolierter Beleg 1306; allgem. gebräuchlich seit dem 18. Jh.]

Beobachtungen auf lautlichem Gebiet Lat. ĕxāmĕn > it. sciame: 1. Aphärese/Prokope von vortonigem e- 2. Palatalisierung des Nexus [ks] zu [] 3. Apokope von auslautendem -n

Beobachtungen auf lautlichem Gebiet Lat. ĕxāmĕn > sp. enjambre: 1. Epenthese von -n- 2. Palatalisierung des Nexus [ks] zu [] im Altspanischen (enxamre [eamre]) und Velarisierung zu [] im Neuspanischen 3. Epenthese von -b- zwischen -mr- 3. Apokope von auslautendem -n

Beobachtungen auf lautlichem Gebiet Lat. ĕxāmĕn > frz. essaim: 1. Assibilierung des Nexus [ks] zu [s] 2. Palatalisierung von [ā] in offener Silbe zu [] 3. Nasalierung zu [] durch auslautendes [m] 4. Apokope von -en

Allgemeine Gesetzmäßigkeit? lat. ĕxa- lat. exalbare „weiß machen“ > it. scialbare vlat. *exaquare „ausspülen“ (parasynthetische Bildung von aqua) > it. sciacquare > sp. enjuaguar (über asp. enxaguar)

Literaturhinweise H.-M. Gauger / W. Oesterreicher / R. Windisch: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft. Darmstadt 1981, S. 99-133. M. Pfister: Einführung in die romanische Etymologie. Darmstadt 1980, S. 26-47; 135-137.

Faktoren etymologischen Arbeitens – gesamtromanischer Kontext

Faktoren etymologischen Arbeitens Morphosyntaktische Faktoren „In Einzelfällen sind nicht nur phonetische und morphologische Gegebenheiten zu beachten, sondern auch morphosyntaktische Faktoren, die in einen chronologischen Rahmen passen müssen“ (Pfister, Einf. i. d. rom. Etymol., 1980, 47)

Morphosyntaktische Faktoren Beispiel Frz. fesse-mathieu „Wucherer“, „Geizhals“ Das Wort wurde im 16. Jh. als Verbalkompositum aufgefasst; vgl. fesser „den Hintern versohlen“; Belegt bei Noël du Fail (ca. 1520-1591): „A Rennes on l‘eust appellé fesse-mathieu comme il dirait batteur de saint Mathieu, qu‘on croit avoir esté changeur“ FEW 6/I, 518: „daher kann der Ausdruck … nur bedeuten ‚hau den juden‘, womit einmal mehr der haß der christen früherer zeiten gegenüber wuchernden jüdischen geldverleihern zum durchbruch kommt“ [H.E. Keller]

Morphosyntaktische Faktoren Motivation der etymologischen Erklärung Matthäus war Zöllner Der Name wurde einem jüdischen Geldverleiher als Spitzname gegeben Existenz analoger Bildungen fesse-maille „geizig“ fesse-pinte „Trunkenbold“ fesse-cahier „Kopist“

Morphosyntaktische Faktoren Lindfors-Nordin (Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 36) hingegen interpretiert fesse-mathieu als Substantiv-Komposition: fesse-mathieu = Gürtel des Matthäus, da er auf künstlerischen Darstellungen häufig mit einem vergoldeten Gürtel erscheint („Matthäus-Gürtel“).

Morphosyntaktische Faktoren Diese These wird von Ernst Gamillscheg in seinem Etymologischen Wörterbuch der französischen Sprache (21969) übernommen: „fesse steht für afrz. faisce (s. faisse) und bedeutet noch im 16. Jh. ‚Gürtel‘; ‚Schärpe‘, am Gürtel wird im späten Mittelalter der Geldbeutel getragen; faisse Mathieu bedeutet also ‚Gürtel (mit dem Geldbeutel) des hl. Mathaeus‘. Der Ausdruck wird zum Symbol für St. Mathieu als Wucherer.“

Morphosyntaktische Faktoren Die etymologische Streitfrage kann nur nach morphosyntaktischen Kriterien entschieden werden: fesse-mathieu ist zum 1. Mal 1585 in Rennes belegt Ist im 16. Jh. Eine neugebildete Wortzusammensetzung mittels Juxtaposition in der Funktion eines possessiven Genetivs noch möglich?

Morphosyntaktische Faktoren Ist die Bildungsweise Subst. + Subst. statt Subst. + de + Subst. im 16. Jh. noch vital? Eher unwahrscheinlich. Verbalkompositum

Die ikonographische Darstellung des hl. Matthaeus in der Kunst Geldbeutel

Faktoren etymologischen Arbeitens Semantische Faktoren Die Grundlage der wissenschaftlichen Etymologie wurde durch die historische Lautlehre geschaffen. Erst zum Beginn des 20. Jh. verstärkte Hinwendung zur Semantik: Wilhelm Meyer-Lübke: „Die erneuerte und verschärfte Betrachtung der Wörter bringt es mit sich, daß auch ihrem Inhalt, der Wortbedeutung größere Aufmerksamkeit geschenkt wird.“ (German.-roman. Monatsschrift 1 [1909]).

Semantische Faktoren Alle Versuche, die Gesetzmäßigkeiten des Bedeutungswandels aufzuzeigen, scheiterten. Dennoch gibt es gewisse Tendenzen… z.B. Oberbegriff wird zur Bezeichnung eines Unterbegriffs Afrz. ble „Getreide“ bezeichnete ursprünglich den Oberbegriff“ Je nach Anbaugebiet kann blé für die in einer Gegend hauptsächlich angepflanzte Getreideart verwendet werden (blé = froment „Weizen“ [Palsgrave 1530]; Wall. blé = seigle „Roggen“) etc.

Semantische Faktoren klat. FRUMENTUM „Getreide“  „Weizen“ (= wichtigstes Brotgetreide) = klat. TRITICUM > fr. froment (blé tendre) „Weizen“ > it. frumento „Weizen“ > kat. forment (oder blat) „Weizen“ > asp. hormiento „Weizen“ (nsp. trigo < lat. triticum „Weizen“)

Semantische Faktoren Exkurs Frz. blé (afrz. blet) < fränk. blad (vgl. dt. Blatt) oder kelt. *blato (blawd) „Mehl“ Kat. blat (s.o.)

Die Getreidebezeichnungen im klassischen Latein

Bedeutungsverengung

Die diatopische Differenzierung in der Romania

Die Fortsetzung lateinischer Getreidebezeichnung in den romanischen Literatursprachen: TRITICUM „Weizen“ FRUMENTUM > froment TRITICUM > trigo FRUMENTUM > frumento

Die Fortsetzung lateinischer Getreidebezeichnung in den romanischen Literatursprachen: SECALE „Roggen“ SECALE > seigle *CENTENUM „hundertmalig“ > centeno SECALE > segala/-e Allgem. Glaube: für jedes gesäte Samenkorn gibt es 100 neue.

Die Fortsetzung lateinischer Getreidebezeichnung in den romanischen Literatursprachen: HORDEUM „Gerste“ HORDEUM > orge HORDEUM > orz cibada HORDEUM > orzo HORDEUM > ordi Ursprüngliche Bedeutung „Gewicht“, später Übertragung auf die Gerste. Abl. von cebar „ein Tier füttern“ < lat. *CIBARE, Abl. von CIBUS „Nahrung“.

Bedeutungsverengung lat. BĒSTĬA „Tier“, „Raubtier“ > fr. biche „Hirschkuh“ > it. biscia „Natter“ > sp. bicha „Schlange“ > pg. bicha „Schlange“, „Eidechse“, „Wurm“ It./sp. bestia, frz. bête etc. sind spätere Entlehnungen aus der lat. Schriftsprache.

Bedeutungsverbesserung: CABALLUS CABALLUS vs. EQUUS (> ) Fortsetzung der Wortform Übernahme der Bedeutung von EQUUS* cheval caballo cavallo cavalho *Das Wort EQUUS wurde im 6. Jh. nach Chr. aufgegeben

Wortschwund und Bedeutungswandel Oppositionen (männl. – weibl.) In klassischer Zeit EQUUS – EQUA In nachklass. Zeit CABALLUS – EQUA rum. iapă logud. ebba kat. egua sp. yegua Hat sich nur in Randgebieten der Romania erhalten

Wortschwund und Bedeutungswandel Oppositionen CABALLUS – EQUA (Spanien: caballo - yegua) CABALLUS – CABALLA (Italien: cavallo - cavalla) CABALLUS – IUMENTUM (Frankreich: cheval - jument) IUMENTUM „Lasttier“ → „Stute“

Wortschwund und Bedeutungswandel

Bedeutungsverbesserung DOMUS CASA casa duomo

Sprache und Gesellschaft „Frau“ FEMINA MULIER > afrz. oissour „Ehefrau“ > okz. oisor „Ehefrau“ UXOR 1. Frau im Gegensatz zum männlichen Wesen (VIR, MASCULUS) 2. Tierweibchen (z.B. CANIS FEMINA) Ehefrau im Gegensatz zu VIRGO „Jungfrau“ > it. femmina „Weibchen“ > frz. femme „Frau“ > sp. hembra „Weibchen“ > it. moglie „Ehefrau“ > afrz. moillier „Ehefrau“ > sp. mujer „Frau“ im Gegensatz zu „Mann“ „Ehefrau“

Sprache und Gesellschaft Mit fortschreitender römischer Zivilisation wurde die Doppelbedeutung von „Frau“ und „Tierweibchen“ problematisch. Im südlichen (ländlich geprägten) Italien (d.h. südlich der Linie Rom-Ancona) und in Sardinien ist die Doppelbedeutung bis heute erhalten geblieben. Dies gilt auch für das Veneto. Die meisten Gebiete der Romania haben nur eine der beiden Bedeutungen akzeptiert.

Sprache und Gesellschaft FEMINA „Frau“ „Weibchen“ > frz. femme > altokz. femna > altkat. fembra > it. femmina > sp. hembra > pg. fémea Ergänzung der Lücke durch Diminutivbildung: „Tierweibchen“ frz. femelle, okz. femela, kat. femella durch Ersatzwörter (mit Bedeutungswandel): „Frau“ it. donna, kat. dona (< DOMINA „Herrin“)

Sprache und Gesellschaft

Von der pejorativen Bezeichnung zur Standardbezeichnung: lat. TESTA

Von der pejorativen Bezeichnung zur Standardbezeichnung frz. tête it. testa asp. tiesta Lat. TESTA (TESTUM) sp. tiesto

Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Lateinischen in Gallien und Italien CAPUT TESTA TESTA

Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Italienischen testa capo (poet.) zucca zucca

Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Französischen tête citrouille citrouille

Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Lateinischen CAPUT in Hispanien CAPITIA (< Pl. von CAPITIUM „Kopföffnung einer Kutte“)

Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Spanischen cabeza coco coco

Literaturhinweise Andreas Michel, Italienische Sprachgeschichte. Hamburg 2005, S. 269. Max Pfister, Einführung in die romanische Etymologie. Darmstadt 1980. Gerhard Rohlfs, Romanische Sprachgeographie. München 1971.